Auf was werden wir in 20 Jahren zurückblicken?
08.04.2019 Christian Koch
InhaltEin kurzer Rückblick auf das Web der letzten 20 Jahre
Vor 20 Jahren wurde socialnet gegründet. Nehmen wir dies zunächst zum Anlass, die Entwicklung des Webs in den letzten 20 Jahren zu betrachten, stellen wir erhebliche Veränderungen fest. Anschließend werfen wir einen breiteren Blick auf die "Digitalisierung" der nächsten beiden Jahrzehnte.
Webseiten bestanden im Gründungsjahr von socialnet, im Jahr 1999, im Wesentlichen aus einfachem HTML. Der "große technologische Sprung" bestand in der Verlinkung von Texten, im Hypertext. Immerhin auch Bilder konnten eingebunden und mittels FTP Dateien verbreitet werden. Abgelöst wurden Mailboxsysteme, heute nicht mehr bekannte Dienste wie Gopher und weitgehend das Usenet als Forensystem.
Mittlerweile wurde der Umfang von HTML ganz erheblich erweitert (XHTML bzw. HTML 5) und die Verbindung mit Programmiersprachen auf Seiten des Servers, z.B. PHP, und auf Seiten des Browsers, z.B. JavaScript, ist selbstverständlich. Konnte man früher noch Webseiten "per Hand" oder zumindest mit einem spezialisierten Editor schreiben, entstehen aktuelle Webseiten heute fast nur noch in komplexen Content Management Systemen (CMS), die einen sehr komplexen, für Menschen nur noch mit Mühe nachvollziehbaren Code erzeugen. 1999 hätte eine CMS socialnet noch mehrere 10.000 Euro gekostet, heute gibt es leistungsfähige System, z.B. Typo3, Wordpress oder MODX, kostenlos.
Im Laufe der letzten 20 Jahre sind die Grenzen zwischen Webseite und Programm sowie zwischen Desktop und Server immer mehr verschwommen. Webbasiert werden nahezu beliebige Dienste angeboten, von der Bildbearbeitung bis zur Buchhaltung. Dabei ist es für den Benutzer nicht mehr ersichtlich - und praktisch meist irrelevant - welche Berechnungen in seinem Browser oder auf dem Server vorgenommen werden. Auch wo die Daten gespeichert werden, auf dem Server oder dem lokalen Rechner, verliert - außer beim Datenschutz - immer mehr an Bedeutung. Dabei wandelt sich der Server als lokalisierbarer Rechner zur Cloud als virtueller Speicherdienst, bei dem die statische Zuordnung von Daten zu einem konkreten Rechner nicht mehr gegeben sein muss und der lokale Rechner kann neben dem Desktop oder Laptop nunmehr ein Device beliebiger Größe - oder vielmehr Kleinheit - sein, vom Tablet über das Smartphone bis zur Smartwatch.
Auch durch die Verbreitung von Apps, die sich in der Oberfläche kaum von Webseiten unterscheiden, wird für den Anwender der Unterschied zwischen Webseite und Programm immer unwichtiger. Aktuellster Trend sind Progressive Web Apps, die zwar im Browser laufen sollen, aber auch ohne Internetanbindung wie eine App funktionieren sollen.
Innerhalb von 20 Jahren hat sich das Web von verlinkten Texten zur selbstverständlichen Oberfläche der (Informations-)Welt entwickelt.
Mit dem Wandel von Diskussionsforen und Chat-Protokollen zu Social Media hat sich eine ähnliche Entwicklung für die zwischenmenschliche Kommunikation ergeben, die hier nicht weiter vertieft werden soll.
Was kommt (sicher) auf uns zu?
Es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten, um für die nächsten 20 Jahre einen erheblichen Wandel der zunehmend digital durchdrungenen Welt vorherzusehen. Aber welche Trends werden mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest einen Teil der Entwicklung prägen? Auch dies ist recht zuverlässig absehbar.
Das Internet of Things (IoT) wird massiv an Verbreitung zunehmen, weil
- die Kosten der Komponenten deutlich gefallen sind und noch fallen
- praktisch jeder Fleck auf der Erde Internetzugang hat oder absehbar haben wird
- Steuerung und Wartung erleichtert werden (Komfort für die BenutzerInnen und Kostenvorteile für Unternehmen)
- die unglaublichen Mengen anfallender Daten hohen kommerziellen Wert haben.
IoT wird die Art und Weise, wie wir wohnen (Smart Home) wesentlich beeinflussen, aber auch Leistungsprozesse verändern. Betreutes Wohnen ist in absehbarer Zeit ohne Ambient Assisted Living (AAL), sozusagen dem Smart Home für Menschen mit Pflege- oder Betreuungsbedarf, nicht mehr vorstellbar. Ein Hausnotruf kommt mir schon seit Jahren antiquiert vor: keine Sturzerkennung, keine Ferndiagnose, kein bundesweiter Schutz, sondern nur im Umkreis von wenigen Metern von einem Festnetzanschluss.
Die Schnittstelle zu Computersystemen steht vor einem gravierenden Umbruch. Nach Maus/Touchpad und Touchscreen dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit die nächste Revolution durch die Spracheingabe erfolgen. Warum?
- Die Technologie hat nach 20 Jahren Forschung eine ausreichende Anwendungsreife erreicht.
- Dank schnellem Internet kann die Spracherkennung auf leistungsfähige Server verlagert werden.
- Aber auch lokale Anwendungen zur Spracherkennung und -steuerung erobern immer mehr Anwendungsfelder.
- Spracheingabe erfordert keine freien Hände und keinen unmittelbaren Kontakt zu einem Gerät (Smartspeaker erlauben die Steuerung von einem beliebigen Punkt im Raum).
- Sie geht wesentlich schneller als Eintippen, insbesondere auf kleinen Smartphonetastaturen.
- Sprache ist die natürliche Kommunikationsform zwischen Menschen. Computer werden immer mehr zu Partnern werden, mit denen wir auf die gleiche Weise kommunizieren wollen. Sprache ist emotionaler als tippen.
- Als Eingabegerät sind schon jetzt fast alle Smartphones, Tablets, Smartspeaker und moderne Fernseher geeignet.
- Vor allem aber die Verbindung der Spracherkennung mit Assistenzsystemen wird der neuen Mensch-Maschine-Schnittstelle zum Durchbruch verhelfen.
Wir reden künftig mit dem Smart Home, dem (teil-)autonomen Auto, dem Smartphone, dem Tablet, dem (an Bedeutung verlierenden) klassischen Computer, der Haustür, dem Fernseher, dem Bankautomaten (so lange es ihn noch gibt, denn er fällt dem Smart Banking durch Fin Techs zum Opfer).
Vielleicht baut man in zehn Jahren standardmäßig Mikrofone und Kameras in ein neues Haus ein und lässt dafür die Schalter gleich weg?
Absehbar ist der Bedeutungsgewinn des Smartphones, auch wenn sich hier schon konkurrierende Devices in Position bringen. Nachdem Smartphones schon (Festnetz-)Telefone, Navis und Musikplayer überflüssig gemacht haben, lösen sie langsam aber sicher über Browser und Apps auch Computer und Tablets ab. E-Mail ist nur noch ein Kanal neben verschiedenen Messengern und der (antiquierten) SMS. Die nächste Ablösung droht Bargeld und (physischer) Kreditkarte. Selbst die Sim-Karte als "Herzstück" des Mobiltelefons wird künftig virtualisiert. In elektronischen Börsen (Wallets) stecken künftig nicht nur (digitale) Währungen, sondern auch zunehmend Ausweise. Über NFC als Nahbereichsfunkprotokoll (oder über Positionsbestimmung mittels hochauflösendem Galileo Satellitennetz) werden künftig zunehmend Türen aufgeschlossen, aber nur, sofern nicht biometrische System (Stimme, Gesicht, Fingerabdruck, Venenmuster) zum Zuge kommen.
Da Smartphones lästig sind, sind andere "tragbare Computer" auf dem Vormarsch: z.B. Smart Watch, Smart Glasses, Implantate, in die Kleidung integrierte Geräte (wearables).
Wenn wir den Trend der Virtualisierung fortdenken und die bisherigen Bausteine (IoT/Smarthome, Spracheingabe und omnipotentes Smartphone) verbinden, stellen Sprachassistenten DIE Verbindungsklammer dieser Entwicklungen dar.
Noch fallen die zahlreichen Anwendungen (Siri, Alexa, Hello Google, Cortana, ...) durch Erkennungsprobleme, sehr eingeschränkte Kompetenzfelder und skurile Fehler (in der Art "Papagei bestellt bei Amazon") auf. Aber so haben Navigationssysteme auch angefangen. Und wer kauft sich zehn bis zwanzig Jahre später noch einen Autoatlas?
Sprachassistenten in Verbindung mit künstlicher Intelligenz (KI, engl. AI) bieten das Potential, sich zum individuellen virtuellen Begleiter für einen wesentlichen Teil der Menschheit zu entwickeln. Wir verzichten hier auf den philosophischen Diskurs, ob die als KI bezeichnete heuristische Mustererkennung "nur" praktische Relevanz oder auch eine absehbare Ebenbürtigkeit zur menschlichen Intelligenz hat. Schon jetzt ist sicher, dass die virtuellen Assistenten auf enorme Datenbestände zurückgreifen können. Neben Datenbanken, Karten etc. sind dies auch persönliche Daten, die insbesondere ein Smartphone in unglaublicher Fülle liefert: alle bisherigen Spracheingaben, Suchmaschinenabfragen, ausgewählte Treffer, Adressbuch, Kommunikation per Text und Sprache, Auswahl von Tinderprofilen, abonnierte Twitterkanäle, medizinische Daten von der Smartwatch ... Ihr persönlicher Assistent kennt sie nach kurzer Zeit besser als sie selber.
Der Vorteil der Sprachassistenten ist, dass sie in der Cloud laufen. Selbst wenn ihnen das Smartphone ins Klo fällt (oder sie es dort wütend ertränken), ist der Assistent über das Smarthome und den Smartspeaker sofort wieder bei Ihnen und empfiehlt Ihnen den Kauf eines aktuellen Nachfolgemodells für Ihr versenktes Smartphone. Ein Wort von Ihnen und die Bestellung ist bestätigt. Während Sie noch zögern, wird das Modell schon per Drohne zu Ihnen unterwegs sein, weil die Wahrscheinlichkeit einer Bestellung von Ihrem Assistenten mit 97% eingeschätzt wurde.
Spracheingabe ist praktisch und macht zugleich auch wieder ein wenig abhängiger. Noch machen wir uns die Mühe, bei einer Suche über eine Suchmaschine die ersten Treffer zu bewerten. Als Faustregel gilt, das man unter die ersten drei Treffer gelangen muss, um eine Chance zu haben, ausgewählt zu werden. Bei Sprachkommunikation erwarten wir jedoch direkt eine Antwort auf eine Frage und keine Auswahlliste möglicher Treffer, deren Relevanz und Seriosität wir beurteilen. Die Beurteilung und Auswahl wird von der NutzerIn auf den Computer übergehen.
Mit Smart Glasses wird als weiterer zumindest sehr wahrscheinlicher Trend Augmented Reality an Bedeutung gewinnen und ggf. unsere Wahrnehmung der Welt weitgehend verändern. Unsere Welt ist stark von visueller Kommunikation geprägt. Durch Augmented Reality lässt sich diese Welt mit Informationen - und selbstverständlich auch Werbung - perfekt anreichern: individuell, ortsabhängig und eingebettet in die reale Wahrnehmung. Erste Anwendungen zeigen Zusatzinformationen für touristische Sehenswürdigkeiten, Fahrpläne für U-Bahn-Stationen oder Fantasiewesen zum Fangen als neue Form des Online-Spiels.
Bei entsprechender technischer Weiterentwicklung werden sich dann virtuelle Elemente nahtlos in unsere reale Welt einfügen und von uns so selbstverständlich akzeptiert werden, wie heute Bargeld oder Lichtschalter an der Wand.
Welche Bedeutung die dargestellten Entwicklungen für das Sozial- und Gesundheitswesen haben, werden wir in einem der nächsten Editorials hinterfragen.
In eigener Sache: 20 Jahre socialnet
Anfang April 1999 wurde socialnet gegründet. Seit 20 Jahren arbeiten wir schon als vollständig virtuelle Organisation. Dabei haben wir rund dreitausend Personen zusammengebracht, um eine Portalfamilie mit einem großen Fundus an sozialen Fachinformationen aufzubauen. Wir legen großen Wert auf Zuverlässigkeit und Beständigkeit: Die erste Rezension aus dem Jahr 2000 ist immer noch unter der gleichen URL erreichbar! Andererseits sind wir offen für neue Ideen und Menschen, die bei uns mitmachen möchten.
Aus Anlass des Jubiläums haben wir eine Website erstellt, auf der wir uns bei Ihnen für die treue Begleitung über viele Jahre bedanken, aber auch Ihnen die Möglichkeit geben, uns ein Testimonial zukommen zu lassen. In den nächsten Monaten werden wir dort zudem die Geschichte von socialnet in einem Zeitstrahl darstellen.
Werfen Sie einen Blick auf https://20-jahre-socialnet.de!