Soziale Anerkennung
Prof. Dr. Julia Schütz
veröffentlicht am 31.05.2023
Soziale Anerkennung bezieht sich auf die Bestätigung und Wertschätzung, die ein Individuum von anderen als Person, in einer Gruppe oder in der Gesellschaft erhält. Sie spielt bei der Bildung des Selbstkonzepts, der Identitätsbildung und der Integration in soziale Strukturen eine wichtige Rolle.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Kurze Begriffsgeschichte
- 3 Disziplinäre Verortungen des Anerkennungsbegriffs und diskursive Thematisierungen
- 4 Soziale Anerkennung in der Pädagogik
- 5 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Soziale Anerkennung beinhaltet immer einen Sender und einen Empfänger und bezieht sich auf die Bestätigung und Wertschätzung, die ein Individuum als Person, innerhalb einer Gruppe oder durch die Gesellschaft erfährt. Das Erleben sozialer Anerkennung hat einen erheblichen Einfluss auf die Ausbildung der Identität und des Selbstkonzepts. In pädagogischen Handlungsfeldern spielt Anerkennungserleben eine wichtige Rolle, da es sowohl Ziel als auch Methode pädagogischer Interventionen ist. Ein für die deutschsprachige Anerkennungsdebatte wichtiger Bezugspunkt ist die von Axel Honneth entwickelte Anerkennungstheorie.
Die Ausführungen stehen im Fokus einer erziehungswissenschaftlichen Betrachtung, die die Verbindung von Anerkennung, Bildung und pädagogischem Handeln anzeigt.
2 Kurze Begriffsgeschichte
Der Begriff der Anerkennung ist in der Alltagssprache durchweg positiv konnotiert.
Anerkennung wird als etwas „Gutes“ beschrieben und besitzt eine interaktionale Komponente. Anerkennung steht nicht allein, sondern umfasst immer einen Sender und Empfänger. Anerkennung beschreibt daher auch immer eine Anerkennungsbeziehung.
Diese vollzieht sich prozesshaft, d.h. neben dem bloßen und ersten „Erkennen“ einer Person, einer Gruppe oder einer gesellschaftlichen Bewegung sind unterschiedliche Wege der Anerkennung beschreibbar. Anerkennung als Identifizierung (Ricoeur 2006) stellt den ersten Weg dar. Der Wandel von aktiv zu passiv, von „etwas anerkennen“ zu „anerkannt werden“ (a.a.O., S. 39) beschreibt das Prozesshafte innerhalb der Anerkennungsbeziehungen. Das Anerkennen einer Sache, einer Person oder Personengruppe hat Auswirkungen (z.B. durch die positive und wertschätzende Anerkennung durch Bestätigung oder Lob auf das Selbstwertgefühl) und beherbergt daher eine produktive Dimension (Balzer und Ricken 2010, S. 40).
Neben der alltagssprachlichen und fachdisziplinären Verwendung des Wortes „Anerkennung“ sind theoretische Ansätze zu unterscheiden, die sich in Hinblick auf die historische Genese des Anerkennungsbegriffs in zwei Hauptetappen unterteilen lassen (Frischmann 2009, S. 148). Die erste Etappe lässt sich anhand bedeutender Vertreter nachzeichnen: Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant, die die theoretischen Voraussetzungen einer Philosophie der Anerkennung geschaffen haben und die schließlich in der konkreten Konzeption von Anerkennung bei Fichte und Hegel mündeten. In dieser Etappe dominieren zwei zentrale Themen den Anerkennungsdiskurs: zum einen die Subjektkonstitution (Personalität) und zum anderen die sozialen Institutionen wie Recht, Sittlichkeit und Staat (ebd.). Die zweite Etappe, beginnend etwa in den 1970er-Jahren, ist mit den Namen Andreas Wildt (Wildt 1982) und Axel Honneth (Honneth 1994) verbunden. Es lässt sich eine Verschiebung des Anerkennungskonzepts dahingehend feststellen, dass es in aktuelleren Debatten weniger um die Konstellation Person und Staat geht, sondern um die Bedeutung kultureller Identität und politischer Anerkennung von Minderheiten (Frischmann 2009, S. 148).
Die wesentliche Erkenntnis in der Annäherung an den Begriff der sozialen Anerkennung besteht darin, dass der Mensch in jeder Situation des alltäglichen Lebens, also im privaten und beruflichen Handeln, Sender und Empfänger von Anerkennung ist. Diese Erkenntnis ist im Kontext (sozial-)pädagogischen Handelns, in dem es um die Begleitung und Gestaltung von Lern-, Bildungs- und Reflexionsprozessen geht, wichtig.
3 Disziplinäre Verortungen des Anerkennungsbegriffs und diskursive Thematisierungen
Anerkennung begegnet uns in allen Bereichen und zahlreichen Facetten des menschlichen Zusammenlebens. Eine heuristische Suche nach dem Anerkennungsbegriff in allgemeinen Nachschlagewerken liefert Querverweise zu spezifischen Disziplinen, die nachfolgend skizziert werden.
3.1 Psychologie
Trotz Verweisen zur Psychologie in allgemeinen Lexika findet in der deutschsprachigen psychologischen Forschung das Phänomen der Anerkennung relativ wenig Beachtung. Im Themenheft zur sozialen Anerkennung durch Beruf und Arbeit des Journals für Psychologie konstatieren die Herausgebenden mit Verweis auf die Philosophie und Teile der Sozialwissenschaften eine Bestandsanalyse zum Anerkennungskonzept in der Psychologie. Obwohl Anerkennung „zutiefst mit psychologischen Fragestellungen verbunden“ (Sichler, Göll und Rettler 2010, S. 1) sei, zeige ein Blick in einschlägige Lehrbücher deutliche Leerstellen. In der psychologischen Forschung finden sich zwar Bezüge zum Anerkennungskonzept, beispielsweise bei Schneickert, Delhay und Steckermeier (2019), die anhand der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) das Anerkennungserleben für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen auswerten oder die Untersuchung zur wahrgenommenen Wertschätzung von angehenden Lehrkräften bei Carstensen, Lindner und Klusmann (2021). Eine Aufnahme des Begriffs in psychologische Lexika (z.B. Wirtz 2021) sowie die systematische Aufbereitung (Limmer 2005, S. 8) ist bisher jedoch nicht erfolgt.
3.2 Soziologie
Im Gegensatz zur Psychologie wird in den Fachlexika der Soziologie das Stichwort Anerkennung konsequent aufgeführt. Dabei unterscheiden sich die Einträge auch in historisch vergleichender Perspektive nur marginal voneinander. Soziale Anerkennung wird als „Bezeichnung für die positive Einstellung zu einer Person, für ihre positive Bewertung durch andere“ (Fuchs et al. 1978, S. 41), als „positive Bewertung eines Individuums oder seiner Handlungen durch die soziale Umwelt“ (Reinhold 2000 et al., S. 16) und zudem als das „Akzeptieren einer Person durch andere“ (Klimke et al. 2020, S. 27) deklariert.
Herausgestellt wird der positive Wert von Anerkennung, wobei das Einstellungskonzept sowie die bewertende Komponente herangezogen werden. Weiter wird betont, dass Anerkennung eine große Bedeutung für die Stabilität sozialer Beziehungen besitze. Anerkennung diene als Mittel der Sanktion und werde so u.U. zur Erreichung von Erziehung (Fuchs et al. 1978, S. 42) und als „bedeutsames Sanktionsmittel zur Erzielung von Konformität mit Gruppennormen“ (Klimke et al. 2020, S. 27) benötigt. Diese Formulierungen weisen auf pädagogisches Handeln hin, da Sanktionieren als eine Kernaktivität pädagogischer Arbeit angenommen wird (Nittel, Schütz und Tippelt 2014, S. 94).
3.3 Philosophie
In der Philosophie wurde der Begriff Anerkennung erstmals systematisch von Johann Gottlieb Fichte zum Grundbegriff erhoben (Heck 2002, S. 108). In Fichtes Werk „Staatslehre“ von 1813 wird Anerkennung als eine Art „Vernunftgesetz“ deklariert, d.h. den Anderen in seiner Andersartigkeit bzw. Fremdheit so zu belassen, sodass durch Anerkennung eine friedliche Koexistenz ermöglicht werde. Im 1796 erschienenen Werk „Grundlagen des Naturrechts nach Principien [sic] der Wissenschaftslehre“ stellt Fichte grundlegende Überlegungen über zwischenmenschliche Beziehungen und Interaktionen an. Rechte, so Fichtes Annahme, „bestehen nicht an sich, sondern sind Vereinbarungen“ (Frischmann 2009, S. 150), welche auf der wechselseitigen Anerkennung zwischen Personen gründen. Personen wiederum benötigten Anerkennung durch andere Personen, um ihre eigene Personalität herauszubilden.
Der soziale Aspekt der Anerkennung spielt auch in der Sozialphilosophie eine Rolle, die sich als Teildisziplin der Philosophie mit dem „Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ und denen daraus resultierenden Problemen (Horster 1998, S. 368) auseinandersetzt.
3.4 Erziehungswissenschaft
In der Erziehungswissenschaft spielt soziale Anerkennung als Begriff und Forschungsgegenstand zunehmend eine bedeutende Rolle. Nicole Balzer begründet dies damit, dass „‚Anerkennung‘ ein allgemeines ethisches Prinzip ist, das folglich immer und nicht nur dann gilt, wenn man mit Anderen pädagogisch zu tun hat“ (Balzer 2022, S. 77). Anerkennungsverhältnisse gelten als Voraussetzung für Bildungsprozesse (Küchler und Ivanova 2019, S. 321). Im Zuge bildungsrelevanter Diskussionen und den allgemeinpädagogischen Diskurs betreffend, diagnostizieren Holger Schoneville und Werner Thole dem Begriff der Anerkennung dennoch ein Schattendasein (Schoneville und Thole 2009). Auch Nicole Balzer und Norbert Ricken stellen fest, dass trotz eines Konsenses in der Unbestreitbarkeit der Relevanz von Anerkennung in Fragen rund um Erziehung, Bildung und Sozialisation in der Erziehungswissenschaft bisher eine breite Debatte zur Anerkennung ausblieb (Balzer und Ricken 2010, S. 35). Denn obwohl „Anerkennung als eine zentrale Kategorie pädagogischer Theorie und Praxis“ (Balzer 2021, S. 346) gilt, wird diese in sozialwissenschaftlichen Diskursen relativ wenig behandelt. Die erziehungswissenschaftliche Hinwendung zur Anerkennung ist punktuell beobachtbar (z.B. Stojanov 2006; Ricken 2007; Schäfer und Thompson 2010; Prengel 2013; Hafeneger et al. 2013; Balzer 2014; Schütz 2018; Schübel und Winklhofer 2021).
Herauszustellen sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten zur „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel, welche große Aufmerksamkeit erfahren. Für Prengel bedeutet diese eine „Pädagogik der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Verschiedenen“ (Prengel 1993, S. 62). Danach wird sowohl die Anerkennung von Gleichheit, aber auch von Verschiedenheit, eingefordert.
3.5 Soziale Arbeit
Im Gegensatz zu allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Nachschlagewerken finden sich in Handbüchern der Sozialen Arbeit (u.a. Otto und Thiersch 2015) vereinzelt Einträge zum Anerkennungsbegriff. Im Mittelpunkt steht der Zusammenhang von sozialer Anerkennung und sozialer Gerechtigkeit. Catrin Heite betont, dass sich Anerkennung für die Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit anbietet, um „die Fragen sozialer Gerechtigkeit, individueller und kollektiver Statuspositionierungen, Autonomie und Handlungsfähigkeit“ (Heite 2015, S. 82) professionell bearbeiten zu können. Heite differenziert zwischen subjekt- und statusorientierten Anerkennungskonzeptionen (a.a.O., S. 84). Im Gegensatz zur Erziehungswissenschaft bearbeitet die Soziale Arbeit seit vielen Jahren den Begriff der Anerkennung disziplinär. So wird unter dem Begriff „Wertschätzung“ im Wörterbuch Soziale Arbeit (Kreft und Mielenz 2005) sowohl auf den sozialphilosophisch geprägten anerkennungstheoretischen Diskurs verwiesen als auch die Bedeutung für die Soziale Arbeit herausgestellt. Wertschätzung bezeichnet einen „Allgemeinbegriff“, der die positive Bewertung von Personen beinhalte. Wertschätzung im sozialwissenschaftlichen Sinne verweist hingegen auf „soziales Prestige und soziale Anerkennung“ (Küster und Thole 2005, S. 1010).
Küster und Thole betonen, dass Anerkennung für die Adressat:innen ebenso bedeutsam sei, wie für die Berufsgruppen im Feld der Sozialen Arbeit u.a. deshalb, da „glaubhafte Anerkennung nur vermitteln kann, wer sein eigenes Anerkanntsein geltend macht und einigermaßen unerschütterlich vorauszusetzen vermag“ (Müller 1996, S. 28 zitiert nach Küster und Thole 2005, S. 1011).
3.6 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung
Eine im sozialwissenschaftlichen Diskurs häufig rezipierte Anerkennungstheorie entwickelt der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth (Honneth 1994). Honneth gilt als einer der „wichtigsten gegenwärtigen Vertreter einer Theorie intersubjektiver Anerkennung“ (Wimbauer und Motakef 2020, S. 57). Als Anerkennungsordnung der Moderne (Voswinkel und Lindemann 2013) entwirft Honneth drei Anerkennungsmodi. Er unterscheidet zwischen:
- der Anerkennungsform Liebe (oder auch emotionale Zuwendung) die das „Angenommen sein“ und das „Angenommen werden“ zwischen wenigen Personen bezeichnet. Diese Anerkennungsform findet sich häufig in Primärbeziehungen, so z.B. zwischen Eltern und Kind oder bei (Ehe-)Paaren.
- Die Anerkennungsform der Rechtsverhältnisse beschreibt die Achtung aller Menschen als gleiche und verantwortliche Subjekte. Dieser Form obliegt weniger einer emotionalen als vielmehr einer kognitiven Komponente.
- Die Anerkennungsform der Wertgemeinschaft oder Solidarität beschreibt die soziale Wertschätzung, die einem Individuum oder einer Gruppe für eine erreichte Leistung entgegengebracht wird. Diese dritte Form der Anerkennung wird in Honneths frühen Veröffentlichungen mit „sozialer Wertschätzung“ tituliert, seit dem Jahr 2003 verwendet Honneth den Begriff der „Leistung“ (Diehm 2010, S. 119).
Die Anerkennungsformen betreffen unterschiedliche Selbstkonzepte des Individuums. Die Anerkennungsform „Liebe“ steht in Verbindung mit dem Selbstvertrauen des Individuums. Die Anerkennungsform der „Rechtsverhältnisse“ betrifft die Selbstachtung, die Anerkennungsform der „Wertgemeinschaft/​Solidarität“ tangiert die Selbstschätzung des Individuums oder auch einer Gruppe. Den Anerkennungsformen stehen entsprechende Missachtungsformen gegenüber. Bezogen auf die drei Anerkennungsformen sind diese „Misshandlung/​Vergewaltigung“, „Entrechtung und Ausschließung“ sowie „Entwürdigung und soziale Abwertung“. Honneth sieht durch die Missachtungsformen unterschiedliche Persönlichkeitskomponenten bedroht, die in Abhängigkeit der Anerkennungsform entweder die physische oder soziale Integrität betreffen oder die Würde einer Person oder Gruppe berühren (siehe Tabelle 1).
Honneth versteht „Anerkennung in intersubjektiven Beziehungen als Voraussetzung der Personwerdung eines Individuums. Erst über Anerkennung durch andere Personen können Menschen eine positive Beziehung zu sich selbst aufbauen“ (Schoneville und Thole 2009, S. 137). Dieser Prozess lässt sich schematisch wie folgt abbilden:
Erst durch die Anerkennungsform der „Liebe“ bzw. emotionalen Zuwendung in Primärbeziehungen wird das Individuum zum Subjekt. Durch die kognitive Achtung wird das Subjekt zur Person mit generalisierten Rechten. Als rechtlich anerkanntes Mitglied der Gesellschaft vollbringt es für diese Leistungen und kann so wiederum durch Anerkennung eine positive Beziehung zu sich selbst aufbauen. Die individuellen und kollektiven Bemühungen, sich vor Missachtungen zu schützen und Anerkennung zu erfahren, interpretiert Axel Honneth als Kampf um Anerkennung. Die vorgestellte Anerkennungstheorie basiert also auf der Annahme, dass unsere Gesellschaft im Wesentlichen durch drei Anerkennungssphären gekennzeichnet ist (Recht und Politik, Arbeitswelt, Familie), die in einer komplementären Verbindung zueinanderstehen.
Krassimir Stojanov entwickelt Honneths Anerkennungstheorie zur Bildungstheorie weiter (Wigger 2015, S. 74). Er erachtet Wertschätzung über ihre Verwobenheit mit den Selbstbezügen hinausgehend als Bedingung für die (Weiter-)Entwicklung von Weltbezügen und damit von Bildungsprozessen (Stojanov 2006, S. 146). Seine theoretische Konzeption wird primär im Kontext um Bildungsgerechtigkeit diskutiert (bspw. te Poel 2019).
4 Soziale Anerkennung in der Pädagogik
Der Begriff der Anerkennung und die mit ihm einhergehenden Konzeptionen bieten zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für die Konzeptionalisierung und Reflexion pädagogischer Beziehungen (Schoneville und Thole 2009, S. 135, Bender et al. 2021). Die besondere Rolle von Anerkennung in der Identitätsentwicklung und in der Ausbildung eines positiven Selbstbezugs macht es nachvollziehbar, dass die Pädagogik den Bezug zum Anerkennungskonzept immer gesucht hat (Schäfer und Thompson 2010, S. 18) und steht damit gleichzeitig im Widerspruch zur aktuellen Forschungslage. Die erziehungswissenschaftliche Thematisierung von Anerkennung fand zunächst primär Berücksichtigung in disziplinären Zusammenhängen, die sich mit „Differenz“ befassen, so zum Beispiel im Feld der interkulturellen Pädagogik, der feministischen Bildungsarbeit oder der integrativen Pädagogik (Balzer und Ricken 2010, S. 36). Die verstärkte Konzentration in den genannten erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen sind nachvollziehbar, weil „Anerkennungsansprüche und -forderungen […] letztlich auf einem universalistischen Verständnis von Anerkennung“ gründen. „Einzelne und soziale Gruppen fordern Anerkennung, und diese Forderung wird geprüft, weil der allgemeine Anspruch auf Anerkennung als grundsätzlich legitimer Anspruch gilt“ (Castro Varela und Mecheril 2010, S. 91).
In diesem Zusammenhang findet der Begriff auf „der handlungspraktischen Ebene als Kategorie pädagogischen Handelns sowie zur Relationierung professioneller pädagogischer Beziehungen Beachtung“ (Schoneville und Thole 2009, S. 134). Anerkennung findet also im erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Diskurs vorwiegend auf handlungspraktischer Ebene statt, d.h. Anerkennung wird als eine Kategorie pädagogischen Handelns interpretiert und spielt so beispielsweise eine zentrale Rolle zur Herstellung eines freiwilligen Arbeitsbündnisses zwischen Pädagog:innen und ihrem Klientel (Schütz 2018).
4.1 Anerkennung als Methode und Ziel pädagogischer Arbeit
Albert Scherr weist darauf hin, dass Anerkennung gleichzeitig Methode und Ziel pädagogischen Handelns ist, da sich Subjekt-Bildung im Kontext von Anerkennungskonstellationen vollzieht (Scherr 2003; Schoneville und Thole 2009). Hieran anschließend sind Schäffters Überlegungen zu nennen, der die „Theorie der Anerkennung“ hinsichtlich ihrer Bedeutung für pädagogische Professionalität auslotet und verschiedene Thesen für die Erwachsenenbildung ableitet, die Relevanz für das professionelle Handeln beinhalten (Schäffter 2009). Dabei greift Schäffter zunächst ganz allgemein auf die Bedeutung von Anerkennung im Bildungsprozess zurück, in dem er eine Sensibilisierung der Erwachsenenbildung für „Formen gesellschaftlicher Missachtung und institutioneller Demütigung“ (a.a.O., S. 178) fordert, die eng an den „Kampf um Anerkennung“ geknüpft sind, sodass hier pädagogische Gestaltungsprinzipien ansetzen könnten, die auf „allen Ebenen von Bildungsformaten methodische Berücksichtigung finden können“ (ebd.).
4.2 Anerkennung als pädagogisches Konzept
Anerkennung als pädagogische Idee oder eine „Pädagogik der Anerkennung“, so wie von Hafeneger et al. (2013) veranschlagt, schwingt zunehmend im erziehungswissenschaftlichen Diskurs mit. Bei allen Möglichkeiten, die Anerkennung für das pädagogische Handeln birgt, darf Anerkennung nicht bloß als ein normatives Orientierungskonzept ausgelegt „und damit als ein Konzept der Analyse von sozialen Interaktionen wie intersubjektiven Ordnungen“ verspielt werden (Balzer und Ricken 2010, S. 37).
Die Orientierung an der bisher ausschließlich positiven Auslegung von Anerkennung in pädagogischen Interaktionen fordert gleichzeitig den Blick auf alle Erscheinungen im Kontext fehlender Anerkennung. Diese Formen der Missachtung und Demütigung, so wie im Honnethschen Modell veranschlagt, verbinden sich auch mit dem Risiko, pädagogische Qualität allein an dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Anerkennung zu bemessen (Balzer und Ricken 2010, S. 54). Dabei finden sich gerade in der pädagogischen Arbeit Facetten von divergierenden, jedoch konstitutiven Momenten: so vereinen die pädagogischen Kernaktivitäten neben dem Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren und Animieren auch das Sanktionieren (Nittel, Schütz und Tippelt 2014, S. 94) immer in Kombination mit einer weiteren pädagogischen Kernaktivität.
Es geht in der pädagogischen Arbeit, auch wenn dies nicht immer offen kommuniziert wird, beständig auch um das „Gutheißen oder das nicht Gutheißen sowie das Signalisieren eines besseren oder schlechteren Zustandes“ (Nittel, Schütz und Tippelt 2014, S. 95). Die Schwierigkeit, den Anerkennungsbegriff als pädagogisches Grundkonzept für das pädagogische Handeln zu erheben, besteht also darin, dass durch eine „durchgängige positive Aufladung von Anerkennung […] negierende wie sanktionierende Handlungen dann allzu leicht Gefahr (laufen), als Abwertungen und Missachtungen codiert zu werden“ (Balzer und Ricken 2010, S. 55).
Unabhängig von dieser Schwierigkeit ist danach zu fragen, „ob und wie in der Pädagogik sowohl theoretisch als auch praktisch dem Umstand Rechnung getragen wird, dass Menschen unhintergehbar der Anderen bedürfen, um ein Selbst werden und sein zu können“ (Balzer 2021, S. 350).
5 Quellenangaben
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Wildt, Andreas, 1982. Autonomie und Anerkennung: Hegels Moralitätskritik im Spiegel seiner Fichterezepion. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-91122-0
Wimbauer, Christine und Mona Motakef, 2020. Prekäre Arbeit, prekäre Liebe: Über Anerkennung unsichere Lebensverhältnisse. Frankfurt./M.: Campus Verlag. ISBN 978-3-593-51240-2 [Rezension bei socialnet]
Wirtz, Markus Antonius, Hrsg., 2021. Dorsch – Lexikon der Psychologie. 20., überarbeitete Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3-456-86175-3 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. Julia Schütz
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Zitiervorschlag
Schütz, Julia,
2023.
Soziale Anerkennung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 31.05.2023 [Zugriff am: 03.11.2024].
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