Konstruktivismus (Human- und Sozialwissenschaften)
Prof. Dr. habil. Björn Kraus
veröffentlicht am 13.02.2018
Der Begriff Konstruktivismus steht in den Human- und Sozialwissenschaften für Ansätze, die die Konstruktqualität menschlicher Wirklichkeiten betonen.
Konstruktivistische Ansätze zählen in den Human- und Sozialwissenschaften spätestens seit den 1990er Jahren zu den etablierten Grundlagen und haben wesentlich zu analytisch-erklärenden und methodisch-handlungsleitenden Neuorientierungen beigetragen.
Je nach disziplinärer Ausrichtung liegt der Fokus stärker auf den individuellen oder den sozialen Konstruktionsbedingungen. Trotz der Differenzen dieser Perspektiven kann als kleinster gemeinsamer Nenner konstruktivistischer Modelle die Annahme gelten, dass die soziale und individuelle Wirklichkeit nicht das Ergebnis von Abbildungsprozessen, sondern von individuell und sozial bedingten Konstruktionsprozessen ist.
Zur allgemeinen Einführung in die Thematik vgl. Konstruktivismus (Philosophie).
Überblick
- 1 Etablierung in den Human- und Sozialwissenschaften
- 2 Relevanz für die Human- und Sozialwissenschaften
- 3 Systemisch-Konstruktivistische Ansätze
- 4 Quellenangaben
1 Etablierung in den Human- und Sozialwissenschaften
Konstruktivistische Ansätze haben vor allem in den 1980er und 1990er Jahren Eingang in die Diskurse der Sozial- und Humanwissenschaften gefunden. So betont beispielsweise Wehrspaun für den Bereich der Soziologie „[…] daß die Soziologie – bei der Strafe völliger kultureller Bedeutungslosigkeit – nicht darum herumkommen wird, ihr (meta-)theoretisches Selbstverständnis ganz erheblich auf konstruktivistische Grundlagen umzustellen“ (Wehrspaun 1994, S. 11). Die Etablierung konstruktivistischer Diskurse kann gleichfalls etwa in den Erziehungswissenschaften, der Biologie, der Kommunikationswissenschaften und der Psychologie festgestellt werden [zur Übersicht vgl. Schmidt 1987, Jensen 1999, Rustemeyer 1999, Westmeyer 1999, Diesbergen 2000, Krieger 2004, S. 245 ff., Pörksen 2011, zur Etablierung in der Philosophie vgl. Konstruktivismus (Philosophie)].
Auch in der Sozialen Arbeit zählen konstruktivistische Modelle inzwischen zu den zentralen Grundlagen (vgl. Ostheimer 2009; Kleve 2011). Gerade hier lässt sich die wechselseitige Einflussnahme der verschiedenen disziplinären Provenienzen konstruktivistischer Theorienbildung verdeutlichen. Denn die Bezugnahme in der Wissenschaft der Sozialen Arbeit erfolgte nicht unmittelbar, sondern sie setzte die Bearbeitung in anderen Human- und Sozialwissenschaften voraus. Zu diesen Wurzeln des Transfers gehören auf der einen Seite die Veränderungen systemischen Denkens in der angewandten Psychologie (Beratung, Therapie und Supervision), die für die Soziale Arbeit vor allem in den 1980er Jahren eine Wandlung ihrer handlungstheoretischen Positionen im Blick auf die Interaktion mit den AdressatInnen beförderte (etwa Bardmann et. al. 1991). Zum anderen erfolgte der Transfer über die vor allem in den 1990er Jahren stattfindende Rezeption des gesellschaftstheoretischen Modells von Niklas Luhmann (vgl. Scherr 2002, Kleve 2007, Maaß 2009). Seit Ende der 1990er etablierten sich zudem zunehmend konstruktivistische Ansätze mit erkenntnistheoretischen, neurobiologischen und kommunikationstheoretischen Bezügen (vgl. Kraus 2002, 2013).
Gleichwohl in den 1990er Jahren konstruktivistische Positionen „zur neuen Modephilosophie geworden“ (Glasersfeld 1996, S. 17) waren, erfolgt gerade in dieser Zeit auch vehementer Widerspruch. Auf diese Zeit rückblickend bilanziert Micha Brumlik noch Anfang der 2000er Jahre, die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus friste „eine eigentümliche Nischenexistenz im Betrieb der Humanwissenschaften. Von den einen als Heilslehre geradezu vergöttert, von den anderen als szientistischer Unsinn verketzert, steht sie im Streit“ (Brumlik 2002, S. 5). [Zur Kritik und Gegenkritik vgl. „Externe und interne Kritik“ in Konstruktivismus (Philosophie)]
Inzwischen zählt der Konstruktivismus zu den etablierten Paradigmen in den Sozial- und Humanwissenschaften (vgl. Pörksen 2011). [Zum Überblick vgl. „Vielfalt konstruktivistischer Ansätze“ und „Disziplinäre Provenienzen und Perspektiven“ in Konstruktivismus (Philosophie), zudem: Schmidt 1987]
2 Relevanz für die Human- und Sozialwissenschaften
Die Etablierung des konstruktivistischen Paradigmas mag damit zu erklären sein, dass erkenntnistheoretische Grundlagen relevant für zentrale Fragen der Human- und Sozialwissenschaften sind – sowohl für Fragen der Zielbestimmung (normative Orientierung) als auch für Fragen der Zielerreichung (methodische Orientierung). Erkenntnistheoretische Grundlagen [vgl. „Erkenntnistheoretische Perspektiven“ in Konstruktivismus (Philosophie)] sind entscheidend für das Menschenbild, die Ideen über die Funktionsbedingungen menschlicher Kognition und so für die Vorstellungen von Lernen und Lehren, von Kommunikation und damit dem verstehenden Zugang zu Menschen. Von ihnen hängt ab, wie begründet werden kann, über die „richtigen“ Ziele professionellen Handelns zu entscheiden und welche Wege als möglich gelten können, diese Ziele methodisch zu erreichen.
Das konstruktivistische Paradigma kognitiver Selbstreferentialität postuliert, dass Kognition keinen direkten Zugang zur Realität hat. Seinen Nutzen für die Reflexion von Interaktionsverhältnissen erweist dieses Paradigma zunächst in der Verdeutlichung der Grenzen menschlicher Erkenntnis und zwischenmenschlicher Kommunikations- und Einflussmöglichkeiten. Angesichts dieser Grenzen wird u.a. eine neue Sicht der menschlichen Kommunikationsvoraussetzungen notwendig und damit die Revision hermeneutischer Theorien zwischenmenschlichen Verstehens, die schließlich auch die Methodenfrage in den Human- und Sozialwissenschaften erreicht, z.B. Pädagogik: Methodik und Didaktik, Psychologie: Therapie und Beratung, Soziale Arbeit: Hilfe und Kontrolle. Darüber hinaus wird diskutiert, wie bei Beibehaltung der Annahme kognitiver Selbstreferentialität methodische Entscheidungen neu begründet und Prozesse zwischenmenschlicher Verständigung und Einflussnahme neu erklärt werden können (vgl. Kraus 2017).
3 Systemisch-Konstruktivistische Ansätze
Konstruktivistische Diskurse haben zu verschiedenen Ansätzen unterschiedlicher Provenienzen geführt [vgl. hierzu „Vielfalt konstruktivistischer Ansätze“ und „Disziplinäre Provenienzen und Perspektiven“ in Konstruktivismus (Philosophie)]. Zu den dominanten Ansätzen zählen solche, die mit dem Begriff „systemisch-konstruktivistisch“ benannt werden. Hierunter sind spätestens seit den 1980er Jahren zwei Richtungen zu unterscheiden, auch wenn die Übergänge zwischen diesen Richtungen nicht trennscharf sind. Die eine Richtung basiert auf der soziologischen Systemtheorie der Bielefelder Schule, die maßgeblich von Niklas Luhmann begründet und durch Helmut Willke und Dirk Baecker weiterentwickelt wurde. Die andere Richtung basiert auf neurobiologischen, psychologischen, erkenntnistheoretischen und kommunikationstheoretischen Ansätzen, die maßgeblich von Humberto Maturana, Francisco Varela, Gerhard Roth, Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster, Siegfried J. Schmidt und Gebhard Rusch entwickelt wurden.
Einerseits haben diese beiden Richtungen durchaus gemeinsame theoretische und logisch operative Grundlagen, beide beziehen sich etwa auf Überlegungen zur Autopoiese, zur BeobachterInnenperspektive und zur Unterscheidungslogik etc. Andererseits unterscheiden sich die Perspektiven und Anwendungsmöglichkeiten der zu Grunde gelegten Theorien: entweder fokussieren sie stärker die Funktion sozialer Systeme oder die Funktionsbedingungen von Individuen. Verdeutlichen lässt sich dies beispielsweise an der breiten Entwicklung systemisch-konstruktivistischer Ansätze in der Sozialen Arbeit. Die auf einer soziologischen Systemtheorie basierende systemisch-konstruktivistische Perspektive fokussiert vor allem die Funktionen sozialer Systeme und beschäftigt sich mit Fragen der Hilfe/Nicht-Hilfe, des Falls/Nicht-Falls usw. und der Exklusion/Nicht-Exklusion bzw. Inklusion/Nicht-Inklusion.
Die auf einem neurobiologischen, psychologischen, erkenntnistheoretischen und kommunikationstheoretischen Konstruktivismus basierende systemisch-konstruktivistische Perspektive fokussiert hingegen vor allem die Funktionsbedingungen von Interaktionen und dabei allgemein Fragen der Kommunikation und speziell Fragen der Hilfe und Kontrolle, der Einflussnahme und des Verhältnisses zwischen Lebenswelten und Lebenslagen [vgl. „Zum Verhältnis von Wirklichkeit und Realität“ Konstruktivismus (Philosophie)].
Die Verflechtung dieser beiden Perspektiven zeigt sich in den diesbezüglichen Gemengelagen, Konklusionen und Transformationen aus beiden Traditionslinien in der Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit (vgl. Krieger 2010). Hier finden sich beispielsweise die postmodern-ambiguitätstheoretisch orientierten Arbeiten von Heiko Kleve (Kleve 2007), die grundlagen- und interaktionstheoretischen Arbeiten zu einer systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung von Björn Kraus (Kraus 2017) und die methodisch orientierten Arbeiten von Hans-Ulrich Pfeifer-Schaupp (Pfeifer-Schaupp 1995), Wolf Ritscher (Ritscher 2017), Wilfried Hosemann und Wolfgang Geiling (Hosemann & Geiling 2013).
4 Quellenangaben
Bardmann, Theodor M., Heinz J. Kersting, Hans-Christoph Vogel und Bernd Woltmann, 1991. Irritation als Plan: Konstruktivistische Einredungen. Aachen: Kersting. ISBN 978-3-9801175-8-6
Brumlik, Micha, 2002. Vorwort. In: Björn Kraus, Hrsg. Konstruktivismus – Kommunikation – Soziale Arbeit: Radikalkonstruktivistische Betrachtungen zu den Bedingungen des sozialpädagogischen Interaktionsverhältnisses. Heidelberg: Carl Auer Systeme, S. 5–6. ISBN 978-3-89670-312-5 [Rezension bei socialnet]
Diesbergen, Clemens, 2000. Radikal-konstruktivistische Pädagogik als problematische Konstruktion. Eine Studie zum Radikalen Konstruktivismus und seiner Anwendung in der Pädagogik. 2. Auflage. Bern u.a.: Lang. ISBN 978-3-906764-28-3
Glasersfeld, Ernst von, 1996. Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-58230-5
Hosemann, Wilfried und Wolfgang Geiling, 2013. Einführung in die Systemische Soziale Arbeit. München: Reinhard/UTB. ISBN 978-3825240080
Jensen, Stefan, 1999. Erkenntnis – Konstruktivismus – Systemtheorie. Eine Einführung in die Philosophie der konstruktivistischen Wissenschaft. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. ISBN 978-3-531-13381-2
Kleve, Heiko, 2007. Postmoderne Sozialarbeit: Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag. ISBN 978-3531154657
Kleve, Heiko, 2011. Vom Erweitern der Möglichkeiten. Konstruktivismus in der Sozialen Arbeit. In: Bernhard Pörksen, Hrsg. Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden: VS Verlag, S. 506–519. ISBN 978-3-531-17148-7 [Rezension bei socialnet]
Kraus, Björn, 2002. Konstruktivismus – Kommunikation – Soziale Arbeit. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.
Kraus, Björn, 2013. Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz/Juventa. ISBN 978-3-7799-2854-6 [Rezension bei socialnet]
Kraus, Björn, 2017. Plädoyer für den Relationalen Konstruktivismus und eine Relationale Soziale Arbeit In: Forum Sozial 1, S. 29–35. ISSN 1433-3945. Verfügbar unter:
http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/51948
Krieger, Wolfgang, 2004. Wahrnehmung und ästhetische Erziehung – Zur Neukonzeption ästhetischer Erziehung im Paradigma der Selbstorganisation. Bochum, Freiburg: Projektverlag. ISBN 978-3-89733-106-8
Krieger, Wolfgang, 2010. Systemische Ansätze im Überblick und ihre Anwendung in der Sozialen Arbeit. In: Wolfgang Krieger. Hrsg. Systemische Impulse. Stuttgart: Ibidim. S. 25-70. ISBN 978-3838201948
Rustemeyer, Dirk. 1999. Stichwort: Konstruktivismus in der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2(4), S. 467-484. ISSN 1434-663x
Maaß, Olaf, 2009. Die Soziale Arbeit als Funktionssystem der Gesellschaft. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. ISBN 978-3-89670-918-9 [Rezension bei socialnet]
Ostheimer, Jochen, 2009. Die Realität der Konstruktion. Zur Konstruktivismusdebatte in der Sozialen Arbeit. In: Neue Praxis 39(1), S. 84–92. ISSN 0342-9857
Pfeifer-Schaupp, Hans-Ulrich, 1995. Jenseits der Familientherapie: Systemische Konzepte in der Sozialen Arbeit. Freiburg/Br.: Lambertus. ISBN 978-3784107509
Pörksen, Bernhard, Hrsg., 2011. Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden: VS Verlag. ISBN 978-3-531-17148-7 [Rezension bei socialnet]
Ritscher, Wolf, 2017. Systemische Modelle für die Soziale Arbeit. Ein integratives Lehrbuch für Theorie und Praxis. 5. Auflage. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-89670-881-6
Scherr, Albert, 2002. Soziologische Systemtheorie als Grundlage einer Theorie der Sozialen Arbeit? In: Neue Praxis, 3/2002, S. 258-268. ISSN 0342-9857
Schmidt, Siegfried J. 1987. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 3518282360
Wehrspaun, Michael. 1994. Kommunikation und (soziale) Wirklichkeit. Weber, Elias, Goffman. In: Gebhard Rusch und Siegfried J. Schmidt, Hrsg. Konstruktivismus und Sozialtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11–46. ISBN 978-3-518-28699-9
Westmeyer, Hans. 1999. Konstruktivismus und Psychologie. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2(4), S. 507-525. ISSN 1434-663x
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Zitiervorschlag
Kraus, Björn,
2018.
Konstruktivismus (Human- und Sozialwissenschaften) [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 13.02.2018 [Zugriff am: 13.02.2025].
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