
„Wie wahr sind unsere Wahrheiten (noch)?“ Prämissenkontrolle in Zeiten des Wandels
09.04.2025 Prof. Dr. Michael Mroß
Inhalt"Europa und insbesondere Deutschland stehen in der nahen Zukunft vor enormen Herausforderungen" – So lautete bereits in den vergangenen Jahren ein bekannter Befund, der in Politik und Gesellschaft regelmäßig gähnend und mit schläfrigem Kopfnicken zur Kenntnis genommen wurde. Spätestens seit der desillusionierenden Rede von J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dem Eklat zwischen Trump und Selenskyj, globalen Verwerfungen, technologischen Quantensprüngen und katastrophalen nationalen Wirtschaftszahlen steht fest: Es wird ernst mit dem Wandel!
Als staatsnahe Branche steht die Sozialwirtschaft vor kaum planbaren Herausforderungen. Personalknappheit, volatile Förderlandschaften, steigender Rechtfertigungsdruck gegenüber Geldgebern und eine beispiellose technologische Dynamik verschärfen die Situation.
Strategische Planung wird in einer dynamischen Umwelt zur Überlebensfrage: Wie also können Organisationen langfristig handlungsfähig bleiben, wenn sich die Grundlagen ihres Handelns kontinuierlich verändern?
Eine Antwort liegt in der Fähigkeit, handlungsleitende Prämissen als das zu erkennen, was sie sind: Annahmen! Und eben keine Wahrheiten. Diese gilt es kritisch zu hinterfragen und strategische Entscheidungen entsprechend anzupassen – kurz: Es bedarf systematischer Prämissenkontrolle.
Was sind Prämissen – und warum sind sie entscheidend?
Prämissen bilden die expliziten und/oder impliziten Fundamente jeder Planungsüberlegung. Sie reichen von einfachen Hypothesen ("Die Zahl der Pflegebedürftigen in unserer Region steigt bis 2030 um 15%") über komplexeren Überzeugungen ("Die öffentliche Hand priorisiert weiterhin dezentrale Wohnprojekte für Menschen mit Behinderung") bis zu tief verwurzelten Scheingewissheiten ("KI und Robotik werden menschliche Sozialarbeit niemals ersetzen können"). In der strategischen Planung bleiben diese Annahmen oft unausgesprochen und ungeprüft. Organisationen verharren dann in Routinen, die auf etablierten, möglicherweise überholten Denkmustern basieren.
Wie ein Hausfundament den Bau nur so lange trägt, wie der Untergrund stabil bleibt, bedürfen auch Prämissen als Denk- und Überzeugungsfundamente regelmäßiger Überprüfung.
Prämissenkontrolle: Vom Blindflug zum navigierten Kurs
Prämissenkontrolle bedeutet aktives Management strategischer Annahmen. Dies erfolgt in drei Schritten:
- Prämissen explizit machen
Dokumentieren Sie in jedem Strategieprozess die zugrundeliegenden Annahmen – seien sie politischer, finanzieller, demografischer oder ethischer Natur. - Relevanz bewerten
Priorisieren Sie existenzkritische Prämissen (etwa gesetzliche Rahmenbedingungen) und solche mit hohem Veränderungsrisiko (beispielsweise technologische Entwicklungen). - Monitoring institutionalisieren
Etablieren Sie ein systematisches Controlling kritischer Prämissen durch definierte Indikatoren und Verantwortliche. Nutzen Sie interne Daten sowie externe Frühwarnsysteme wie Politik-Screenings und Stakeholderanalysen.
Zwei häufige Fallstricke gilt es zu vermeiden: Die Scheu vor unbequemen Erkenntnissen ("Was, wenn unser methodischer Ansatz nicht nachweisbar wirkt?") und das Missverständnis von Prämissenkontrolle als einmalige Aktion statt als kontinuierlichem Prozess.
Strategische Planung als lernendes System
Zukunftsfähige Organisationen ersetzen starre Planungen durch adaptive Strategiezyklen. Prämissenkontrolle wird dabei zum integralen Bestandteil jeder Strategieüberprüfung.
Strategische Planung gleicht nicht einer Eisenbahnschiene, sondern einer Autobahn – mit alternativen Spuren, Leitplanken und regelmäßigen Ausfahrtmöglichkeiten.
Konkrete Implementierungsbeispiele:
- Quartalsweise Überprüfung der Top-5-Prämissen im Leitungsgremium mittels Ampelsystem (Grün = stabil, Gelb = beobachtungsbedürftig, Rot = Anpassung erforderlich)
- Integration einer "Prämisse der Sitzung" in jede Aufsichts- bzw. Beiratssitzung, analysiert durch Fachexperten
- Definition operationalisierbarer K.O.-Kriterien bei Projektstart ("Projektabbruch bei Falsifizierung von Annahme X")
Fazit: Von der Reaktion zur proaktiven Gestaltung
Die Sozialwirtschaft kann es sich nicht leisten, externe Veränderungen nur zu erdulden. Prämissenkontrolle ermöglicht frühzeitiges Erkennen von Veränderungssignalen und die Gestaltung adaptiver Strategien. Dies erfordert Transparenz – auch gegenüber unbequemen Wahrheiten – und die Bereitschaft, etablierte Annahmen zu hinterfragen.
Besonders kritisch gilt es, tief verwurzelte Überzeugungen zu prüfen, deren Erschütterung möglicherweise unbewusst vermieden wird: "Ist es wirklich so, dass KI mittelfristig keine wirksame soziale Beratungsdienstleistung erbringen kann?"
Wer Prämissen aktiv hinterfragt und anpasst, gewinnt Gestaltungsspielraum. Dieser Spielraum entscheidet in unübersichtlichen Zeiten über mehr als dem bloßen Überleben. Die Frage lautet daher nicht, ob wir uns Prämissenkontrolle leisten können, sondern ob wir es uns leisten können, darauf zu verzichten.
Autor
Prof. Dr. Michael Mroß (TH Köln)
Professur für Sozialmanagement/ Technische Hochschule Köln