Künstliche Intelligenz in der Sozialwirtschaft – Ein Jahr später
04.12.2024 Dr. Nicolaus Wilder
InhaltVor ziemlich genau einem Jahr haben wir in einem Editorial die transformative Kraft von Künstlicher Intelligenz (KI) und ihre weitreichenden Auswirkungen auf verschiedene Branchen, einschließlich des Sozial- und Gesundheitswesens, beleuchtet. Andrew Ng verglich die gesellschaftsverändernde Kraft von KI mit derjenigen der Elektrizität, und seine Vision ist heute Realität geworden. Trotz einzelner vermeintlicher Abgesänge auf KI als nächste große Blase zeigt ein Blick auf die Adaptionsrate – also die Geschwindigkeit und das Ausmaß, mit dem eine neue Technologie oder Innovation von einer Zielgruppe übernommen wird –, dass KI so schnell wie keine andere revolutionäre Technologie eingesetzt wird.
Rasante Adaption von KI
Während sowohl Computer als auch das Internet innerhalb von zwei bis drei Jahren auf eine Adaptionsrate von etwa 20% gekommen sind, liegt diese bei KI nach zwei Jahren bereits bei 40 %. Um auf diese Rate zu kommen, brauchte es für das Internet knapp fünf Jahre, für Computer sogar zwölf. Dieser rasante Fortschritt und damit die schnelle Implementation dieser Technologie betrifft auch die Sozialwirtschaft, wie zahlreiche Beispiele zeigen. Zwei mögliche Einsatzfelder, die über den Einsatz von ChatGPT zur Textproduktion hinausgehen, sollen im Folgenden anhand exemplarischer Projekte skizziert werden.
Kommunikationsbarrieren überwinden
Das Projekt HYKIST entwickelt ein KI-gestütztes Sprachassistenzsystem für die Notfallmedizin, um Kommunikationsbarrieren zwischen medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten mit geringen Deutschkenntnissen zu überwinden. Durch den Einsatz von Technologien wie automatischer Spracherkennung und maschineller Übersetzung unterstützt HYKIST Dolmetscherinnen und Dolmetscher dabei, komplexe medizinische Sachverhalte präzise zu vermitteln. Dies verbessert die Versorgungsqualität und reduziert das Risiko von Behandlungsfehlern.
Sprachbarrieren sind auch ein Hinderungsgrund bei der Inanspruchnahme von Plätzen in der Kindertagesbetreuung sowie eine Herausforderung bei der Elternarbeit. Um dem entgegenzuwirken, lassen sich z.B. KI-Systeme einsetzen, die Videos lippensynchron übersetzen, um so in verschiedenen Sprachen u.a. über die Eingewöhnung zu informieren.
Ein weiteres innovatives Beispiel ist das Projekt SpeechTrans4Kita, bei dem eine KI-gestützte App entwickelt wird, die simultane Übersetzung pädagogischer Gespräche zwischen Fachkräften und Eltern ermöglicht und so die Kommunikation sowie die Zusammenarbeit in der Kindertagesbetreuung stärkt.
Auch die bei jeglicher Antragsstellung vorausgesetzte Kenntnis in der Schriftsprache lässt sich durch KI überwinden, indem sich Anträge mithilfe eines Sprachassistenten per Spracheingabe ausfüllen lassen, wie es im Rahmen des Projekts Kinderleicht zum Kindergeld umgesetzt wurde.
Und die automatisierte Übersetzung von Schrift und Sprache in Gebärden eröffnet Gehörlosen neue Möglichkeiten der digitalen Teilhabe.
Förderbedarfe erkennen
Das zweite exemplarische Einsatzfeld zeigt, wie Künstliche Intelligenz dabei unterstützt, individuelle Entwicklungs- und Förderbedarfe frühzeitig und präzise zu erkennen. Gerade in der Diagnostik bietet KI das Potenzial, Fachkräfte zu entlasten und durch datenbasierte Analysen gezielte und individualisierte Maßnahmen u.a. für Kinder und Jugendliche bereitzustellen.
Beispiele hierfür sind die Apps eKidz.eu oder alphaben, die Kinder beim Lesenlernen unterstützen. Mithilfe von KI-gestützten Lesediagnosen erfassen sie den individuellen Lernstand, um personalisierte Fördermöglichkeiten anzubieten.
Das Projekt Sprechen für die Zukunft setzt noch früher an: Hier wird eine spezialisierte KI-basierte Analysetechnologie entwickelt, die durch automatische Spracherkennung mögliche Sprachentwicklungsprobleme bei Vorschulkindern identifizieren kann. Das ermöglicht, frühzeitig bedarfsgerechte Unterstützungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Diese Ansätze verdeutlichen, wie KI dabei helfen kann, Entwicklungsbedarfe rechtzeitig zu erkennen und gezielt anzugehen.
Den Blick weiten
Die Integration von Künstlicher Intelligenz in das Sozial- und Gesundheitswesen zeigt bereits heute beeindruckende Ergebnisse, insbesondere in der Überwindung von Kommunikationsbarrieren und der frühzeitigen Erkennung von Förderbedarfen. Aber daneben gibt es noch eine Vielzahl weiterer Einsatzfelder, die hier nur schemenhaft angedeutet werden können:
- KI-gestützte Sprachdokumentationssysteme steigern die Effizienz in der Verwaltung und Dokumentation erheblich.
- Der Einsatz KI-basierter sozialer Roboter wird bereits insb. in der Altenpflege erfolgsversprechend erprobt.
- Chatbots werden im Kontext von Sozial- und Fachberatungen immer bedeutsamer werden.
Durch die kontinuierliche und rasante Weiterentwicklung solcher Technologien wird KI eine zentrale Rolle dabei spielen, soziale Dienstleistungen effektiver, zugänglicher und individueller zu gestalten. Bei aller technischer Möglichkeit dürfen dabei jedoch ethische Fragen nicht aus dem Blick geraten, denn am Ende steht der Mensch im Mittelpunkt der Sozialwirtschaft. Ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen ist hier unerlässlich.
Quellen
Alexander Bick, Adam Blandin, David Deming (2024): The Rapid Adoption of Generative AI
Autor
Dr. Nicolaus Wilder
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Allgemeine Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität Kiel
Mitglied im Kernteam des Virtuellen Kompetenzzentrums Schreiben Lehren und Lernen mit KI (VK:KIWA)