Flüchtlinge
Prof. Dr. Georg Auernheimer
veröffentlicht am 06.02.2018, archiviert am 19.10.2023
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Als „Flüchtlinge“ können alle Menschen bezeichnet werden, die aus unterschiedlichen Gründen gezwungen waren, ihre Herkunftsregion zu verlassen. Die heutige Migrationssoziologie definiert Flucht als „erzwungene Migration“ (forced migration), womit auch die Unterscheidung zwischen Flucht und Arbeitsmigration unscharf wird. Vom soziologischen Begriff ist die rechtliche Definition des Flüchtlings zu unterscheiden.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffliche Unterscheidungen
- 3 Weltweite Fluchtbewegungen, statistische Daten
- 4 Fluchtursachen und -motive
- 5 Zielländer und Fluchtrouten
- 6 Migrationsregime
- 7 Geschlecht, Herkunftsstatus und Aufenthaltsstatus
- 8 Bildungsbiographien, Integrationshindernisse und -hilfen
- 9 Quellenangaben
- 10 Literaturhinweise
- 11 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Die von der neoliberalen Agenda vorangetriebenen sozialen Umwälzungen und die geopolitisch motivierten Militärinterventionen des Westens haben seit den 1980er Jahren Fluchtbewegungen veranlasst, die von Mal zu Mal anstiegen. Zu Flucht vor Krieg und Terror kamen wirtschaftlich bedingte, zuletzt auch klimatisch bedingte Existenzbedrohungen. Bevorzugte Zielländer liegen in den vermeintlichen Wohlstandszonen im globalen Norden. Die Europäische Union versucht ebenso wie die USA mit Abschreckungsmaßnahmen, mit einem harten Grenzregime und vorgelagerten Settlements die Flüchtlingsströme einzudämmen. Dasselbe gilt für Australien. Die neoliberale Politik in den Zielländern erschwert die soziale und strukturelle Integration von Geflüchteten (Inklusion in Arbeits- und Wohnungsmärkte, Bildungssysteme, soziale Dienste). Ehrenamtliche Hilfe erhält einen hohen Stellenwert.
2 Begriffliche Unterscheidungen
Die rechtliche Definition von „Flüchtling“ (refugee) nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) weicht vom sozialwissenschaftlichen und alltäglichen Verständnis ab. Wer Zuflucht im eigenen Land sucht, wird vom UNHCR (UN High Commissioner for Refugees) zu den „Internally Displaced People“ (dt. „Binnenvertriebene“) gezählt. Für die rechtliche Anerkennung als Flüchtling nach der GFK, die 1951 verabschiedet und bis heute von 147 Staaten unterzeichnet wurde, sind fünf Verfolgungsgründe maßgebend. Dagegen ist die Anerkennung als Asylberechtigte/r nach deutschem Asylrecht auf politische Verfolgung, und zwar durch einen Staat, beschränkt. „Asylbewerber/innen“ sind Flüchtlinge im Asylverfahren. „Kontingentflüchtlinge“ müssen sich keinem solchen Verfahren unterziehen. Ihnen wird aus humanitären Gründen Aufnahme gewährt, wobei ursprünglich (z.B. bei den Boat People aus Vietnam) ein Kontingent festgelegt wurde.
3 Weltweite Fluchtbewegungen, statistische Daten
Eine Chronik der Kriege, autoritären Regime und Wirtschaftskrisen erklärt den Anstieg der Flüchtlingszahlen von der Mitte der 1970er Jahre bis zur Jahrtausendwende mit hoher Plausibilität. Für die 1970er Jahre ist an die Militärdiktaturen in Argentinien, Chile und Brasilien zu erinnern. Nach dem Sieg der Vietnamesischen Befreiungsfront 1975 flohen über 1,6 Mio. Vietnamesen über das Meer, bekannt als „Boat People“ (z.B. Kleist 2015). In den 1980er Jahren tobte der Krieg der afghanischen Mudjahedin gegen die Truppen der Regierung und der Sowjetunion. Der Irak führte Krieg gegen den Iran. In Nicaragua und El Salvador verwandelten Kämpfe der Guerilla und der Contra-Guerilla das Land in ein Kriegsgebiet.
Die erste größere Flüchtlingswelle war Anfang der 1980er Jahre mit dem Beginn des Afghanistankriegs und nach der Machtübernahme der Mullahs im Iran zu verzeichnen. Für das Jahr 1981 zeigt die Statistik eine Vervierfachung der Flüchtlingszahlen gegenüber Mitte der 1970er Jahre an, nämlich eine Steigerung von circa 2,5 Millionen auf 10 Millionen. Besonders aufschlussreich ist aber ein Blick auf die Statistik des UNHCR ab dem Beginn der 1990er Jahre. 1992 waren doppelt so viele Menschen weltweit auf der Flucht als zehn Jahre zuvor (Köppen 2016). Der Migrationssoziologe Jochen Oltmer (2016) spricht für die Zeit nach 1990 von „zwei Hochphasen“ der Fluchtmigration, einer ersten in den frühen 1990er Jahren (1992: 20,5 Mio.) und einer zweiten um 2015 (20,2 Mio.). In den Nuller Jahren war die Zahl leicht gesunken (2007: 15,9 Mio.). Nach der letzten Statistik des UNHCR waren 2016 weltweit 65,5 Millionen auf der Flucht. Die meisten Flüchtlinge, die ihr Land verließen, kamen aus Syrien (5,5 Mio.). 2,5 Millionen waren aus Afghanistan, 1,4 Millionen aus dem Südsudan geflohen.
Zu den in der Statistik des UNHCR erfassten Flüchtlingen (gemäß GFK) sind aber auch die Binnenvertriebenen zu rechnen, d.h. die im je eigenen Land Schutz Suchenden. Deren Zahl hat bis in die jüngste Zeit gewaltig zugenommen (1994: 28 Mio. – 2014: 38,2 Mio.).
4 Fluchtursachen und -motive
Allgemein verständlich ist die Flucht vor kriegerischen Konflikten und Terrorismus, ebenso die Flucht vor politischer Verfolgung oder aus einem repressiven Regime. Schon weniger nachvollziehbar ist möglicherweise für viele, dass ein destabilisiertes Staatswesen, in dem das staatliche Gewaltmonopol weitgehend außer Kraft gesetzt ist, das Leben unerträglich und bedrohlich macht. Das aber gilt heute für Länder wie Afghanistan, Irak, Libyen, Somalia, bedingt auch für mittelamerikanische Länder wie El Salvador, Guatemala, Mexiko (Auernheimer 2018). In solchen Ländern ist zwischen Banditentum, organisiertem Verbrechen und ideologisch gestütztem Terrorismus nur schwer zu unterscheiden. In vielen Ländern Lateinamerikas, besonders Mittelamerikas, bedingt staatlich geförderte oder geduldete Gewalt (z.B. durch Paramilitärs) eine allgemeine „Kultur“ der Gewalt, die auch den Alltag prägt. Destabilisierte Staaten oder „failed states“ sind in der Regel auch von wirtschaftlichem Niedergang betroffen oder werden von einer Schattenwirtschaft (z.B. Drogenhandel) am Leben gehalten. Der erwirtschaftete Reichtum kommt nur kleinen Cliquen zugute. Selbst bei positiven ökonomischen Indikatoren ist die Bevölkerungsmehrheit vieler Länder der Armut ausgesetzt. Oft treibt die Kombination von Gewalt und Armut zur Flucht.
Damit wird schon deutlich, dass die Kriterien der GFK für den Flüchtlingsstatus, trotz mehrfacher Novellierung, die heutige Situation nicht mehr treffen, weil sie manche Fluchtanlässe vernachlässigen oder unterbewerten. Als Fluchtgründe nennt die GFK in Artikel 1 Verfolgung oder Diskriminierung wegen Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung. Man ging 1951 noch von einer, ungeachtet der Kriege und Diktaturen, weitgehend intakten Weltordnung aus.
In planwirtschaftlichen Systemen und bei vorherrschender Subsistenzwirtschaft war wirtschaftliche Not noch kein Fluchtgrund, häufiger dagegen politische Verfolgung. In der sog. Dritten Welt brachten zum ersten Mal die Befreiungskämpfe, die Repression von Befreiungsbewegungen und politische Rivalitäten bedrohliche Lebenslagen und soziale Verwerfungen mit sich. Ab den 1980er Jahren haben die Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und Internationalem Währungsfonds die traditionellen Sozialstrukturen in Frage gestellt. Dabei war außer in Ostasien die Auflösung der traditionellen Wirtschaftsordnung nicht von einer entsprechenden Industrialisierung begleitet, die neue Existenzmöglichkeiten hätte bieten können. Das Ergebnis ist vielfach Verelendung, ein Leben in den Slums der Mega-Cities, für viele zumindest eine Perspektivlosigkeit, die Migration nahelegt.
Der Reichtum der meisten Länder des globalen Südens basiert fast ausschließlich auf Rohstoffexporten (sog. „Extraktivismus“). Dies begünstigt den Kampf um die Schlüsselstellungen der staatlichen Macht, um die Rohstoffrente für einige wenige zu sichern. Typische Phänomene sind Klientelsystem, Korruption und Repression zur Herrschaftssicherung. Dies sind weitere Motive für Flucht.
Die Industrieländer tragen zusätzlich zu sozialen Verwerfungen und unerträglichen Lebensbedingungen bei – die Regierungen, für Europa die EU-Kommission, mit Freihandelsabkommen, bei denen die unterschiedliche Marktmacht völlig außer Acht gelassen wird, Konzerne durch Produktionsverlagerung mit extremer Ausbeutung der Arbeitskräfte (z.B. in den Maquiladoras Mexikos), Finanzinstitute und Investmentfonds durch spekulative Geschäfte mit Agrarprodukten und mit Boden. Letzteres kann sogar zu Hungerkatastrophen oder zur Vertreibung von Einheimischen führen (Landgrabbing).
Der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Ost- und Südosteuropa und die nachfolgenden, im neoliberalen Geist vollzogenen kapitalistischen Strukturreformen haben dort meist zu oligarchischen Herrschafts- und unsicheren Lebensverhältnissen für die breite Masse geführt. Die Verunsicherung hat Nationalismen und ethnische Konflikte begünstigt. Speziell die Minderheit der Roma ist verstärkter Diskriminierung ausgesetzt, leidet großenteils unter gesellschaftlichem Ausschluss.
Bei dieser Gruppe und ähnlichen Beispielen wird deutlich, warum die Migrationssoziologie die Unterscheidung zwischen Flucht- und Arbeitsmigration für überholt hält. Manche Autor*innen sprechen von „mixed migration“. Das ließe sich beispielsweise auch an Rumän*innen zeigen, für die die Suche nach Erwerbsmöglichkeiten in Westeuropa eine Überlebensstrategie ist. Deshalb wird in einem soziologischen Wörterbuch festgestellt, „that refugees engage in ‚forced migration‘, while other types of migrants have made a choice reasonably described as voluntary“ (Bartram et al. 2014, S. 106).
Eine Fluchtursache, die erst seit relativ kurzer Zeit die Aufmerksamkeit von NGOs und Sozialwissenschaftler*innen findet, ist der Klimawandel, der nicht nur mit dem Anstieg des Meeresspiegels zu Landverlusten führt, sondern auch durch Überschwemmungen einerseits, Wassermangel, Dürre, Wüstenbildung andererseits Gebiete unbewohnbar und landwirtschaftlich unbrauchbar macht. In semiariden Gebieten, z.B. in der Sahel-Zone, bedingt das zugleich oft Konflikte zwischen Nomaden und bäuerlichen Gemeinschaften. Schätzungen, in welchem Umfang Migration umweltbedingt ist, sind sehr ungenau. 2008 wurde die durch Umweltschäden verursachte Migration auf 17 bis 135 Mio. Menschen geschätzt. Bis 2050 rechnet die Internationale Organisation für Migration (IOM) je nach künftiger Klimapolitik mit 25 Mio. bis zu einer Milliarde Klimaflüchtlingen (Swiaczny 2015). Das UN-Klimabüro (UNFCCC) rechnet mit einem Anstieg bis 150 Millionen (Oltmer 2016, S. 123).
Fluchtgründe können also sein: Angst vor Gewalt, Unterdrückung, Rechtlosigkeit, Armut, Verlust der Lebensgrundlagen, oder auch einfach Perspektivlosigkeit. Auch das enorme Wohlstandsgefälle zwischen den Weltregionen (Milanović 2016), das für die Benachteiligten medial präsent ist, ist Anlass für Migration.
5 Zielländer und Fluchtrouten
Bevorzugte Zielländer oder -regionen für Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten sind Westeuropa und die skandinavischen Länder, für Migrant*innen aus Süd- und Mittelamerika vor allem die USA und daneben Kanada, für Flüchtlinge aus Südostasien Australien. An dieser Stelle ist zu betonen, dass entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nur ein Bruchteil der weltweit Geflüchteten in Europa landet. Ende 2015 zählte der UNHCR weltweit 65,3 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene. Davon waren 40,8 Mio. Vertriebene im eigenen Land, also sog. Internally Displaced People. Von den 24,5 Mio. Refugees nach UN-Definition wiederum waren fast 90 Prozent auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau verteilt, an der Spitze Äthiopien, Kenia, Uganda und Tschad. Nur 3,2 Millionen hatten Zuflucht in Europa und den anderen Wohlstandsregionen gefunden.
Die Fluchtrouten sind alle hoch gefährlich, mit großen, teils tödlichen Risiken behaftet. Wer aus Ost- oder Westafrika flieht, muss nach der fast zweiwöchigen Wüstendurchquerung die Überfahrt über das Mittelmeer riskieren, die schon zehntausende Opfer gefordert hat. Geflüchtete aus dem Nahen Osten nehmen in der Regel den Weg über die Türkei und die Ägäis oder zu Land nach Nordgriechenland, um die Balkanroute zu erreichen, die aber inzwischen kaum noch Schlupflöcher bietet. Die Routen durch die Wüste und über das Meer sind kaum ohne die Hilfe von Schlepperunternehmen zu bewältigen, womit sich die Geflüchteten kriminellen Organisationen ausliefern. Dagegen unternehmen die Migrant*innen aus Süd- und Mittelamerika, häufig Minderjährige, die Reise nach Norden auf eigene Faust, was sie ebenfalls zu potentiellen Opfern krimineller Banden macht. Flüchtlinge mit dem Ziel Australien müssen Indonesien erreichen, um von dort mit Booten nach Australien überzusetzen.
Viele Flüchtlinge müssen die Wanderung lange Zeit, oft Jahre, auf Zwischenstationen unterbrechen, um mit Jobs die Mittel für die Weiterreise zu erarbeiten. Andere landen in selbst organisierten improvisierten Camps, weil sie durch Mittellosigkeit oder durch Grenzzäune am Weiterziehen gehindert werden.
6 Migrationsregime
Alle Zielländer, in Europa vertreten durch die Europäische Union, unternehmen große Anstrengungen, Flüchtlinge abzuschrecken und ihre Grenzen dicht zu machen. Weitere Maßnahmen sind vorgelagerte Auffangstationen und Deals mit Herkunftsländern zur Rückführung von Flüchtlingen, teils auch mit anderen Entwicklungsländern zu deren Aufnahme.
Die EG- bzw. EU-Staaten haben mit den Abkommen von Schengen (1985, 1995, 2005) im Interesse eines freien Waren- und Personenverkehrs die internen Grenzkontrollen aufgehoben und zugleich für Ausländer*innen aus Drittstaaten die Einreise mit der Visumspflicht reglementiert. Ergänzend dazu haben die Schengen-Staaten die Übereinkunft von Dublin getroffen, nach der die Prüfung der Asylanträge jeweils in dem Staat vorgenommen werden muss, in dem Antragssteller*innen zuerst landen. Das bringt eine besondere finanzielle und administrative Belastung, teils Überforderung der Staaten der Peripherie mit sich, was die Flüchtlinge zu spüren bekommen. Zur Überwachung der Außengrenzen und zur Eindämmung der irregulären Migration hat die EU 2005 per Verordnung die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache namens Frontex zum Schutz der Außengrenzen (franz. Frontières extérieures) geschaffen. Diese Agentur hat formell nicht den Status einer Grenzpolizei – sie soll offiziell nur Daten über Grenzverletzungen etc. sammeln (Baumann 2016) – nimmt aber ähnliche Aufgaben wie eine Grenzpolizei wahr.
Die USA schotten sich seit den 1990er Jahren mit einem Stück für Stück verlängerten Zaun (zuletzt 1.400 km) an der Grenze zu Mexiko (über 3.000 km) mit mehr und weniger Erfolg gegen irreguläre Migration ab. Präsident Trump hat die Errichtung einer Mauer zur Vervollständigung der Grenzsicherung angekündigt. Die mit dieser Aufgabe betraute United States Border Patrol ist wegen ihrer Praktiken umstritten. Mexiko wurde zum Vorposten der US-Grenzsicherung gemacht (Zimmering 2016). Nach demselben Muster versucht die EU nordafrikanische Staaten in Dienst zu nehmen. Australien verfrachtet Asylsuchende auf Inselstaaten im Pazifik („Pacific Solution“), sofern sie nicht schon auf See von der Marine zum Umkehren genötigt werden. Ein Deal mit Kambodscha erlaubt die Ansiedlung von nach Australien Geflüchteten. Die EU strebt Abkommen mit afrikanischen Staaten zur Rückführung von Flüchtlingen an. Dies würde zumindest teilweise gegen das Refoulement-Verbot der GFK verstoßen. Die Migrationsregime werden also weltweit restriktiver.
7 Geschlecht, Herkunftsstatus und Aufenthaltsstatus
Global sind steigende Anteile von Minderjährigen an den Geflüchteten, besonders hoch in Mittelamerika, und von Frauen zu verzeichnen (für Deutschland Farrokhzad 2017).
Das Bildungs- und Berufsbildungsniveau der nach Deutschland Geflüchteten ist je nach Herkunftsland unterschiedlich, umfasst aber allgemein ein breites Spektrum von Analphabetismus bis zum Hochschulstudium und praktischer Erfahrung in akademischen Berufen, mit ca. 10 Prozent an beiden Polen. Die Prozentangaben in verschiedenen Studien sind sehr unterschiedlich, widersprechen sich zum Teil auch. Zwar haben rund 10 Prozent gar keine Schule besuchen können. Aber ein Schulbesuch von nur vier Jahren wurde lediglich bei einer Minderheit registriert (Brücker et al. 2016, Farrokhzad 2017). Etwa zur Hälfte haben Flüchtlinge eine weiterführende Schule besucht, und ein Drittel hat einen Berufs- oder Hochschulabschluss. 73 Prozent haben im Herkunftsland bereits Berufserfahrungen erworben (Brücker et al. 2016).
Die Bildungsaspirationen sind nach Befragungen hoch, ebenso der Wille zur Erwerbstätigkeit (Farrokhzad 2017). Dem steht entgegen, dass in Deutschland das Asylrecht bei einem Aufenthalt von unter drei Monaten jede Erwerbstätigkeit untersagt. Später kann der gesetzlich vorgeschriebene Inländervorrang bei der Besetzung von Stellen zum Hindernis werden. Trotz der inzwischen erfolgten Regelung zur Anerkennung von Abschlüssen aus dem Herkunftsland gibt es nach wie vor Flüchtlinge, die berufsfremde Arbeiten weit unter ihrer Qualifikation verrichten (Farrokhzad 2017). Der Weg zur Anerkennung der Abschlüsse erfolgt meist über eine Nachqualifizierung z.B. im Rahmen des Förderprogramms „Integration durch Qualifizierung (IQ)“.
Flüchtlinge, denen amtlicherseits eine geringe Bleibeperspektive attestiert wird, finden oft schwer einen Zugang zum Arbeitsmarkt, weil ihnen auch der Zugang zu Sprach- und Integrationskursen verwehrt ist.
Eine Verbesserung für junge Asylbewerber*innen hat die sog. „3+2 Regelung“ gebracht, wonach ein Flüchtling, der eine Ausbildung in Deutschland begonnen hat und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, auch dann die Ausbildung abschließen und eine zweijährige Anschlussbeschäftigung ausüben kann, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird. Die dadurch gegebene Sicherheit für Ausbildungsbetriebe erleichtert den Abschluss eines Ausbildungsvertrags.
Asylbewerber erhalten in der Phase der Prüfung ihres Erstantrags eine Aufenthaltsgestattung. Das Asylverfahren kann mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder mit „subsidiärem Schutz“ enden, wenn sich eine Abschiebung ins Herkunftsland nach der GFK verbietet. Mit dem Anerkennungsbescheid haben die Betroffenen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge können nach drei bis fünf Jahren eine Niederlassungserlaubnis beantragen.
Der schwächste Status ist die Duldung, nach dem deutschen Aufenthaltsrecht nur eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ von ausreisepflichtigen Ausländern. Flüchtlinge mit dem Status der Duldung haben im Grunde kein Aufenthaltsrecht und erhalten verminderte Hilfen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
8 Bildungsbiographien, Integrationshindernisse und -hilfen
Die Flucht hat Auswirkungen auf die Bildungsbiographien. Einerseits werden, vor allem bei jahrelangem Lagerleben, handwerkliche oder hauswirtschaftliche Fertigkeiten verlernt. Andererseits zwingt die Flucht mit ihrem Kontextwechsel zur Entwicklung neuer Orientierungen und Potenziale. Seukwa (2006) hat in einer empirischen Studie mit afrikanischen Flüchtlingen einen „Habitus der Überlebenskunst“ entdeckt, eine Widerstandskraft gegenüber wirtschaftlichen und rechtlichen Einschränkungen, die schon unter ähnlichen Bedingungen im Herkunftsland vorbereitet wurde. Dieses Potenzial wird im formalen Schulsystem und auch auf dem Arbeitsmarkt zu wenig gewürdigt.
Entscheidend für die soziale Integration ist die strukturelle Integration in den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie in das Bildungssystem (Esser 2000). Sofern die rechtlichen Hürden nicht mehr im Weg stehen, können Flüchtlinge relativ rasch einen Job finden. Die von der neoliberalen Politik geleitete Flexibilisierung des Arbeitsmarkts erweist sich aber für sie als ambivalent. Denn viele bleiben auf ein Segment des Arbeitsmarkts mit prekärer Beschäftigung angewiesen, wenn sie nicht Erwerbslosigkeit in Kauf nehmen wollen. Am schwierigsten ist für Flüchtlinge die Wohnungssuche, da zumindest in städtischen Ballungsräumen kaum noch bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. Dieselbe Politik der Deregulierung, der viele Fluchtursachen zuzurechnen sind, erweist sich hier als Integrationshindernis. Das gilt ebenso für die Armut der öffentlichen Hand, die den Kommunen die nötigen Integrationsleistungen erschwert. Die deshalb fast unverzichtbaren ehrenamtlichen Integrationshilfen sind wiederum ambivalent, weil einerseits unprofessionell, andererseits oft förderlich für die soziale Integration von Geflüchteten.
9 Quellenangaben
Auernheimer, Georg, 2018. Wie Flüchtlinge gemacht werden: Über Fluchtursachen und Fluchtverursacher. Köln: Papyrossa. ISBN 978-3-89438-601-6
Bartram, David, Maritsa V. Poros und Pierre Monforte, 2014. Key Concepts in Migration. London et al.: Sage Publications. ISBN 978-0-85702-078-9
Baumann, Mechthild, 2016. Frontex – Fragen und Antworten [online]. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 15.06.2016 [Zugriff am 11.01.2018]. Verfügbar unter http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/179679/frontex-fragen-und-antworten
Brücker, Herbert, Nina Rother und Jürgen Schupp, Hrsg., 2016. IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Überblick und erste Ergebnisse. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. ISBN 978-3-944674-12-4
Esser, Hartmut, 2000. Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft. Frankfurt/M: Campus. ISBN: 3-593-36383-6
Farrokhzad, Schahrzad, 2017. Teilhabe geflüchteter Frauen am Arbeitsmarkt: Ausgangslage, Hürden, Handlungsstrategien. In: Christian Pfeffer-Hoffmann, Hrsg. Profile der Neueinwanderung 2017. Spezifische Herausforderungen der Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen. Berlin: Mensch u. Buch Verlag. ISBN 978-3-86387-842-9
Hahn, Petrus, 2005. Soziologie der Migration. 2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius, ISBN 3-8252-0306-X
Kleist, Olaf, 2015. Boat People: Der Flüchtling und das Meer [online]. Osnabrück: Netzwerk Flüchtlingsforschung, 18.08.2015 [Zugriff am 29.01.2018]. Verfügbar unter http://fluechtlingsforschung.net/boat-people-der-fluchtling-und-das-meer/
Köppen, Bernhard, 2016. Schutzsuchende im globalen Maßstab – Die „Global Trends“ des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen für das Jahr 2015. In: Bevölkerungsforschung Aktuell 37(4), S. 2–14. ISSN 1869-3458
Milanović, Branko, 2016. Die Ungleichheit der Welt: Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Berlin: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-42562-6 [Rezension bei socialnet]
Oltmer, Jochen, 2016. Globale Migration: Geschichte und Gegenwart. 2., überarb. u. aktualisierte Aufl. München: H.C. Beck, ISBN 978-3-406-69890-3 [Rezension bei socialnet]
Seukwa, Louis Henri, 2006. Der Habitus der Überlebenskunst. Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Münster u. New York: Waxmann, ISBN 978-3-8309-1619-2
Swiaczny, Frank, 2015. Migration und Umwelt. In: Geographische Rundschau 67(4), S. 49. ISSN 0016-7460
Zimmering, Raina, 2017. Lateinamerikanische Migration und der Blick nach Europa. Potsdam: WeltTrends. ISBN 978-3-945878-48-4 [Rezension bei socialnet]
10 Literaturhinweise
Kebraeb, Zekarias, 2011. Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn: Vier Jahre auf der Flucht nach Deutschland. Köln: Bastei Lübbe, ISBN 978-3-404-60167-7
Der Bericht des Eritreers Zekarias Kebraeb vermittelt ein eindrucksvolles Bild von den Strapazen und Risiken der Flucht.
11 Informationen im Internet
- UNHCR – The UN Refugee Agency (deutsche Website)
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
- Menschen auf der Flucht – Informationen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Verfasst von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Es gibt 6 Lexikonartikel von Georg Auernheimer.
Zitiervorschlag
Auernheimer, Georg,
2018.
Flüchtlinge [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 06.02.2018 (archiviert am 19.10.2023) [Zugriff am: 15.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3875
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