Ko-konstruktiver Ansatz
Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz
veröffentlicht am 26.01.2024
Der Ko-konstruktive Ansatz ist ein pädagogisch-didaktisches Handlungskonzept der frühen Bildung. Im Vordergrund des Ansatzes steht die Eigenaktivität des Kindes und das Lernen in sozialer Interaktion mit anderen. Neues Wissen, Kompetenzen oder Handlungsstrategien werden gemeinsam und partnerschaftlich entwickelt.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Hintergrund: Vom konstruktivistischen Lernen zur Ko-Konstruktion
- 3 Kindliches Lernen: Eigenaktivität, sozialer Prozess und Bedeutsamkeit
- 4 Haltung und Rolle der Pädagogischen Fachkraft
- 5 Pädagogisches Handeln als Konzentration auf die Alltäglichkeit
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Der Ko-konstruktive Ansatz nimmt seinen Anfang in der Haltung pädagogischer Fachkräfte zur Gestaltung von Lernprozessen. Es braucht eine gleichwertige Beziehung zwischen den Lernenden und ein Auge für die Bedeutung von Lernprozessen zwischen Kindern, damit interaktives Lernen gelingen kann. Ko-konstruktives Lernen ist nicht nur ein didaktischer Ansatz, sondern eine Lernkultur, die zu etablieren ist, damit Lernen durch Alltäglichkeit zum Alltag wird.
Lernen wird als sozialer Prozess verstanden. Neues Wissen und Handlungsstrategien werden gemeinsam mit anderen in einer partnerschaftlichen Interaktion ausgehandelt. Die pädagogische Fachkraft fungiert als Bildungsbegleitung. Sie gestaltet eine Umgebung, die Auseinandersetzung anregt und Neugier weckt.
Genauso bedeutend ist das gemeinsame Konstruieren, also das partnerschaftliche Entwickeln, von Lerninhalten mit Gleichaltrigen. Kinder untereinander stehen sich in einem gleichwertig gestalteten Lernkontext gegenüber und widmen sich spezifischen Themen, stellen Regeln nach eigener Logik auf und pflegen eigene Aushandlungsprozesse.
2 Hintergrund: Vom konstruktivistischen Lernen zur Ko-Konstruktion
Dem ko-konstruktiven Lernen liegt der philosophische Ansatz des Konstruktivismus (Collin 2008) zugrunde. Dieser sagt, dass die Welt nur durch Interpretation verstanden werden kann. Konstruktivistisches Lernen bedeutet, selbstreferenziell Erlebnisse und Erfahrungen zu erarbeiten, die in einem konkreten Bezug zur Lebenswelt stehen.
Ernst von Glaserfeld, als ein Vertreter des radikalen Konstruktivismus, formuliert in Anlehnung an Piagets Theorie der Akkommodation und Assimilation, dass Wissen nicht passiv durch Sinnesorgane oder Kommunikation aufgenommen, sondern aktiv vom denkenden Subjekt aufgebaut wird (Foerster und Glaserfeld 2010). Lernen wird nicht von der Welt angestoßen, sondern von der lernenden Person selbst. Damit ist die Konstruktion von Wissensstrukturen höchst individuell und Lernen bedeutet vor allem auch entdecken von Neuem (Bruner 1987).
Die persönliche Gestaltung und Entwicklung von Lerninhalten knüpft immer an Vorerfahrungen der oder des Lernenden an. Damit haben die konstruierten Wissensinhalte im Radikalen Konstruktivismus keinen objektiven Charakter, sondern stellen subjektiv-funktionale, zu einem bestimmten Zeitpunkt konstruierte Wissensbestände dar (Faulstich 2013). Frühpädagogisch ko-konstruktive Sichtweisen gehen zurückhaltend vor und erkennen objektives Wissen durchaus an, dieses wird aber trotzdem in Interaktion mit anderen konstruiert (Schmitt und Simon 2020, S. 28)
Grundsätzlich bezeichnet Ko-Konstruktion sowohl einen frühpädagogischen Handlungsansatz (Fthenakis 2009) als auch den Prozess, wie neues Wissen entstehen kann (Youniss 1994). Der Begriff geht auf Youniss (1982, 1994) zurück, der sich damit beschäftigte, wie Kinder in Interaktion mit Erwachsenen oder anderen Kindern lernen. Er verwendete für den Austausch sowie die Aktion und Reaktion aufeinander den Begriff der Wechselseitigkeit (Reziprozität) (Youniss 1982, S. 49 f.).
Optimale Lernbedingungen entstehen nach Youniss durch eine symmetrische Reziprozität. Alle Beteiligten bringen sich gleichwertig in den Lernprozess ein. Für ihn heißt das aber auch, dass gleichzeitig die Reflexion eines Wissens- und Machtgefälles im Lernprozess und eine Veränderung des Werte- und Weltverständnisses der Erwachsenen stattfinden muss (Schmitt und Simon 2020).
3 Kindliches Lernen: Eigenaktivität, sozialer Prozess und Bedeutsamkeit
Dem Ko-konstruktiven Ansatz (Dahlberg 2004) liegt das Bild eines sich selbst motivierenden und sich selbst steuernden Kindes zugrunde, das Wissen aktiv konstruiert. Dabei zeigt die Silbe „Ko“ an, dass die am Lernprozess Beteiligten sich auf Augenhöhe begegnen.
Ko-konstruktive Lernprozesse sind immer soziale Prozesse und deshalb gekennzeichnet von kommunikativem Austausch und partizipativem Aushandeln sowie Ausprobieren und dem Erweitern von Ideen. Das eigene Verständnis von einer Sache wird in Aktion vertieft.
Lernprozesse können dann gelingen, wenn die oder der Lernende Bedeutsamkeit im Lernen für sich erkennt und in den Prozess involviert ist (König 2010, S. 58). Lernende Kinder entdecken so, dass die Welt auf verschiedene Arten erklärt und Probleme gleichzeitig auf verschiedene Weisen gelöst werden können.
4 Haltung und Rolle der Pädagogischen Fachkraft
Auf der Seite der pädagogischen Fachkräfte setzen ko-konstruktive Lernprozesse eine partnerschaftliche Haltung und die Kompetenz voraus, die eigene Weltsicht zu hinterfragen. Partnerschaftlich heißt in diesem Zusammenhang, dass Erwachsene sich genauso wie Kinder auf das Neulernen einlassen und sich die eigene Realität und das eigene Weltbild ebenfalls durch Neues verändern darf.
Im ko-konstruktiven Lernen steht nicht eine vermittelnde Didaktik im Vordergrund, die routinierte Handlungsanweisungen gibt. Die pädagogische Fachkraft wählt auch keine Lerninhalte für das Kind oder die Gruppe aus und gibt sie im Sinne einer sich ergänzenden komplementären Reziprozität weiter (Youniss 1994, S. 47): Ich weiß etwas und zeige es dir. Vielmehr geht es darum, sich gemeinsam auf den Weg zu machen und neue Lerninhalte in dialogischer Interaktion zu erschließen. Das Lernen wird für das Kind dadurch zu einem eigenaktiven Prozess im Sinne einer gleichwertigen symmetrischen Reziprozität: Wir wissen es nicht und entdecken es gemeinsam.
Die pädagogische Fachkraft erhält folglich die Rolle einer Lernbegleitenden, die unterstützende, entwicklungs- und kompetenzfördernde Rahmenbedingungen für die kindlichen Lernaktivitäten schafft und das Kind in seinem Lernprozess respektiert und kindliche Lernanlässe akzeptiert.
Dies führt in der Praxis jedoch immer wieder zu Handlungsunsicherheiten (König 2010). Kinder werden zwar als Akteure ihrer Entwicklung angesehen, pädagogische Fachkräfte neigen jedoch häufig trotzdem dazu, sich eher instruktiver pädagogischer Handlungsformen zu bedienen, als didaktische Ansätze zu wählen, die eine Mitverantwortung des Kindes am eigenen Lernen ermöglichen. Dies liegt vermutlich nicht zuletzt daran, dass die Entwicklungs- und Lernziele für das Kind nicht ko-konstruktiv formuliert und dann auch nicht gemeinsam verfolgt werden können.
5 Pädagogisches Handeln als Konzentration auf die Alltäglichkeit
Der Ko-konstruktive Ansatz stellt Lernprozesse der Alltäglichkeit in den Vordergrund, die sich aus der aktuellen und individuellen Situation sowie den Fragen der Kinder ergeben. Auswahl und Verantwortung für das, was gelernt wird, liegt bei allen am Lernprozess Beteiligten.
Darum bedient er sich weniger dem vorbereiteten pädagogischen Angebot, wie in der Instruktionsdidaktik, sondern frühdidaktischer Prinzipien wie dem Scaffolding (Wygotski 1934; Hammond und Gibbons 2001), dem gemeinsam vertiefenden Denkprozess (Sustained shared thinking; Hopf 2012) oder der geteilten Teilnahme (Rogoff 2003).
Bernhard (2021) sieht in der Gestaltung der Umgebung, die „emanzipative Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse ermöglicht und provoziert“ (S. 89), eine Form indirekten pädagogischen Handelns, das ko-konstruktive Lernprozesse braucht. Dies bezieht sich auf die Gestaltung der Materialien und der Umwelt im Kindergarten genauso wie auf die Ausgestaltung der alltäglichen Lebenswelten.
Orte frühpädagogischen Lernens sind nicht per se ko-konstruktive Bildungsräume, sondern müssen in einem anhaltenden Prozess der Beobachtung und der Anpassung an kindliche Lern- und Entwicklungsbedürfnisse dazu gestaltet und erhalten werden.
Für Giesecke (2015) liegt im Arrangieren von Erziehungs- und Bildungsräumen das Schaffen einer möglichst optimalen Lernsituation. Dabei kann das Arrangement als Methodik bezeichnet werden, um ein bestimmtes pädagogisches Ziel zu erreichen.
Z.B. wird das Ziel Literacy verfolgt und der arrangierte Raum im Kindergarten regt zur Beschäftigung mit bestimmten Begriffen und Lauten an. Die arrangierte Situation kann aber auch die Lernziele dem Kind überlassen. Pädagogische Arrangements können darüber hinaus auf eine bestimmte emotionale Gestimmtheit zielen und primär ein Klima des Wohlbefindens, der Zufriedenheit und des Vertrauens und der Bindung entwickeln wollen (Giesecke 2015, S. 101).
Einen wichtigen Aspekt ko-konstruktiv pädagogischen Handeln stellt die Begleitung des Kindes durch Beobachtung der kindlichen Entwicklung, Wahrnehmung der Interessen und Bedürfnisse sowie der lebensweltlichen Bezüge dar. Hierauf basierend können, gemeinsam mit dem Kind, Lern- und Bildungsziele entfaltet werden, die gemeinsam bearbeitet und weiterentwickelt werden.
6 Quellenangaben
Bernhard, Armin, 2021. Pädagogisches Denken: Eine Einführung in die Grundlagen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. ISBN 978-3-8340-2140-3
Bruner, Jerome S., 2002 [1987]. Wie das Kind sprechen lernt. 2., erg. Auflage. Bern: Huber. ISBN 978-3-456-83891-5
Collin, Finn, 2008. Konstruktivismus. Paderborn: Wilhelm Fink. ISBN 978-3-8252-2977-1
Dahlberg, Gunilla, 2004. Kinder und Pädagogen als Co-Konstrukteure von Wissen und Kultur: Frühpädagogik in postmoderner Perspektive. In: Wassilios E. Fthenakis und Pamela Oberhuemer, Hrsg. Frühpädagogik international: Bildungsqualität im Blickpunkt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 13–30. ISBN 978-3-8100-3378-9 [Rezension bei socialnet]
Faulstich, Peter, 2013. Menschliches Lernen: Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie. Bielefeld. Transcript. ISBN 978-3-8376-2425-0 [Rezension bei socialnet]
Foerster, Heinz von und Ernst von Glasersfeld, 2010. Wie wir uns erfinden: Eine Autobiographie des radikalen Konstruktivismus. 4. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag. ISBN 978-3-89670-580-8
Fthenakis, Wassilios E., 2009. Ko-Konstruktion: Lernen durch Zusammenarbeit. In: Kinderzeit. 3, S. 8–13. ISSN 0934-6570
Giesecke, Hermann, 2015. Pädagogik als Beruf: Grundformen pädagogischen Handelns. 12., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-3262-8 [Rezension bei socialnet]
Hammond, Jennifer und Pauline Gibbons, 2001. What is scaffolding? In: Jennifer Hammond, Hrsg. Scaffolding: Teaching and learning in language and literacy education. Newtown: Peta, S. 13–26. ISBN 978-1-875622-43-6
Hopf, Michaela, 2012. Sustained Shared Thinking im frühen naturwissenschaftlich-technischen Lernen. Münster: Waxmann. ISBN 978-3-8309-2710-5
König, Anke, 2010. Interaktion als didaktisches Prinzip: Bildungsprozesse bewusst begleiten und gestalten. Troisdorf: Bildungsverlag EINS. ISBN 978-3-427-80025-5 [Rezension bei socialnet]
Rogoff, Barbara, 2003. The cultural nature of human development. New York: Oxford University Press. ISBN 978-0-19-513133-8
Schmitt, Annette und Eric Simon, 2020. Ko-Konstruktion in der Kita-Praxis. Hürth: Carl Link. ISBN 978-3-556-08241-6 [Rezension bei socialnet]
Wygotski, Lev Semjonowitsch, 2002 [1934]. Denken und Sprechen: Psychologische Untersuchungen. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-22125-4
Youniss, James, 1982. Die Entwicklung und Funktion von Freundschaftsbeziehungen. In: Wolfgang Edelstein und Monika Keller, Hrsg. Perspektivität und Interpretation – Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 78–109. ISBN 978-3-518-27964-9
Youniss, James, 1994. Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28757-6
7 Literaturhinweise
Blum, Katharina, Kaarina Meyn und Anke Wolfram, 2021. Schlüsselbegriffe der Kita-Praxis: Ko-Konstruktive Lernbegleitung: 12 Reflexionskarten für die Teamarbeit. Stuttgart: Klett Kita GmbH. ISBN 978-3-96046-192-0
Schmidt, Thilo und Wilfried Smidt, 2015. Wie werden Kinder im Kindergarten am besten gefördert? Orientierungen frühpädagogischer Fachkräfte im Spannungsfeld zwischen Selbstbildung und Instruktion. In: Empirische Pädagogik. 29(3), S. 393–414. ISSN 0931-5020
Schmitt, Annette und Eric Simon, 2020. Ko-Konstruktion in der Kita-Praxis. Hürth: Carl Link. ISBN 978-3-556-08241-6 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz
Studiengangsleitung des Studiengangs Pädagogik der Kindheit (B.A.) an der Evangelischen Hochschule Nürnberg
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