Adorno, Theodor W.
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
veröffentlicht am 21.08.2019
Der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno war Mitbegründer der interdisziplinären, von Marx inspirierten Frankfurter Schule (Kritische Theorie).
Überblick
- 1 Lebenslauf
- 2 Lebenswerk
- 3 Für Soziale Arbeit wichtige Einzelthemen
- 4 Wirkungsgeschichte
- 5 Aktuelle Bedeutung
- 6 Kritik
- 7 Quellenangaben
- 8 Literaturhinweise
- 9 Informationen im Internet
1 Lebenslauf
Theodor W. Adorno wurde am 11. September 1903 in Frankfurt am Main als Theodor Wiesengrund geboren. Die offizielle Namensänderung erfolgte im November 1943 bei der Einbürgerung in die Vereinigten Staaten (Müller-Doohm 2003, S. 455), aber schon Jahre vorher publizierte er unter dem Autorennamen „Wiesengrund-Adorno“. Adorno ist der Name einer alten und einflussreichen Genueser Familie, den sich der Großvater mütterlicherseits, ein aus Korsika stammender Fechtlehrer, aus nicht ermittelten Gründen zugelegt hatte (Müller-Doohm 2003, S. 21, 34). Theodor war das einzige Kind seines Vaters Oscar Wiesengrund und dessen Frau Maria, geb. Calvelli-Adorno della Piana, die als Konzertsängerin internationale Erfolge feierte. Der Vater war Weinhändler, die Familie lebte im Wohlstand.
Wie viele andere seiner Generation war Adorno vom ersten Weltkrieg und den Revolutionen, die in der Folge stattfanden, tief geprägt. Er las teilweise noch als Schüler Lukács’ Theorie des Romans, Blochs Geist der Utopie, und zusammen mit Siegfried Kracauer, seinem ersten Mentor, die Kritik der reinen Vernunft von Kant. Walter Benjamin, der sich ab 1923 häufiger in Frankfurt aufhielt, gab ihm das Manuskript seines Essays über Goethes Wahlverwandtschaften zu lesen. All diese Autoren, insbesondere Walter Benjamin, sollten einen lebenslangen Einfluss auf Adornos Denken haben.
Nach dem Abitur 1921, das er als hochbegabter Schüler glänzend bestanden hatte, studierte er in Frankfurt Philosophie, Musikwissenschaft und Psychologie. Lange Zeit war sich Adorno unschlüssig, ob er eine wissenschaftliche oder eine künstlerische Laufbahn einschlagen sollte. 1924 in Philosophie promoviert, studierte er in Wien Komposition bei Alban Berg und Klavier bei Eduard Scheuermann. Schon früh hatte Adorno eine Tätigkeit als Musikkritiker aufgenommen und bis in die dreißiger Jahre ausgeübt. Ein erster Versuch, sich in Frankfurt mit der Arbeit Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre für Philosophie zu habilitieren, scheiterte, während der zweite mit Kierkegaard – Konstruktion des Ästhetischen 1931 Erfolg hatte. Nach der Machtübergabe an Hitler konnte Adorno nicht mehr als akademischer Lehrer wirken, da sein Vater Jude war.
Adorno ging zunächst nach Oxford und schließlich zusammen mit seiner Frau Gretel Karplus, einer promovierten Chemikerin, die er 1937 geheiratet hatte, in die Vereinigten Staaten. Dort intensivierte sich die Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialforschung und dessen Direktor Max Horkheimer, den Adorno schon aus Frankfurt kannte. Adorno war mit den linksbürgerlichen Kreisen der hessischen Metropole gut vertraut. Zu seinen Bekannten und Freunden gehörten neben Kracauer und Horkheimer Friedrich Pollock, Erich Fromm, Leo Löwenthal und der Theologe und Philosoph Paul Tillich, bei dem Adorno habilitierte. Seit dem ersten Jahrgang 1932 war Adorno Autor der von Horkheimer herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung, deren letzte Nummer 1941 im amerikanischen Exil erscheinen sollte.
Adornos Übersiedlung nach Amerika im Februar 1938 war der wohl wichtigste Einschnitt in seinem Leben. Er war nun gezwungen, seinen Lebensunterhalt mit empirischer Sozialforschung zu verdienen, was seine Theoriebildung beeinflusst hat. Es entwickelte sich eine enge theoretische Zusammenarbeit mit Max Horkheimer, die sich in der Dialektik der Aufklärung niederschlug. In den USA wurden ferner Bücher fertiggestellt, die zu Adornos Hauptwerken gehören, wie die Minima Moralia und die Philosophie der neuen Musik über die Komponisten Schönberg und Strawinsky.
1949 kehrte Adorno ebenso wie Horkheimer und Pollock nach Frankfurt zurück und entfaltete seit 1953 als Publizist und akademischer Lehrer zunächst „außerplanmäßig“, dann ab 1957 als Ordinarius für Soziologie und Philosophie eine weithin sichtbare Tätigkeit.
Adorno starb am 06. August 1969 während eines Urlaubs in der Schweiz an den Folgen eines Herzinfarkts.
2 Lebenswerk
Adorno war ein ungemein vielseitiger und produktiver Forscher und Autor. Zu den Themen seiner Publikationen zählen Kultur- und Musiksoziologie, Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, Ästhetik und das Verhältnis von Psychoanalyse und Soziologie.
Eine Schlüsselstellung im Werk nimmt die Dialektik der Aufklärung ein, die Adorno im kalifornischen Exil gemeinsam mit Max Horkheimer verfasst hat. Sie erweitert die kritische Theorie um eine zivilisationskritische Dimension. Die Marx’sche Kapitalismuskritik wurde nicht fallen gelassen, sondern zu einer Theorie des „Staatskapitalismus“ entwickelt, die unter dem Eindruck des Faschismus konzipiert und im Umkreis des Instituts für Sozialforschung kontrovers diskutiert worden war. Diese Theorie besagt, dass die Bürokratie (sowohl die staatliche als auch die wirtschaftliche) den ökonomischen Mechanismus in die Hand genommen hat und die Menschen „zu bloßen Objekten des Verwaltungswesens“ herabgesetzt werden, das „jede Sparte des modernen Lebens bis in die Sprache und Wahrnehmung präformiert“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 45). Die Dialektik der Aufklärung wurde 1947 veröffentlicht und gilt als eines der sozialphilosophischen Grundwerke des 20. Jahrhunderts.
Mit Horkheimer veröffentlichte Adorno die Soziologischen Exkurse, die Grundbegriffe und -probleme der in Deutschland damals kaum etablierten Wissenschaft behandelten. Sehr ausgedehnt waren seine Aktivitäten (Vorträge, Vorlesungen und Publikationen) auf dem Gebiet der Musiktheorie: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (1956) gehörte zu den ersten Buchpublikationen in der Bundesrepublik. Adorno beteiligte sich an der Wiedereinführung der authentischen Psychoanalyse und veröffentlichte, neben den Noten zur Literatur, philosophisch-erkenntnistheoretische Werke zu Husserl und zu Hegel. Sein philosophisches Hauptwerk ist die Negative Dialektik von 1966. Die Ästhetische Theorie wurde 1970 aus dem Nachlass veröffentlicht. Ein Buch über Beethoven blieb unvollendet.
In der deutschen Soziologie der sechziger Jahre und im Zuge der Studentenbewegung seit 1967 hatte sich für den Kreis um Horkheimer und seinen Traditionszusammenhang der Ausdruck „Frankfurter Schule“ verbreitet. Er wurde auch von Adorno benutzt (Adorno 1972a, S. 318).
Von großer Prominenz und Wirkung war Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, eine Auseinandersetzung über Theorie und Methode in den Sozialwissenschaften. Ausgangspunkt der Debatte waren Referate von Adorno und Karl Popper auf dem Soziologentag 1961. Im Folgenden schalteten sich Hans Albert, Jürgen Habermas und andere in die Debatte ein, die in einem Sammelband dokumentiert ist (Adorno et al. 1969). Aus Adornos Sicht ging es um die Begriffe Widerspruch, Totalität und Dialektik sowie um das Verhältnis zwischen empirischer Sozialforschung und Gesellschaftstheorie. Eine Besonderheit der Adorno’schen Position besteht darin, dass sie, ausgehend von der Analyse des Warenfetischismus im ersten Band des Kapital von Karl Marx, eine Verbindung von Gesellschafts- und Erkenntnistheorie anstrebt.
Im Unterschied zu anderen Kontrahenten konnte Adorno auf seine umfangreiche Erfahrung als empirischer Sozialforscher zurückgreifen. Seine soziologischen Studien hatten 1938 mit dem Radio Research Project (unter Leitung von Paul Felix Lazarsfeld) begonnen und kulminierten 1951 in der Veröffentlichung The Authoritarian Personality, die Teil der umfangreichen Studies in Prejudices war. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1949 war Adorno weiter in der empirischen Forschung im Rahmen des wieder errichteten Instituts tätig, z.B. an dem Anfang der 1950er Jahre durchgeführten Gruppenexperiment; der von Adorno bearbeitete Teil trug den Titel Schuld und Abwehr.
Unter dem Titel Nachgelassene Schriften wurden inzwischen eine Reihe von Vorlesungsnachschriften veröffentlicht, die nicht die Dichte und Verbindlichkeit seiner Bücher aufweisen, aber gerade darum einen einfacheren Zugang zu Adornos Denken eröffnen und eine Vorstellung von seiner persönlichen Wirkung geben können.
3 Für Soziale Arbeit wichtige Einzelthemen
Adornos Lebenswerk mit seiner umfassenden Spannbreite ist auch für die Soziale Arbeit von Bedeutung. Dies gilt insbesondere für folgende Themen und Begriffe:
- Bildungstheorie
- Antisemitismus und Ethnozentrismus
- Wissenschaftsbegriff
- Kulturindustrie
3.1 Bildungstheorie
Die unter dem Titel Erziehung zur Mündigkeit (1971 u.ö.) verbreitete Sammlung von Vorträgen und Rundfunkgesprächen mit Hellmut Becker ist das am weitesten verbreitete Werk Adornos. Ein für die Bildungstheorie zentraler und komplexer Text ist die Theorie der Halbbildung, die nicht in die Sammlung aufgenommen worden ist (Adorno 1972b).
Bildung, so heißt es dort, sei „nichts anderes als Kultur nach Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (Adorno 1972b, S. 94). Ihr Traum sei „Freiheit vom Diktat der Mittel, der sturen und kargen Nützlichkeit“ (ebd., S. 98), ihr Element die Muße, die der Mehrheit verweigert wird. Als Privileg macht Bildung sich selbst zum Mittel, und zwar dem der Distinktion. „Halbbildung“ entsteht, wenn „Kulturgüter“ massenhaft verbreitet werden, ohne dass die Voraussetzungen des lebendigen Nachvollzugs gegeben sind. Die Bildungsgehalte werden dann fragmentiert und aus dem Zusammenhang gerissen. Die Güter der Halbbildung werden als Waren an die Kunden verkauft, die Bildung – ähnlich wie Gegenstände – zu besitzen glauben. Zum Warencharakter und zur Verkäuflichkeit der Bildungsgehalte gehören nach Adorno insbesondere Personifizierung, Psychologisierung und Starkult. Halbbildung ist Teil der Kulturindustrie und die im entwickelten Kapitalismus vorherrschende Gestalt des Geistes.
Das Erziehungsziel der Mündigkeit, wie es im Titel der oben genannten Sammlung angegeben ist, steht in der Tradition von Kants Definition der Aufklärung als „Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 2002, S. 9). Mündigkeit ist für Adorno die Kraft zur Selbstreflexion, zur Selbstbestimmung und zum Nichtmitmachen. Das Erziehungsziel der Mündigkeit steht in einem unauflöslichen Gegensatz zum Ziel der Ausbildung zur Übernahme einer gesellschaftlichen Funktion, auf das Erziehung ebenfalls nicht verzichten kann, soll sie die ihr Anbefohlenen nicht zur Lebensuntüchtigkeit verdammen. Der Gegensatz sei auszutragen, nicht zuzukleistern. Ziel der Erziehung ist Entbarbarisierung ohne Lämmerhaftigkeit; es soll „zur Selbstverständlichkeit“ werden, „nicht nach außen zu schlagen, sondern über sich selbst und die eigene Beziehung zu denen zu reflektieren, gegen die das verstockte Bewußtsein zu wüten pflegt“ (Adorno 2013a, S. 25).
Der bekannteste Text aus Erziehung zur Mündigkeit ist Erziehung nach Auschwitz. Adorno reagiert mit ihm auf den Frankfurter Auschwitzprozess 1963–65 und auf verstärkte rechtsradikale und antisemitische Aktivitäten seit Ende der fünfziger Jahre. Angegriffen werden das Ideal der Härte mit seinen (nicht nur in der Bundeswehr nach wie vor beliebten) Initiationsritualen und die Fetischisierung der Technik, die zum Syndrom der Täter gehören. Adorno betont den Zusammenhang von Nationalismus und Genozid und vertritt die These, dass die Zivilisation selbst Barbarei hervorbringt: Ihr Anpassungsdruck erzeugt die Wut, die sich gegen die Schwachen richtet (Adorno 2013b, S. 90 ff.). „Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten […]“ (ebd., S. 95).
3.2 Antisemitismus und Ethnozentrismus
In Adornos pädagogischen Schriften haben die Ergebnisse der umfangreichen Studien Eingang gefunden, die das Institut für Sozialforschung zum Autoritarismus und Antisemitismus durchgeführt hat. Definiert man Autorität als „bejahte Abhängigkeit“ (Horkheimer 1988, S. 360), so kann sie als rational gelten, wenn sie, wie die Autorität guter Eltern, LehrerInnen oder ÄrztInnen, auf die Verselbstständigung der Abhängigen abzielt. Autoritarismus hingegen meint irrationale Autorität, die um ihrer selbst willen gesucht wird. Er ist charakterisiert durch ein „Denken nach den Dimensionen Macht – Ohnmacht, Starrheit und Reaktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde Selbstbesinnung, schließlich überhaupt mangelnde Fähigkeit zur Erfahrung“ (Adorno 2013a, S. 17). AntisemitInnen sind in der Regel unansprechbar und nur durch Macht beeindruckbar, weshalb es umso dringlicher ist, ihnen mit Entschiedenheit entgegenzutreten.
Für Adorno ist die Struktur von Antisemitismus und anderen Formen von Rassismus und Ethnozentrismus „vollkommen gleich“ (Adorno 1986, S. 373 f.). Damit beabsichtigt er keine historische Entdifferenzierung, sondern meint die psychischen Mechanismen, die im Rassismus wirksam sind. Es nützt wenig, die positiven Eigenschaften der Verfolgten oder ihren Nutzen ins Licht zu setzen, weil die Wurzeln der Verfolgung in den Verfolgern zu suchen sind, nicht in ihren Opfern (Adorno 2013b, S. 90).
Um die psychischen Mechanismen des Autoritarismus und die Wirkungsweise faschistischer Propaganda zu verstehen, greifen die Studies in Prejudice (1950) auf die psychoanalytische Sozialpsychologie zurück. Zentral sind darin die Begriffe „Charakter“ und „Unbewusstes“. Charakter ist „im Wesentlichen eine Organisation von Bedürfnissen“, d.h. von Trieben, Wünschen und emotionalen Impulsen (Adorno 1973, S. 7). Die Charakterkräfte sind Verhaltenspotenzial: „ob ein Potential offenen Ausdruck findet oder nicht, hängt nicht nur von der gegebenen Situation ab, sondern auch von Verhaltenspotentialen, die in Opposition zu jenen stehen“ (ebd., S. 6).
Der Begriff des Unbewussten ist in den empirischen Untersuchungen weniger klar. Es scheint sich nicht um ein dynamisch Unbewusstes zu handeln, das einen unerkannten und ungewollten Ausdruck im Symptom findet, sondern um ein Vorbewusstes, das nicht eingestanden wird und in der faschistischen Propaganda „befreit“ zum Ausdruck gebracht und manipuliert wird. Die Theorie enthält, wie schon bei Erich Fromm zu Beginn der 1930er Jahre (Fromm 1989), die Anweisung, die fraglichen Einstellungen nicht direkt abzufragen, sondern durch geprüfte Korrelationen indirekt zu ermitteln (Adorno 1977a, S. 725–730).
Adorno hat die Ansicht Freuds, Soziologie sei angewandte Psychologie, beharrlich abgewiesen. Vielmehr reichten die Wurzeln einer dem Faschismus geneigten Mentalität in die Struktur der Gesellschaft selbst hinab (Adorno 1977a, S. 731). Antisemitismus und Faschismus seien grundsätzlich politisch-ökonomische Phänomene. Objektive Faktoren, Institutionen und Entwicklungstendenzen haben in der Wirklichkeit wie in der Analyse Vorrang (ebd., S. 722). Die subjektive Vermittlung, durch die Gefolgschaft gesichert wird, dürfe nicht ignoriert werden, aber oft sei „die sozialpsychologische Erklärung sozialer Phänomene zu einem ideologischen Deckbild geworden: je mehr die Menschen von dem Gesamtsystem abhängig sind, je weniger sie darüber vermögen, desto mehr wird ihnen absichtlich und unabsichtlich eingebläut, es käme nur auf sie an“ (ebd., S. 722).
3.3 Wissenschaftsbegriff
Auf Basis seiner forschungspraktischen Erfahrungen entwickelt Adorno einen kritischen Wissenschaftsbegriff, der für Berufstätige, Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit in dem Maße interessant sein kann, als empirische Sozialforschung für sie wichtig geworden ist. Ausgangspunkt ist die Kritik der „Tatsache“. Als Tatsachen gelten die erhobenen Daten zu Einstellungen und Motiven von Befragten, etwa Präferenzen im Musikhören oder Meinungen zu politischen und sozialen Themen. Adorno besteht darauf, dass diese Daten, die als unmittelbar genommen werden, selbst vermittelt sind (Adorno 1972 b, S. 313 ff.).
Vermittlungsinstanzen sind gesellschaftliches Klima, Institutionen und soziale Formen, Alltagserfahrungen und -praktiken, Denkstile und objektive Bewusstseinsformen, die sich nur einer Theorie der Gesellschaft erschließen. „Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält“ (Adorno 1972b, S. 196). Sie wäre „Einsicht ins Wesen der modernen Gesellschaft“ (ebd., S. 198). Für Adorno befinden sich empirische Sozialforschung und Gesellschaftstheorie nicht in einem Kontinuum, sondern in einem Spannungsverhältnis, das nicht zuzukleistern, sondern fruchtbar zu machen ist (ebd., S. 198).
Für die Beziehung empirischer Daten auf theoretische Erwägungen gebraucht Adorno seit Beginn der dreißiger Jahre den Begriff der „Deutung“. Eine oberflächliche Rezeption dieses Begriffs hat dazu geführt, die Frankfurter Schule unter der Rubrik „Hermeneutik“ abzulegen. Fragwürdig ist nicht nur das klassifizierende Verfahren, sondern das Rubrum selbst. Es geht keineswegs um die Erschließung des subjektiv vermeinten Sinnes, sondern, verwandt der psychoanalytischen Deutung eines Symptoms durch Rekurs aufs Unbewusste, um die Beziehung des Materials auf vorgeordnete objektive Tendenzen in der gesellschaftlichen Organisation, etwa die Fortschritte der Naturbeherrschung, die Ausweitung des Verwaltungswesens oder das Ausgreifen der Gewinnerzielung, die in unserem Berufsfeld unter dem eher verdeckenden Begriff der Ökonomisierung verhandelt werden (Institut für Sozialforschung 1956, S. 110 ff.). Die „Deutung“ zielt auf die im Gegenstand sedimentierte oder objektivierte Geschichte. „Soziologie ist keine Geisteswissenschaft“ (ebd., S. 112).
Obwohl Adorno selbst frei von jeder fachspezifischen Borniertheit war, ist er kein Vertreter eines interdisziplinären Ansatzes. Sein Ansatzpunkt sind nicht die vorhandenen institutionell getrennten Fächer, sondern der „Vorrang des Objekts“ (Adorno 1992, S. 184 ff.). Statt Aspekte verselbstständigter Einzelwissenschaften an den Gegenstand heranzutragen, sollte die „immanente Wechselwirkung der von Ökonomie, Geschichte, Psychologie, Anthropologie relativ unabhängig voneinander bearbeiteten Elemente“ im Gegenstand selbst aufgewiesen werden. So könne „ein Stück geistiger Wiedergutmachung der Arbeitsteilung“ gelingen (Adorno 1972a, S. 340 f.).
3.4 Kulturindustrie
Der von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung erstmals benutzte Begriff der Kulturindustrie benennt das Ausgreifen kapitalistischer Produktionsweise auf die Kultur. „Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch“ (Adorno 1977b, S. 338). Der Warencharakter, vereinfacht ausgedrückt, die Verkäuflichkeit und Profitträchtigkeit, kommt bereits bei der Produktion selbst als der beherrschende Gesichtspunkt in Betracht.
Wie bereits beim Begriff der Halbbildung dargelegt, sind kulturindustriell keineswegs nur Darbietungen von der Art des European Song-Contest. Kulturindustrie ist ein geschlossenes System, in dem die verschiedenen Niveaus und Medien wie Film, Zeitschriften, Fernsehsendungen, Aufführungen, Internet ineinandergreifen. „Sie zwingt auch die jahrtausendelang getrennten Bereiche hoher und niederer Kunst zusammen. Zu ihrer beider Schaden. Die hohe wird durch die Spekulation auf den Effekt um ihren Ernst gebracht; die niedrige durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdig Widerstehende, das ihr innewohnte, solange die gesellschaftliche Kontrolle nicht total war“ (Adorno 1977b. S. 337).
Leitmedium der Kulturindustrie ist der Film. Seine Verfahrensweise ist nach Auffassung von Adorno Pseudorealismus, die scheinhafte „Verdoppelung der Realität“ (Adorno 2003, Aph. 93). Sie lähme Vorstellungskraft und Spontaneität, da die Produkte so angelegt sind, „daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 134 f.). Der „Freizeitler“ werde in eben die Reaktionsweisen eingeübt, die Fabrik und Büro ihm abverlangen.
Die kritische Einsicht in die Kulturindustrie verfolgt nicht das Ziel, Menschen, die wenig zu lachen haben, auch noch den Feierabend-Spaß zu verderben. Im Gegenteil: Nach Adornos Analyse verlängert sich der Arbeitsalltag in die Freizeit hinein, erzeugt Konformismus, Konsumzwang und den Druck „mitzukommen“ und dabei zu sein. Aufklärung über Kulturindustrie soll davon entlasten, nicht zuletzt von der aufdringlichen Normativität der Bilder: So musst Du sein. „Fun ist ein Stahlbad“ (Horkheimer und Adorno 1969, S. 149).
4 Wirkungsgeschichte
Adorno gehörte in den ersten zwei Jahrzehnten des Bestehens der Bundesrepublik zu den wichtigsten öffentlich wirksamen Intellektuellen. Es ist ihm jedoch kaum gelungen, seine SchülerInnen in den Institutionen der Philosophie und Soziologie zu verankern. Am nachhaltigsten dürfte sein Einfluss in den Erziehungswissenschaften gewesen sein. Adornos Denkstil und seine persönliche Wirkung sind zu unakademisch, als dass der Versuch, seine Positionen ungeschmälert zu vertreten und an ihnen weiterzuarbeiten, allzu erfolgversprechend gewesen wäre. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass Kritik, zumal wenn sie so radikal ist wie im Falle Adornos, trotz aller Lippenbekenntnisse, niemals besonders beliebt ist. Dennoch wirken die Impulse von Adornos Werk auch heute noch fort, nicht zuletzt in den englischsprachigen Ländern. Dies bezeugen nicht nur die ungemindert wachsende Zahl von (Hand-)Büchern und Kongressen, die sich mit Adorno und der Frankfurter Schule befassen, sondern auch die lebendigen Diskussionen und Zirkel, in denen die Theorie angeeignet und weitergetrieben wird. Zu denken ist dabei auch an die Zeitschrift für kritische Theorie, die seit 1994 im zu Klampen-Verlag herausgebracht wird.
5 Aktuelle Bedeutung
Wer Adornos Schriften studiert, wird ihn unschwer als Zeitgenossen kennenlernen. Der Grund ist an den vier genannten Schwerpunkten leicht nachzuvollziehen. Weder haben sich die Gegenstände seiner Untersuchungen grundlegend geändert, noch sind die theoretischen Probleme, mit denen Adorno beschäftigt war, obsolet geworden. Gewiss hat sich die moderne kapitalistische Gesellschaft weiterentwickelt, wodurch rückwirkend bestimmte Theoreme wie das von der wachsenden Obsoleszenz des Marktes in Frage gestellt sind. Dennoch wird die Hauptthese der kritischen Sozialtheorie: die einer Verdichtung des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs im Zeichen der Warenproduktion (d.h. der Produktion von Tauschwert und Profit) unter unseren Augen fort und fort bestätigt. Gerade die Angehörigen helfender Berufe haben Anlass, über die Ökonomisierung und Bürokratisierung sowie die Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse in ihrem Bereich nachzudenken.
6 Kritik
Die gegen Adorno formulierten Einwände und Vorwürfe sind so vielfältig wie seine Schriften und Aktivitäten. Auf eine Diskussion einzelner Aspekte kann hier nicht eingegangen werden. Nur der Vorwurf, radikale Kritik sei unfähig, konkrete praktische Vorschläge zu machen, verdient im Zusammenhang Sozialer Arbeit eine Entgegnung. Dass er nicht trifft, zeigen die Beiträge aus Erziehung zur Mündigkeit und der Beitrag Zur Bekämpfung des Antisemitismus sowie der im Juli 2019 publizierte Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, den Adorno am 6. April 1967 vor Wiener StudentInnen gehalten hat (Adorno 2019).
7 Quellenangaben
Adorno, Theodor W., u.a., 1969. Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied: Luchterhand
Adorno, Theodor W., 1971. Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-06511-2
Adorno, Theodor W., 1972a. Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie«. In: Theodor W. Adorno. Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 280-353
Adorno, Theodor W., 1972b. Theorie der Halbbildung.In: Theodor W. Adorno. Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften Bd. 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 93-121
Adorno, Theodor W., 1973. Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (engl. In: Soziologische Schriften II, Gesammelte Schriften Bd. 9.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 143–509) ISBN 978-3-518-06607-2
Adorno, Theodor W., 1977a. Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika. In: Theodor W. Adorno. Kultur und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften Bd. 10.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 702–740. ISBN 978-3-518-29310-2
Adorno, Theodor W., 1977b. Résumé über Kulturindustrie. In: Theodor W. Adorno. Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften Bd. 10.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 337–345. ISBN 978-3-518-29310-2
Adorno, Theodor W., 1986. Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften Bd. 20.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 360–383. ISBN 978-3-518-57809-4
Adorno, Theodor W., 1992. Negative Dialektik. In: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften Bd. 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7. ISBN 978-3-518-29306-5
Adorno, Theodor W., 2003. Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften Bd. 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-29304-1
Adorno, Theodor W., 2013a. Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündigkeit. 24. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 10–28. ISBN 978-3-518-36511-3
Adorno, Theodor W., 2013b. Erziehung nach Auschwitz. In: Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündigkeit. 24. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 88–104. ISBN 978-3-518-36511-3
Adorno, Theodor W., 2019. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus: Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Volker Weiß. Berlin: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-58737-9
Fromm, Erich, 1989. Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. In: Erich Fromm. Gesamtausgabe Bd. III. Empirische Untersuchungen zum Gesellschafts-Charakter. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 1–224. ISBN 978-3-423-59003-7
Horkheimer, Max, 1988. Autorität und Familie. In: Max Horkheimer. Gesammelte Schriften Bd. 3. Frankfurt am Main: Fischer, S. 336–417. ISBN 978-3-596-27377-5
Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno, 1969. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer
Institut für Sozialforschung, 1956. Soziologische Exkurse. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt
Kant, Immanuel, 2002. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Erhard Bahr, Hrsg. Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam. ISBN 978-3-15-009714-4
Müller-Doohm, Stefan, 2011. Adorno: Eine Biographie. Berlin: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-58548-1
8 Literaturhinweise
Adorno, Theodor W., u.a., 1969. Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied/Berlin: Luchterhand
Best, Beverley, Werner Bonefeld und Chris O’Kane, Hrsg., 2018. The SAGE Handbook of Frankfurt School Critical Theory. London: SAGE Publications Ltd. ISBN 978-1-4739-5334-5
Heyl, Matthias und Klaus Ahlheim, Hrsg., 2011. Adorno revisited: Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute. Hannover: Offizin. ISBN 978-3-930345-89-2 [Rezension bei socialnet]
Demirovic, Alex, 1999. Der nonkonformistische Intellektuelle: Die Entwicklung der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-29040-8
Schiller, Hans-Ernst, 2017. Freud-Kritik von links: Bloch, Fromm, Adorno, Horkheimer, Marcuse. Springe: zu Klampen. ISBN 978-3-86674-562-9
Schweppenhäuser, Gerhard, 2017. Theodor W. Adorno zur Einführung. 7. Auflage. Hamburg: Junius. ISBN 978-3-88506-671-2
Ruschig, Ulrich und Hans-Ernst Schiller, Hrsg., 2014. Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-1426-1 [Rezension bei socialnet]
Zeitschrift für kritische Theorie. Hrsg. von G. Schweppenhäuser und S. Kramer. Lüneburg: zu Klampen. 1994 ff
9 Informationen im Internet
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