Transdisziplinarität
Der Begriff der Transdisziplinarität wird sowohl in wissenschaftstheoretischer Hinsicht als auch aus forschungspraktischer Perspektive facettenreich diskutiert. Beide Perspektiven spielen für die Soziale Arbeit eine bedeutende Rolle. Über die Disziplingrenzen hinweg wurde Transdisziplinarität in den vergangenen Jahren vor allem als ein Forschungsmodus bekannt, bei welchem ein gesellschaftliches Problem gemeinsam mit relevanten nicht akademischen Akteur:innen und unter Einbeziehen verschiedener für das Feld einschlägiger wissenschaftlicher Disziplinen untersucht wird. Ziel ist es, für gesellschaftlich drängende Probleme belastbare Lösungen zu finden, indem akademisches und praktisches Wissen und Erfahrungen zusammengeführt werden.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Zur historischen Genese des Begriffs
- 3 Transdisziplinarität als Forschungsmodus und wissenschaftstheoretische Konzeption
- 4 Transdisziplinarität und Soziale Arbeit
- 4.1 Soziale Arbeit als transdisziplinäre Handlungswissenschaft
- 4.2 Transdisziplinäre Forschungszugänge in der Sozialen Arbeit
- 4.2.1 Orientierung auf soziale Probleme und gesellschaftlichen Wandel
- 4.2.2 Verkopplung von Theorie und Praxis
- 4.2.3 Macht- und ungleichheitssensible Forschungsperspektiven
- 4.2.4 Partizipation als grundlegendes Element von Disziplin und Profession
- 4.2.5 Forschungsethische Positionierung Sozialer Arbeit
- 5 Quellenangaben
- 6 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Der Begriff Transdisziplinarität wird teils sehr unterschiedlich inhaltlich gefüllt und verwendet. Weitere Begriffe wie Multi- und Interdisziplinarität oder auch Multi-, Inter- und Transprofessionalität sind in der Fachdebatte relevant.
Unter Transdisziplinarität wird nicht nur eine disziplinen-überschreitende Zusammenarbeit verstanden. Mit Transdisziplinarität wird vielfach auch ein Verständnis von Wissenschaft und eine damit verbundene Forschungspraxis beschrieben, die bewusst die Grenzen der Disziplinen überschreitet und dabei aus den Universitäten und Hochschulen heraustritt.
Diesem Verständnis nach bedeutet transdisziplinär zu forschen, gesellschaftlich relevante Problemstellungen in den Fokus zu rücken und diese koproduktiv – also unter Einbindung relevanter Akteur:innen in den Forschungsprozess – zu untersuchen. Transdisziplinarität kann in allen Phasen des Forschungsprozesses wirksam werden: bei der Identifikation von Zielen und Fragestellungen, bei der Datenerhebung und -auswertung und bei der Aufbereitung und Verbreitung von Forschungsergebnissen. Dies geht zurück auf die Überzeugung, dass komplexe gesellschaftliche Probleme mit einem rein disziplinären Zugang nicht angemessen untersucht und bearbeitet werden können.
In der Sozialen Arbeit wird Transdisziplinarität u.a. aufgegriffen in dem Verständnis von Sozialer Arbeit als transdisziplinäre Handlungswissenschaft. Für die Forschung in der Sozialen Arbeit sind transdisziplinäre Zugänge in vielfacher Hinsicht anschlussfähig: durch den Fokus der Sozialen Arbeit auf die Erforschung und Bearbeitung sozialer Probleme, die ausgeprägte Verknüpfung von Theorie und Praxis, die Bedeutung macht- und ungleichheitssensibler Forschungsperspektiven, die herausragende Rolle von Partizipation und ihre einschlägige forschungsethische Positionierung.
2 Zur historischen Genese des Begriffs
Der Begriff der Transdisziplinarität ist älter, als es die gegenwärtige Diskussion vermuten lässt. Erstmals verwendete ihn der Psychologe und Wissenstheoretiker Jean Piaget während eines 1970 durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) organisierten Workshops zum Thema Interdisciplinarity – Teaching and Research Problems in Universities, an dem unter anderen der Astrophysiker Erich Jantsch teilnahm (Nicolescu 2010, S. 17). Dieser führte im Anschluss den Begriff in die weitere akademische und gesellschaftspolitische Debatte ein, indem er Transdisziplinarität als zeitgemäße Antwort auf die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle von Universitäten postulierte (Jantsch 1972).
Jantsch kritisierte die Art und Weise, wie Wissen im herkömmlichen Universitätssystem produziert wird und konstatierte „essentially a static view, which may have been consonant with past cultural patterns and states of society, but certainly is ‚out of tune‘ with the world of today“ (Jantsch 1972, S. 10). Es bedürfe eines veränderten Nachdenkens über Wissenschaft und eines neuen Verständnisses von Universität. Gesellschaftlich relevantes Wissen müsse über eine Ausweitung der Kooperation und Koordination im Bildungs-/​Innovationssystem (education/​innovation system) produziert werden (Jantsch 1972, S. 15). Dabei betont Jantsch bereits zu diesem Zeitpunkt, dass ein solches System wertebasiert sein müsse und an einer „policy for mankind“ (Jantsch 1972, S. 17) orientiert sein solle. Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit nahm er damit die Idee vorweg, die in den 1990er-Jahren dem Begriff der Transdisziplinarität in der akademischen Debatte zu einer neuen Konjunktur verhelfen sollte: die Lösung (globaler) gesellschaftlicher Probleme in kooperativer Weise und unter Einbezug aller relevanten Akteur:innen – auch außerhalb der Hochschulen.
Doch zunächst geriet die Idee des transdisziplinären Forschens wieder in Vergessenheit. Erst mit dem Ende des Blockkonfliktes und im Zuge der großen UN-Konferenzen, die die Zusammenarbeit von Politik und Zivilgesellschaft zur Lösung globaler Probleme forcierten, wurde das Konzept der Transdisziplinarität erneut aufgegriffen. In Deutschland waren es Wissenschaftler:innen im Feld der sozial-ökologischen Forschung, die in der transdisziplinären Zusammenarbeit mit Stakeholdern – so die gängige Bezeichnung für die einbezogenen nicht akademischen Akteur:innen – ein wichtiges Element zur Stärkung der gesellschaftlichen Wirkung ihrer Arbeiten sahen.
Im Verlaufe der nächsten Dekade schlug sich dieser Trend in umfangreichen publizistischen Aktivitäten nieder, die Diskussion weitete sich wissenschaftstheoretisch, methodologisch und methodisch aus (beispielhaft das Standardwerk Hirsch Hadorn et al. 2008). In der deutschsprachigen Debatte um Transdisziplinarität lassen sich zwei zentrale Stränge unterscheiden: Transdisziplinarität als Forschungsmodus und Transdisziplinarität als wissenschaftstheoretische Perspektive, die im Folgenden skizziert werden.
3 Transdisziplinarität als Forschungsmodus und wissenschaftstheoretische Konzeption
3.1 Transdisziplinarität als Forschungsmodus
Transdisziplinarität als Forschungsmodus ist nach Hirsch-Hadorn et al. (2008) im Wesentlichen durch vier Aspekte charakterisiert:
- Erstens soll Forschung von sogenannten real-world-problems, also gesellschaftlich relevanten Problemen, ausgehen.
- Zweitens soll eine disziplinüberschreitende Forschungsperspektive eingenommen werden.
- Drittens ist es eines der Kernanliegen dieses Zweiges der Transdisziplinarität, dass die Forschung koproduktiv gestaltet wird. Das heißt, gesellschaftliche Akteur:innen, die im Feld aktiv sind, steuern gemeinsam mit den beteiligten Wissenschaftler:innen den Forschungsprozess. Das bedeutet u.a., dass Entscheidungen darüber, welche Forschungsfragen gestellt, welche Methoden zur Anwendung kommen, wer und was mit der Forschung erreicht werden soll, in Kooperation mit relevanten Akteur:innen außerhalb des Wissenschaftsbetriebes getroffen und umgesetzt werden.
- Viertens ist die Verbindung und Integration der verschiedenen Wissensbestände charakteristisch für transdisziplinäre Forschungsperspektiven.
Diese Aspekte lassen sich ergänzen durch einen fünften Punkt – die forschungsethische Fundierung von Transdisziplinarität, die angesichts der spezifischen Ausrichtung von transdisziplinären Forschungszugängen auf gesellschaftliche Problemlagen und die Kooperation mit Stakeholdern insbesondere von einer diversitäts- und machtreflektierenden Perspektive getragen sein sollte (Biele Mefebue et al. 2018).
Transdisziplinarität als Forschungsmodus korrespondiert dabei mit den wachsenden Anforderungen an Universitäten und Hochschulen, neben Forschung und Lehre als Kernaufgaben auch einer dritten Aufgabe (third mission) – nämlich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung – gerecht zu werden (z.B. Maassen et al. 2019). Mit dem Fokus auf relevante Themenstellungen und koproduktive Verfahren trägt transdisziplinäre Forschung dazu bei, Wissensproduktion aus der in vielerlei Hinsicht exklusiven akademischen Welt herauszulösen.
3.2 Transdisziplinarität als wissenschaftstheoretische Perspektive
Parallel zur Ausarbeitung einer konkreten transdisziplinären Forschungspraxis wurde eine wissenschaftstheoretische bzw. erkenntnistheoretische Reflexion vorangetrieben. Für den deutschsprachigen Raum war dabei insbesondere der Philosoph Jürgen Mittelstraß wegweisend. Auch er geht davon aus, dass die komplexen wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Probleme mit einem disziplinären Zugang allein nicht mehr angemessen bearbeitet werden können (Mittelstraß 2005, S. 19). Für ihn ist „Transdisziplinarität ein forschungsleitendes Prinzip und eine wissenschaftliche Organisationsform“ (Mittelstraß 2005, S. 21). Er macht deutlich, dass Transdisziplinarität, die Engführungen der Disziplinen aufhebend, „problemorientiert über Fächer und Disziplinen hinausgreift, aber kein transwissenschaftliches Prinzip“ ist (Mittelstraß 2012, S. 13). Im letzten Punkt unterscheidet sich Mittelstraß von anwendungsorientiert-partizipativen Transdisziplinaritätskonzeptionen, denn seinem Verständnis nach beinhaltet das Konzept keine kooperative Forschung mit außerakademischen Akteur:innen. Die Beiträge von Mittelstraß wurden in der Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der Sozialarbeitswissenschaft als transdisziplinäre Handlungswissenschaft etwa von Kleve (bspw. 1999) oder Göppner (2017) rezipiert.
4 Transdisziplinarität und Soziale Arbeit
Der Begriff der Transdisziplinarität ist für die Soziale Arbeit als wissenschaftliche Disziplin und Profession ein zentraler Referenzpunkt. Die Aneignungsgeschichte im deutschsprachigen Raum ist eng mit dem Selbstverständnis als (normativer) Handlungswissenschaft verbunden. Anders als in anderen Disziplinen, die zu Beginn der 1990er-Jahre Transdisziplinarität als Forschungsmodus für sich entdeckten, wurde in der Sozialarbeitswissenschaft zunächst der wissenschaftstheoretische Gehalt und erst später der praxisorientierte Strang von Transdisziplinarität aufgegriffen.
4.1 Soziale Arbeit als transdisziplinäre Handlungswissenschaft
Die Sozialarbeitswissenschaft als vergleichsweise junge Disziplin ist durch anhaltende Debatten um ihre Charakteristika sowie das Verhältnis zu ihren Bezugswissenschaften geprägt. Einigkeit scheint mittlerweile darin zu bestehen, dass sie als Handlungswissenschaft zu fassen ist (Obrecht 2003; Göppner 2017; Staub-Bernasconi 2018). Damit ist ein erster Bezugspunkt zum wissenschaftstheoretischen Gehalt von Transdisziplinarität benannt, nämlich die Orientierung auf Praxisprobleme und die Anwendungsorientierung.
Ein zweiter Bezugspunkt ergibt sich aus der inhärenten Interdisziplinarität der Sozialarbeitswissenschaft, die ihr mit der Formierung als eigenständige Profession und Disziplin zugrunde liegt (Brandstetter et al. 2022, S. 256). Zum einen war damit die Frage nach der disziplinären Eigenständigkeit als „Querschnittsdisziplin“ verbunden, „die der sozial(beruflich)en Komplexität gerecht wird und die es u.a. ermöglicht, die theoretischen Beiträge der Bezugswissenschaften für die Soziale Arbeit fruchtbar zu machen, – im Vorgriff auf das spätere transdisziplinäre Selbstverständnis der Sozialarbeitswissenschaft“ (Mühlum 2009, S. 41). Zum anderen wurde versucht, das Verhältnis zu den Bezugswissenschaften zu schärfen. Nach Engelke et al. (2016, S. 48–49) lassen sich aus der Perspektive der Sozialarbeitswissenschaft drei Forschungsmodi unterscheiden:
- Multidisziplinarität, in der verschiedene Disziplinen einen gemeinsamen Gegenstand bearbeiten;
- Interdisziplinarität als stärker integrierte Forschungshaltung, in der ebenfalls verschiedene Disziplinen mit ihren Methoden und Theorien ein Feld bearbeiten, aber im Austausch nach Ergänzungen und Synergien streben. Transdisziplinarität stellt in dieser Systematisierung lediglich eine Vertiefung von Interdisziplinarität dar, in der „auf jeden Fall gemeinsam geforscht wird“ (Engelke et al. 2016, S. 48).
- Intradisziplinarität als Integration von Methoden, Ansätzen und Theorien in der Sozialarbeitswissenschaft selbst.
In dieser Systematik überschneidet sich Intradisziplinarität mit dem Verständnis von Sozialarbeitswissenschaft als transdisziplinäre Handlungswissenschaft und zeigt beispielhaft, wie sich die Diskussion um das eigene Selbstverständnis als Wissenschaftsdisziplin in ihren Nuancen und Akzentuierungen in den letzten 30 Jahren ausdifferenziert hat (für eine Übersicht Birgmeier 2012, S. 109).
Heiko Kleve als prominenter Vertreter eines Verständnisses von Sozialer Arbeit als transdisziplinäre Handlungswissenschaft will diese als postmoderne Wissenschaft und Disziplin verstanden wissen (1999; 2002). Er greift Zygmunt Baumans Ambivalenzbegriff als Kennzeichen der Postmoderne auf, um die Soziale Arbeit, die seinem Dafürhalten nach in ihrem Wesen ambivalent ist, als postmodern zu klassifizieren (1999, S. 25–30). Dies leitet er aus ihrer Praxis ab, die einerseits von den Fachkräften einen spezialisierten Generalismus erfordere, um „die Ambivalenz, die Vielfalt und Komplexität des (interaktiven und organisatorisch eingebundenen) sozialarbeiterischen Handlungsbezugs“ (Kleve 2002, S. 6) bearbeiten zu können. Auf der anderen Seite sei zugleich ein universalistischer Generalismus gefordert, um der „Heterogenität des sozialarbeiterischen Gesellschaftsbezugs“ (2002, S. 7) gerecht werden zu können. Das lässt ihn schlussfolgern: „Ihre Spezialisierung ist ihre Ent-Spezialisierung, ihr Generalismus“ (2002, S. 17). Daneben ist es der Bezug zur Praxis, der „ebenfalls nur ambivalent und mehrdeutig, nämlich transdisziplinär und zwischen Theorie und Praxis stehend konstituiert sein kann“ (2002, S. 17).
Es zeigt sich, dass der Begriff der Transdisziplinarität inzwischen eine relevante Bezugsgröße in der Sozialarbeitswissenschaft darstellt (u.a. Birgmeier und Mührel 2009). Er scheint als Metabegriff am ehesten den Anforderungen zu entsprechen, die sich für eine Sozialarbeitswissenschaft ergeben, die sich als eigenständige, gleichwohl integrative Wissenschaftsdisziplin konsolidiert.
4.2 Transdisziplinäre Forschungszugänge in der Sozialen Arbeit
Die Debatte um ein transdisziplinäres Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als akademische Disziplin wird durch die Diskussion um transdisziplinäre Anwendungsforschung komplementiert.
Die Sozialarbeitswissenschaft ist aus mehreren Gründen prädestiniert dafür, den eingangs erwähnten anwendungsorientiert-partizipativen Gehalt von Transdisziplinarität stärker für ihre Forschung auszuloten:
4.2.1 Orientierung auf soziale Probleme und gesellschaftlichen Wandel
Soziale Arbeit fokussiert als Profession und Wissenschaft auf soziale Problemlagen und Empowerment ihrer Adressat:innen. Der Fokus auf „real world problems“ und die Entwicklung transformativer Praxen sind fester Bestandteil der Sozialarbeitswissenschaft. Auf die lange Tradition der Forschung zu sozialen Problemlagen verweist etwa das Positionspapier „Forschung in der Sozialen Arbeit“ der Sektion Forschung der DGSA (2019): „Mit Themenfeldern wie ökonomischen Ausbeutungsstrukturen, Kinderarbeit und Lebensverhältnissen in verschiedenen mit sozialen Problemen belasteten Wohngebieten zielte die Forschung der Sozialen Arbeit bereits zu Beginn ihrer Entstehung auf eine kritische Analyse von gesellschaftlichen Verhältnissen und lieferte wichtige Erkenntnisse über die Lebensverhältnisse vulnerabler Personengruppen und darüber hinaus über Sozial-, Gesundheits- und Bildungsfragen im Kontext unterschiedlicher Gesellschaften“ (DGSA 2019, S. 1 f.) Die gesellschaftliche Verantwortung ist auch explizit in der deutschsprachigen Definition Sozialer Arbeit verankert (DBSH 2016).
4.2.2 Verkopplung von Theorie und Praxis
Die Vermittlung und das integrative Zusammendenken von Theorie und Praxis sind in der Sozialarbeitswissenschaft selbst angelegt. Als Handlungswissenschaft fokussiert sie den Theorie-Praxis-Nexus und beansprucht dabei, praxissensible Theorien zu generieren (Anastasiadis und Wrentschur 2019, S. 14). Hier positioniert sich Sozialarbeitswissenschaft erkenntnistheoretisch an einer Schnittstelle, an der situierte (Haraway 1996) und diverse Perspektiven von Forschenden, Adressat:innen und weiteren Akteur:innen aufgenommen, reflektiert und integriert werden.
Ein ausgeprägter Praxisbezug und die Einbindung von Praktiker:innen in die Forschung sind bedeutende Elemente der Praxisforschung „im Sinne einer Forschung in der und für die Praxis der Sozialen Arbeit“ (König und Ottmann 2020). Je nach Ansatz sind Praktiker:innen dabei mehr oder weniger stark in den Forschungsprozess einbezogen, bis hin zu einem Verständnis von „Praxisforschung als Theorie-Praxis-Projekt“ (Munsch 2011, S. 1178), bei dem „die PraktikerInnen mindestens ebenso intensiv an der Forschung beteiligt [sind] wie die WissenschaftlerInnen“ (ebd.). Dies impliziert zahlreiche Überschneidungen mit Ansätzen der Aktionsforschung „als gesellschaftskritisch aufklärende, praktisch verändernde Forschung, die die Personen im Feld als ‚Subjekte‘ wahrnimmt und mit ihnen zusammen handelnd und forschend tätig wird“ (a.a.O., S. 1184).
4.2.3 Macht- und ungleichheitssensible Forschungsperspektiven
Durch ihren Fokus auf soziale Ausschlüsse und in Berufung auf ihr drittes, eigenes Mandat (Tripelmandat, Lutz 2020), das mit dem Selbstverständnis als „Menschenrechtsprofession“ verbunden ist (Staub-Bernasconi 2007), kann Soziale Arbeit auf ein umfangreiches Set an macht- und ungleichheitssensiblen theoretischen Konzepten und methodischen Ansätzen zurückgreifen. So bemerken Brandstetter et al.: „Neben ihrer Expert*innenschaft an sozialen Dimensionen zu bearbeitender Problemstellungen weist sie forschungspraktisch viel Erfahrung und Vernetzung zur Gestaltung der Zugänge zu Feldern auf, die zur Erforschung dieser Dimensionen von Bedeutung sind. Weiterhin hat Soziale Arbeit Erfahrung mit Forschungsmethoden, die in der Lage sind, marginalisierte oder vulnerable Gruppen in Forschung einzubeziehen und dies forschungsethisch zu gestalten und zu reflektieren“ (Brandstetter et al. 2022, S. 256).
4.2.4 Partizipation als grundlegendes Element von Disziplin und Profession
Eine auf Partizipation der Adressat:innen von Sozialer Arbeit ausgerichtete Grundhaltung ist mittlerweile selbstverständlicher Teil des Professionsverständnisses. Viele Adressat:innen der Sozialen Arbeit haben sich in den vergangenen Dekaden organisiert und verweigern sich paternalistisch-karitativen Perspektiven auf ihre Problemlagen. Selbstbestimmung und das Recht, Entscheidungen zu fällen, die das eigene Leben betreffen, sind inzwischen anerkannte Determinanten, an denen professionell in der Sozialen Arbeit Tätige ihre Unterstützung und Begleitung ausrichten. In der Praxis der Sozialen Arbeit sollen das Wissen und die Perspektiven der Klient:innen selbstverständlich integriert werden. In dem Positionspapier „Forschung in der Sozialen Arbeit“ (DGSA 2019) werden „Reflexivität, Partizipation und Multiperspektivität“ als „herausragende Merkmale Sozialer Arbeit im Allgemeinen und der Forschung Sozialer Arbeit im Besonderen“ hervorgehoben. Eine partizipative Forschungsweise zeichnet sich durch „die bewusste Verbindung zwischen dem wissenschaftlichen Wissen, dem Wissen der Expert*innen aus der Praxis, z.B. der Sozialen Arbeit, […] und dem Wissen um soziale Wirklichkeit der Zielgruppen von Forschung“ (Alisch 2021) aus. Mit dem Verständnis von Wissensproduktion als gemeinsamer Prozess von Wissenschaft und Praxis ermöglichen es transdisziplinäre Ansätze, diesem partizipativen Anspruch gerecht zu werden und die Perspektiven und die Expertise der Adressat:innen systematisch in die Forschung einzubeziehen.
4.2.5 Forschungsethische Positionierung Sozialer Arbeit
Transdisziplinäre Forschungszugänge erfordern eine intensive Auseinandersetzung mit forschungsethischen Fragen. In dem von der DGSA (2020) formulierten Forschungsethikkodex sind forschungsethische Prinzipien formuliert, die für die Forschung in der Sozialen Arbeit grundlegend sind und dabei auch zentrale forschungsethische Herausforderungen transdisziplinärer Forschung adressieren. So wird bspw. vor dem Hintergrund der Bedeutung, die die Erforschung der „Lebenswirklichkeit von Menschen – insbesondere von marginalisierten oder stigmatisierten Menschen bzw. von Menschen in vulnerablen und von Abhängigkeiten geprägten Situationen“ (DGSA 2020, S. 3) in der Forschung der Sozialen Arbeit einnimmt, u.a. ausführlich auf die Rechte von Forschungsteilnehmenden eingegangen (a.a.O., S. 3 ff.) sowie auf den Umgang mit den unterschiedlichen Interessen verschiedener an der Forschung beteiligter Akteur:innen (a.a.O., S. 8).
Sozialarbeitswissenschaft kann also theoretisch, methodisch und forschungsethisch auf relevantes und praxiserprobtes Wissen zurückgreifen, das für gelungene Transdisziplinarität unabdingbar ist. Des Weiteren verfügen gerade Sozialarbeitende über Kompetenzen, die in diesem Forschungsprozess gefordert sind, bspw. kommunikative Fähigkeiten, Reflexionsfähigkeit, Moderationskompetenzen und Macht- und Ungleichheitssensibilität. Die Sozialarbeitswissenschaft ist daher nachgerade ideal aufgestellt, um sich stärker in transdisziplinären Forschungsverbünden zu engagieren, dabei innovative theoretische und methodische Beiträge über die eigene Disziplin hinaus zu leisten und so Forschungsergebnisse zu produzieren, die sowohl den Zielen und Ansprüchen Sozialer Arbeit als Disziplin und Profession gerecht werden als auch zu deren Weiterentwicklung beitragen. Transdisziplinarität kann damit auch die zunehmende Forschungsorientierung in Studiengängen der Sozialen Arbeit ergänzen und bereichern.
5 Quellenangaben
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6 Literaturhinweise
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Verfasst von
Dr. Yvonne Franke
Universität Vechta, Fakultät I, Fach Soziologie und assoziierte Wissenschaftlerin am Institut für Diversitätsforschung der Universität Göttingen
Mailformular
Dr. Doreen Müller
Universität Göttingen, Sozialwissenschaftliche Fakultät, Institut für Diversitätsforschung; VWA und Berufsakademie Göttingen e.V. (hauptamtliche Dozentin im dualen Studiengang Soziale Arbeit)
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Yvonne Franke.
Es gibt 1 Lexikonartikel von Doreen Müller.


