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Bildkompetenz

Prof. em. Dr. phil. habil. Kunibert Bering

veröffentlicht am 28.12.2020

Englisch: visual proficiency

„Bildkompetenz“ meint die komplexe Fähigkeit des Umgangs mit Bildern, die das Alltagsbild ebenso umfassen wie die Kunst, Artefakte wie Skulptur und Architektur, Film, Theater etc. Da Bilder interpretationsbedürftig sind, gehört zur Bildkompetenz notwendig die Konstruktion bedeutungsstiftender Kontexte, die wesentlich von der historischen Dimension der Bilder gespeist werden. Daher stellt „Bildkompetenz“ eine wesentliche Grundlage (sozial- und kunst)pädagogischen Handelns dar.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Bild – Bildverständnis – Kompetenzbegriff
  3. 3 Bild und „Wirklichkeit“
  4. 4 Wandlungen des Bildbegriffs
  5. 5 Bildkompetenz und Kunstbegriff
  6. 6 Bildkompetenz – Bezugswissenschaften
  7. 7 Bildkompetenz: Konsequenzen für die Kunstdidaktik
  8. 8 Quellenangaben
  9. 9 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Bilder bestimmen in der Gegenwart das Leben der Menschen in einer bisher unbekannten Weise: der Alltag ist durch Kommunikation im Medium des Bildes, z.B. in den sozialen Medien, ebenso geprägt wie die Wissenschaft und die Kunst. In einer von Bildern geprägten Welt ist Orientierung unbedingt erforderlich – dazu gehören grundlegende Kompetenzen für den Umgang mit Bildern. Mindestens eine Generation ist mittlerweile durch das Phänomen der „Bilderflut“ sozialisiert, sodass die Vermittlung von Bildkompetenz vor allem auch eine (kunst-, sozial-)pädagogische Herausforderung darstellt. Der Bogen spannt sich von den zeichnerischen Gestaltungen der Kinder und Jugendlichen bis zum Umgang mit der „Bilderflut“ im Internet und zur Auseinandersetzung mit Werken der Kunst.

2 Bild – Bildverständnis – Kompetenzbegriff

Bilder erschließen sich allerdings nicht von selbst – sie sind interpretationsbedürftig. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Im April 2019 ging ein Foto um die Welt, das auf einer schwarzen Fläche ein ringförmiges, diffus wirkendes rötliches Element zeigte, dessen unterer Rand hell leuchtete (Britzen und Müller 2019). Das Zentrum bildete eine dunkle, etwa kreisförmige Fläche. Erst die Kenntnis des komplexen Zusammenhangs, dem diese fotografische Aufnahme seine Entstehung verdankt, lässt dieses Bild verständlich erscheinen: es handelte sich um das erste Foto eines „Schwarzen Loches“, jener Orte im Kosmos mit höchsten Massekonzentrationen, an denen sich – z.B. am Ende der Entwicklung von Sternen – extreme Gravitationswirkungen zeigen, die alles verschlingen, selbst das Licht. Mit der Kombination von acht über den Globus verteilten Teleskopen gelang die Aufnahme des 55 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernten „Schwarzen Loches“ in der Galaxie M87, das eine Masse von 6,6 Milliarden Sonnenmassen aufweist. Im folgenden Jahr (2020) erhielten Andrea Ghez, Reinhard Genzel und Roger Penrose für ihre vorangegangenen grundlegenden Forschungen zu den „Schwarzen Löchern“ den Nobelpreis für Physik.

Dieses Beispiel vermag die grundsätzliche Interpretationsbedürftigkeit von Bildern zu belegen. Dies zeigt sich nicht nur in den Naturwissenschaften, etwa beim Blick durch ein Mikroskop, sondern in vielen Situationen in der gegenwärtigen Lebenswelt, in der bildgebende Verfahren – beispielsweise in der Medizin mit der Magnetresonanz- oder der Computertomografie – immer größere Bedeutung erlangen.

Damit wird klar, dass die Deutung von Bildern ein hohes Maß an Wissen und Fertigkeiten erfordert. Dabei geht es nicht nur um lexikalisches Wissen, sondern insbesondere um Fähigkeiten, in sich wandelnden Situationen jeweils adäquat agieren zu können (Bering 2010, S. 283–294). Derartige Fähigkeiten werden in Bildungsprozessen vermittelt, die sich als ausgesprochen komplex darstellen. Dabei erweisen sich Interaktionen zwischen der internen Repräsentation des Einzelnen und seiner Motivation und Sozialisation sowie andererseits der zu erlernenden Fähigkeiten und Fertigkeiten als von ausschlaggebender Bedeutung (zur schulischen Bildung Bering et al. 2013; zur beruflichen Bildung ausführlich mit weiterer Literatur Bundesinstitut für Berufsbildung o.J.).

Diesem hier favorisierten Konzept der Bildkompetenz liegen wesentlich die kognitionspsychologischen Forschungen von Franz E. Weinert zugrunde, die die Komplexität des Lernens mit seinen emotionalen und kognitiven, den „volitionalen“ und sozialen Dimensionen zu erfassen suchen (Weinert 2001). Dieses Verständnis von „Kompetenz“ überbietet einen vielfach kritisierten Kompetenzbegriff, der sich – verkürzend – auf weitgehend funktionales Handeln konzentriert (Bos 2010, S. 407–429).

3 Bild und „Wirklichkeit“

Die angesprochenen Lernprozesse sind ohne Wahrnehmung nicht denkbar. Die weitreichenden Ergebnisse der neurophysiologischen Forschung zeigen, dass die Wahrnehmung nicht nach dem Modell der Camera obscura funktioniert, sondern vielmehr eine Konstruktionsleistung im Hirn des Menschen darstellt: Von außen kommende Reize strukturiert das Hirn des Wahrnehmenden durch bereits gespeicherte Ordnungsmuster, die sog. Innere Repräsentation der Welt (Singer 2002, S. 211–235, bes. S. 75). Damit entstehen immer wieder neue Verbindungen zwischen existierendem Wissen und neuen Informationen. Als Medium dieser Prozesse, mit denen Mitmenschen kommunizieren, dient außer der (verbalen) Sprache eine „symbolische Repräsentation“, nämlich Bilder, durch die sich auch jene Wirklichkeitskonstruktionen artikulieren lassen, die die Sprache nicht ausdrücken kann (Singer 2004, S. 218).

Bilder stellen wesentliche Faktoren dar, die an der Entstehung von „Wirklichkeit“, genauer: einer Konstruktion von „Wirklichkeit“, beteiligt sind. Dies können Fotos wie Selfies u.a. sein, die geteilt werden und so weiteste Verbreitung finden, auch Bilder in den Medien, gestreamte Filme, Werbung, bildnerische Auseinandersetzungen mit der „Welt“ durch Handykameras oder digitale Bildbearbeitungen gehören dazu wie auch Graffiti – viele Facetten formen die wahrgenommene „Wirklichkeit“. Darüber hinaus wirken Formen der Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken oder das Styling des Körpers, die Mode, die Einrichtung des Wohnraumes zusammen, um eine eigene Identität oder die Anerkennung in einer Peergroup zu finden – „Wirklichkeit“ entsteht durch viele „wirkende“ Konstruktionen.

Entscheidend sind – wie zu zeigen sein wird – Lernprozesse, die bedeutungsstiftende Kontexte vermitteln und darüber hinaus die Fähigkeit zum eigenständigen Erstellen von derartigen Zusammenhängen. Dazu gehört auch die Analyse von intentionalen Kontexten, vor allem bei Verfahrensweisen mit der unsortierten Bilderflut im Internet. Es gilt insbesondere, Wirkungen abzuschätzen, wobei Empathie gefragt ist.

Besonderes Augenmerk erfordern – vor allem aus der Perspektive der Psychologie und der (Sozial-)Pädagogik sowie der Kunsterziehung – die von Kindern und Jugendlichen erstellten gestalterischen Auseinandersetzungen mit ihrer Umwelt. Diese Bilder erlauben Blicke in psychische Dimensionen, insbesondere auch bei dem Verdacht auf Kindesmissbrauch, wie zahlreiche Forschungen der letzten Jahrzehnte belegen (Schuster 1993; Kirchner et al. 2010).

Kinder- und Jugendzeichnungen haben darüber hinaus im Laufe des 20. Jahrhunderts in authentischen Visualisierungen unmittelbar die fundamentalen Umbrüche zahlreicher Gesellschaften zum Ausdruck gebracht. Die Bilder zeigen nicht nur unbeschwerte Augenblicke der Kindheit, sondern auch Sehnsüchte und Zukunftshoffnungen. In beeindruckender Weise setzen sie sich oft mit Krieg, Genozid und Vertreibung auseinander und formulieren damit die Perspektiven der Heranwachsenden (Ströter-Bender und Bering 2020). In diesen Bildern manifestieren sich grundlegende individuelle Erfahrungen, aber auch Sozialisierungs-, Identitätsfindungs- und Bildungsprozesse. Erkennbar werden darüber hinaus Indoktrinationen und die historische Entfaltung von divergierenden Bildungssystemen.

Erst in jüngster Zeit werden die Arbeiten von Kindern und Jugendlichen als erstklassige historische Dokumente angesehen und intensiver in ihrer mentalitätsgeschichtlich fassbaren Bedeutung analysiert. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das 2017 an der Universität Paderborn und an der Kunstakademie Düsseldorf gegründete internationale Forschungsnetzwerk „International Research and Archives Network for Historical Children’s and Youth Drawings“ (IRAND). Das Netzwerk verbindet weltweit Universitäten, Archive, Sammlungen und Forschungsinstitute mit dem Ziel, gestalterische Arbeiten von Heranwachsenden grundlegend in ihrer geschichtlichen Dimension zu erforschen. IRAND erhielt im Januar 2020 den Status einer kooperierenden Institution im „UNESCO Memory of the World Programme“ (MoW), „International Advisory Committee“ (IAC), „Sub-Committee on Education and Research“ (Sub-Committee on Education and Research 2019).

4 Wandlungen des Bildbegriffs

Die sog. „Postmoderne“, jener weitreichende Paradigmenwechsel am Ende der 1980er-Jahre, ging mit einer ungeahnten Aufwertung des Phänomens „Bild“ einher, wodurch das Bild in vielen Bereichen des kulturellen Lebens zur Lingua franca wurde: Der „pictorial turn“, von dem Mitchell 1992 in einer Kritik an der Sprachphilosophie Wittgensteins und Rortys sprach, löste den „linguistic turn“ ab (Mitchell 1988, S. 361–370; Mitchell 1992, S. 3–24; Bering 1990, S. 317–320). In vergleichbarer Weise sprach Gottfried Boehm später vom „iconic turn“ (Boehm 1994, S. 11–38).

Mitchells Einschätzung der enorm gestiegenen Relevanz des Bildes lieferte einen Reflexionsrahmen für die folgenden Jahrzehnte, in denen die oft kommentierte „Bilderflut“ um sich griff. Über die Feststellung des „pictorial turn“ hinaus zeigte sich die notwendige Kenntnis der bereits von Wittgenstein geforderten kulturellen Kenntnisse, um Bilder, Gesten und sonstige Kommunikationsformen adäquat zu verstehen – Formen der hermeneutischen Erschließung des Bildes reichten nicht mehr aus (Bering 2003, S. 145–164; Mitchell 2005). Das Bild erschien nun verstärkt als wesentlicher Ausdrucksträger kultureller Gegebenheiten in systemischer Verknüpfung der Problemfelder und zugleich als entscheidender Faktor für deren Beeinflussung.

Die sinnstiftende kulturelle Grundierung des Bildes ist allerdings einem ständigen Wandlungsprozess unterworfen. „Kultur“ stellt sich keineswegs einheitlich dar, sondern vielmehr als Resultat historischer Entfaltungen und eines ständigen kulturellen Austausches.

In den gegenwärtigen „Postcolonial“ und „Cross-Cultural Studies“ werden intensive Diskussionen um Inter- und Transkulturalität, um Migration und Integration in der globalisierten Gegenwart geführt. Damit verändern sich nicht zuletzt die Perspektiven auf Bilder und insbesondere auf Kunstwerke. Dies belegt beispielsweise der gegenwärtige Umgang mit der materiellen Hinterlassenschaft aus ehemaligen Kolonialgebieten oder mit Statuen, die Personen der Kolonialherrschaft nobilitieren. Diese Entwicklungen gehen vor dem Horizont der postkolonialen Emanzipation und der facettenreichen Gender-Bewegung sowie den ethnischen Konflikten, vornehmlich in den USA, vonstatten, die in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts eskalierten und bis in die Gegenwart andauern. Für pädagogische Prozesse zur Vermittlung von Bildkompetenz bedeutet dies eine Überwindung letztlich kolonialistisch-imperialistischer Blickwinkel und eine Hinwendung zur Vermittlung der Äquivalenz der Kulturen (Lutz-Sterzenbach et al. 2012; Lutz-Sterzenbach et al. 2013; Bering 2015).

5 Bildkompetenz und Kunstbegriff

Im Rahmen einer Erörterung der „Bildkompetenz“ stellt sich insbesondere die Frage nach der Position der Kunst im Rahmen dieses Konzeptes. Am Ende der Moderne setzte sich die Vorstellung durch, dass Utopien, die mit dem Avantgarde-Gedanken verbunden auftraten, nicht zu realisieren waren. In den westlichen Gesellschaften hatte sich mit der in den späten 1960er-Jahren ausklingenden Avantgarde ein pluralistischer Kunstbegriff etabliert. Umberto Eco hatte bereits 1962 den Gedanken der Offenheit des Kunstwerks formuliert: Im Rückblick zeigte es sich, dass eine sich genetisch entwickelnde, lineare Geschichte der Kunst der Moderne nicht möglich ist. Verabschiedet wurde damit die Ideologisierung der Moderne mit ihrem Postulat der ständigen Innovation, des Originalen und der utopischen Implikationen.

Vielmehr bestanden offensichtlich divergierende Positionen nebeneinander und in der Auseinandersetzung miteinander. Als entscheidend galten nun jene Diskurse, die ein Bild erst zum Kunstwerk erklären – damit hatte sich der Gedanke des bedeutungsstiftenden Kontextes auch auf diesem Feld verbreitet. Die künstlerischen Diskurse bezogen ebenso Film und Performance, Theater und Architektur in den sich wandelnden Bildbegriff ein. Dabei ging es forciert um Bezüge zwischen „neuen“ Medien und alten Bilderreservoirs sowie um crossmediale Verfahren der Bildfindung, aber auch um die Ästhetisierung des Raumes und insbesondere um Fragen von Identität und Gender.

In den Jahren der zu Ende gehenden „Moderne“ brachte Werner Hofmann diesen Befund auf die treffende Formel: „Es gibt keine Kunst, sondern nur Künste. […] Der einsinnige Kunstbegriff wird aufgelöst“ (Hofmann 1977, S. 107).

6 Bildkompetenz – Bezugswissenschaften

Das Konzept „Bildkompetenz“ entfaltet sich im Schnittpunkt unterschiedlicher methodischer Ansätze. Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte stellen unverzichtbares Material und grundsätzliche Analysemethoden, vor allem mit den Ansätzen der Ikonografie und der Ikonologie, für die Vermittlung von Bildkompetenz bereit. Dennoch zeigte sich auch, dass die konventionelle Kunsthistorie Probleme der Globalisierung und Entkolonialisierung in ihren Auswirkungen auf die – transkulturelle – Kunstszene und auch auf sich wandelnde Fragestellungen zur Geschichte der Kunst häufig vernachlässigte (Bering 2020).

Aus semiotischen und philosophischen Fragestellungen entwickelte sich in den 1990er-Jahren die sog. Bildwissenschaft, die den – z.B. von Sachs-Hombach artikulierten – ausgreifenden Anspruch erhob, wissenschaftliche Zugänge zum Bild unter der Ägide der Philosophie zu suchen: Der Philosophie komme bei der Formulierung einer Bildwissenschaft „eine zentrale Bedeutung zu […], und dies nicht nur, weil sie wie kaum eine andere Disziplin die meisten der unterschiedlichen Bildaspekte thematisiert – vor allem in Ästhetik, Zeichen- bzw. Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes –, sondern insbesondere, weil der Umgang mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragestellungen zu den philosophischen Kernkompetenzen zählt“ (Sachs-Hombach 2004, S. 9). Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass seit Generationen Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft die entscheidenden Instrumente, vor allem methodologischer Provenienz, für die wissenschaftlich orientierte Bildanalyse bereitstellen und damit Bildverstehen sowie Bildkompetenz ermöglichen.

Im Gefolge des bildwissenschaftlichen Ansatzes legte Roland Posner aus der Sicht des Semiotikers eine Systematisierung von „Bildkompetenz“ vor, die sich auf zehn Ebenen ex negativo hierarchisch entwickelt (Posner 2003, S. 17–23). Allerdings differenziert diese Systematik keine Bildsorten. Konsequent spricht Posner lediglich diffus von der „illokative(n) Kraft“ der Bilder, der Intentionalität des Dargestellten, deren Wahrnehmung nur mit einer undeutlich bleibenden „pragmatischen“ oder „modalen“ Kompetenz gelingen kann. Posner bindet seine Systematisierung der „Bildkompetenz“ in eine mehrstufige Kategorisierung von Bildern ein, wobei er zur „Reflexionsstufe 0“ Bilder, die „ohne menschliches Zutun“ wie Schatten- oder Spiegelbilder rechnet. Ereignet sich das Spiegelbild in einem von Menschenhand angefertigten Spiegel, so ist „Reflexionsstufe 1“ erreicht, der die zweite Stufe mit den „als Abbild“ intendierten Bildern – vornehmlich im ausdrücklich erwähnten – Bilderrahmen folgt.

Posners Überlegungen kollidieren jedoch mit jenen Bildern, die gemeinhin als „Kunstwerke“ bezeichnet werden. Diese kann Posner in seiner Systematisierung nur als „Verletzungen von Gegenstandsabbildungskonventionen“ einstufen. Hier liege die „Schwelle vom Gebrauchsbild zur Bildkunst“ – „Kunst“ als Verletzung. Die Schlüsselbegriffe „Bild“, „ästhetisch relevant“ und „Bildkunst“ sind für Posner nicht mehr hintergehbar, obwohl doch gerade die jeweiligen Kontexte und Diskurse, in denen Bilder auftreten, für die Bedeutung entscheidende Relevanz besitzen.

Für ein Konzept der Bildkompetenz mit kontextbezogenen und systemtheoretisch orientierten Ansätzen (Bering 1993) erlangte die aus den Reformbestrebungen der 1968er-Jahre entwickelte kunstdidaktische Position der „Visuellen Kommunikation“ mit systemverändernden Intentionen – nicht zu verwechseln mit dem gegenwärtigen Diskurs um (visuelles) Kommunikationsdesign – weitreichende Beachtung. Dem didaktischen Konzept der Visuellen Kommunikation kommt insofern besondere Bedeutung zu, als hier erstmals im Rahmen der Kunsterziehung den „Neuen Medien“ und der Werbung, privaten Fotos oder Wohnraumgestaltungen, also den Alltagsbildern, eine entscheidende Rolle zufiel.

Als wichtige Vorläufer der „Visuellen Kommunikation“ sind die in Großbritannien in den 1950er-Jahren entwickelten „Social Studies“ mit ihren Forschungen zur Bilderwelt der Alltagskultur zu nennen.

Abbildung 1
Abbildung 1: Bezugsfelder der Bildkompetenz (eigene Darstellung)

7 Bildkompetenz: Konsequenzen für die Kunstdidaktik

Heranwachsende müssen die Orientierung in kulturellen Kontexten lernen: in Kulturen, die – wie die gegenwärtige – vom Bild fundamental geprägt werden, ist Kompetenz in der Konfrontation mit Bildern von grundlegender Bedeutung. Dies bezieht sich auf das Verständnis der Bilder ebenso wie auf den gestalterischen Umgang zur Formung eigener Welten. Hier liegen vielfach ungenutzte Ressourcen, wie sich z.B. an dem Konzept der „Kulturellen Bildung“ zeigt, in dem Bildern eine größere Aufmerksamkeit entsprechend ihrer Bedeutung in der gegenwärtigen Kultur zukommen sollte (Bockhorst und Reinwand 2012).

Demgegenüber stellt das Fach „Kunst“ im Kanon der Unterrichtsfächer das einzige dar, das das Bild als Bild in den Mittelpunkt stellt. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Bild“ vollzieht sich dabei unter Einbeziehung von Skulptur, Architektur/​Urbanistik auf den Feldern der Produktion, Reflexion und Rezeption. Das Potenzial des Faches „Kunst“ ergibt sich aus dem geradezu unerschöpflichen Repertoire der Geschichte der Bilder, die ihrerseits stets neue Bildfindungen bis in die Gegenwart hinein ermöglichen. Die Erarbeitung historischer Kontexte ist daher für kompetente Analysen gerade auch aktueller Bilder unerlässlich, um Orientierung in der von Bildern beherrschten Gegenwart zu finden (Bering und Niehoff 2013; Bering und Niehoff 2015; Bering und Niehoff 2019).

In jüngster Zeit entfaltete sich in diesem Zusammenhang das kunstdidaktische Konzept einer „Bildgeschichte rückwärts“ als methodisches Vorgehen, das auf eine Anregung des Kunstpädagogen Wolfgang Pilz zurückgeht (Pilz 1973, S. 44–47). Dieses Konzept geht von der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler und deren Bilderreservoir aus, um im Horizont der Kultur(en) die Bedeutung der Bilder in ihrer historischen Entfaltung auszuloten.

8 Quellenangaben

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9 Literaturhinweise

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Verfasst von
Prof. em. Dr. phil. habil. Kunibert Bering
1998–2020 Kunstakademie Düsseldorf
Lehrstuhl für die Didaktik der Bildenden Künste
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Zitiervorschlag
Bering, Kunibert, 2020. Bildkompetenz [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 28.12.2020 [Zugriff am: 24.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29055

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