
Würde unter Druck
13.06.2025 Silja Ullrich
Inhalt- Ein wesentlicher Kern sozialer Berufe: Beziehungsarbeit
- Emotional labor: Was kaum jemand sieht – und alle leisten
- Scham und Würde: Die stillen Kräfte im Raum
- Würdesensibel begleiten
- Fachkräftemangel und Ökonomisierung treffen nicht nur Strukturen – sondern mitten ins Mark
- Und jetzt? Was Führungskräfte tun können
- Fazit
Manche Dinge spürt man sofort – besonders, wenn sie fehlen. Würde ist so ein „Ding“. Sie lässt sich nicht messen, nicht verwalten, nicht in Zielvereinbarungen pressen. Aber sie zeigt sich: In einem zugewandten Blick. In einer respektvollen Geste. Würde entscheidet oft darüber, ob Hilfe als Unterstützung oder als Zumutung erlebt wird. Das macht das, was in sozialen Berufen geschieht, oft schwer greifbar. Wir brauchen deshalb Konzepte und Worte, die diese Dynamiken sichtbar machen.
Ein wesentlicher Kern sozialer Berufe: Beziehungsarbeit
In sozialen Berufen ist Beziehung kein Add-on – sie ist das, worum es geht. Menschen begleiten Menschen. Keine KI, keine App, keine Automatisierung kann das ersetzen. Was zählt, ist echter und unmittelbarer Kontakt, Da-Sein: mit Respekt, mit Geduld, mit innerer Klarheit und natürlich der fachlichen Kompetenz.
Gelingende Beziehungsarbeit braucht:
- Emotionale Präsenz, inkl. Zeit und Raum
- Verlässlichkeit
- Nähe und Grenzen
- Co-Regulation und extreme Haltekräfte
- Reflexion
Das sind keine „Soft Skills“. Das ist harte Arbeit – leise, anstrengend, oft unsichtbar. Und dennoch: Sie ist das Herz dieser Professionen.
Emotional labor: Was kaum jemand sieht – und alle leisten
Emotional labor – die bewusste Gefühlsregulation als Fachkraft – ist Voraussetzung und (implizite) Arbeitsanforderung jeder gelingenden professionellen Beziehungsgestaltung. Fachkräfte müssen aktiv die eigenen Gefühle und den eigenen Emotionsausdruck – unabhängig von der eigenen Stimmungslage – regulieren können, um Menschen in Krisen professionell zu begleiten. Diese Arbeit ist kein Nebeneffekt – sie ist unsichtbare Schwerstarbeit im Hintergrund und Kernkompetenz. Sie ist Ausdruck emotionaler Reife. Emotional labor ist ein unsichtbarer Posten und wird deshalb kaum strukturell anerkannt, obwohl sie zentrale Qualität erzeugt! Höchste Zeit, dass sich das ändert.
Scham und Würde: Die stillen Kräfte im Raum
In der Arbeit mit Menschen, die sich in belastenden Lebenslagen befinden, ist das Thema Scham allgegenwärtig. Ob Armut, Krankheit, Abhängigkeit oder soziale Ausgrenzung – all das kann das Selbstwertgefühl der Betroffenen tief erschüttern. Scham ist ein Beziehungsgefühl. Sie entsteht, wenn Menschen sich im Blick des Anderen als ungenügend erleben. Leon Wurmser bezeichnet Scham als „Wächterin der Würde“. Scham ist also ein Würdekompass. Wer mit Menschen arbeitet, sollte diese Sprache lesen lernen.
Würdesensibel begleiten
Würde beginnt dort, wo Menschen sich gesehen fühlen. Hier ist die Fachkraft gefragt, würdesensibel zu agieren, was Bewusstsein und ein hohes Maß an professioneller Achtsamkeit erfordert:
- Menschen nicht bloßstellen, sondern schützen
- Auf respektvolle, würdigende Sprache auf Augenhöhe achten
- Nicht vorschnell urteilen, sondern verstehen
- Einen schützenden Raum öffnen, in dem man sich zeigen darf – ohne Angst
Wer diese Haltung lebt, macht Würde erfahrbar. Und das verändert alles grundlegend.
Fachkräftemangel und Ökonomisierung treffen nicht nur Strukturen – sondern mitten ins Mark
Wenn Personal fehlt, fehlt mehr als Zeit. Es fehlt die Möglichkeit, präsent zu sein. Kontakt wird verkürzt. Die Folge ist oft „moralischer Stress“ – ein Gefühl, das viele kennen: zu wissen, was nötig wäre, es aber unter den gegebenen Bedingungen nicht leisten zu können. Das frustriert langfristig und führt z.B. zu emotionalem Rückzug.
Und jetzt? Was Führungskräfte tun können
Der Weg aus dem emotionalen Rückzug beginnt dort, wo Gefühle Raum bekommen und wo sie nicht als Schwäche gelten, sondern als Ausdruck von Professionalität. Das braucht gezielte Maßnahmen:
- Emotionale Sprachfähigkeit fördern
Supervision, kollegiale Beratung und Reflexionsräume machen Gefühle besprechbar und entlasten. - Scham- und Stolzkompetenz stärken
Schulungen im Umgang mit Schamgefühlen und bewusste Anerkennung gelungener Arbeit helfen, den Selbstwert und den Zusammenhalt zu fördern. - Beziehungsarbeit und emotional labor als explizite Arbeitsanforderung und Aufgabe anerkennen
- Resonierende Führung durch Haltung
Eine Kultur, in der Würde, Offenheit und Anerkennung gelebt werden, beginnt bei den Führungskräften selbst.
Fazit
Würdevolle Arbeit beginnt mit der Anerkennung der emotionalen Leistungen von Fach- und Führungskräften – eine Aufgabe für jede Organisation. Die Ökonomisierung der Sozialwirtschaft darf die emotionale Komplexität der Beziehungsarbeit nicht ignorieren. Es ist Zeit, dass wir Beziehungsarbeit nicht länger als stille Ressource behandeln, sondern als das, was sie ist: die eigentliche Leistung der Arbeit im Sozial- und Gesundheitswesen. Professionelle Beziehungsgestaltung ist gelebte Ethik. Und sie ist systemrelevant.
Literatur
- Hamric, A.B./Davis, W.S./Childress, M.D. (2006): Moral distress in health care professionals. The Pharos of Alpha Omega Alpha-Honor Medical Society 69, (Nr. 1), 16-23
- Hochschild, A. R. (1990). Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt/M.: Campus.
- Marks, St. (2019). Scham – die tabuisierte Emotion. Düsseldorf: Patmos Verlag.
- Wurmser, L. (2017). Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Hohenwarsleben: Westarp-Verlag.
Autorin
Silja Ullrich
Angewandte Wirtschaftspsychologie und Supervision
www.silja-ullrich.de