Adult Attachment Interview
Dr. phil. Janet Langer
veröffentlicht am 26.11.2020
Das Adult Attachment Interview (AAI), entwickelt von Carol George, Nancy Kaplan und Mary Main (1996), ist ein in der Bindungsdiagnostik eingesetztes Interviewverfahren zur Erhebung von Bindungserfahrungen von Erwachsenen und Jugendlichen. Ausgehend von Kindheitserinnerungen wird auf das Bindungsmuster zu den primären Bindungspersonen geschlossen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Aufbau und Durchführung
- 3 Auswertung
- 4 Gütekriterien
- 5 Bewertung
- 6 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Das Adult Attachment Interview ist ein Verfahren zur Erhebung der Bindungserfahrungen mit primären Bezugspersonen wie den Eltern. Auf der Grundlage der Erzählung kann die Bindungsklassifikation im Erwachsenenalter festgestellt werden. Das Interview basiert auf 20 Fragen und wird sowohl in der Forschung als auch der Therapie bzw. in Interventionen eingesetzt. Das Verfahren kann von geschulten Personen durchgeführt und ausgewertet werden. Die Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität sind gegeben.
2 Aufbau und Durchführung
Das AAI ist wie das Adult Attachment Projective (AAP) ein halbstandardisiertes, projektives Interviewverfahren und erfasst den „mentale[n] Verarbeitungszustand von Bindungserfahrungen“ (Gloger-Tippelt 2012, S. 95). Anders als das AAP liegt der Schwerpunkt der Fragen auf den primären Bindungserfahrungen z.B. mit den Eltern. Lediglich am Ende des klinischen Interviews werden ggf. Fragen zur Beziehung zu den eigenen Kindern gestellt. Das Interview besteht aus 20 Fragen. Nach einer Aufwärmfrage wird die interviewte Person um eine Beschreibung der primären Bindungsbeziehungen anhand von Adjektiven und konkreten Erlebnissen gebeten. Des Weiteren werden Fragen zu bindungsrelevanten Situationen gestellt und wie primäre Bindungspersonen in diesen Situationen reagiert haben. Zum Ende des Interviews wird erfragt, inwieweit diese Kindheitserinnerungen die Entwicklung bzw. die eigene Persönlichkeit beeinflusst haben. Erst im Anschluss daran wird nach belastenden Erlebnissen wie Verlust oder Misshandlung gefragt und es findet eine Einordnung aktueller Beziehungen zu den primären Bindungspersonen statt (Gloger-Tippelt 2012, S. 94). Gloger-Tippelt (2012) weist zudem darauf hin, dass das AAI im Rahmen einer umfangreichen psychologischen Diagnostik immer zuerst und vor der Erhebung traumatischer Erfahrung stattfinden solle, da nur so möglicherweise unbewusste Erfahrungen in Hinblick auf ihren Verarbeitungszustand valide erfasst werden können. Eine vollständige Übersicht über die Fragen des AAI sowie eine detaillierte Beschreibung der Durchführung findet sich in George, Kaplan und Main (2012) und Gloger-Tippelt (2012). Die durchschnittliche Durchführungszeit wird zwischen 45 und 120 Minuten angegeben. Das Diagnostikverfahren kann im Rahmen einer Therapie oder auch zur Beurteilung der Erziehungsfähigkeit von Erwachsenen eingesetzt werden.
3 Auswertung
Die Auswertung des AAI erfolgt anhand eines wortwörtlichen Transkripts, das para- oder nonverbale Aspekte außen vor lässt (Gloger-Tippelt 2012, S. 94). Eine Übersicht über die Transkriptionsrichtlinien findet sich in Gloger-Tippelt (2012, S. 101–102). Das ursprüngliche Kodierungs- und Klassifikationsschema zur Auswertung geht auf Main et al. (2003) zurück. Die Auswertung erfolgt in drei Schritten. Im ersten Schritt werden der Inhalt, d.h. die berichteten Erfahrungen zum Fürsorgeverhalten der Mutter und des Vaters auf vier 9-stufigen Skalen eingeschätzt.
In einem zweiten Schritt wird hingegen die Form, d.h. die sprachliche Darstellung und der Verarbeitungszustand der Erfahrungen bewertet. Ein besonderer Fokus liegt hier auf der Beschreibung der primären Bindungsbeziehung anhand der Adjektive und den untermalenden Erzählungen. Anhand dieser Beschreibungen lässt sich die Kohärenz bzw. Inkohärenz der Narration erfassen. Diese ist ein Indikator für den Verarbeitungszustand der Erlebnisse (Gloger-Tippelt 2012, S. 94). Einen besonderen Stellenwert nehmen weiterhin die traumatischen Kindheitserlebnisse ein, die in Hinblick auf den Verarbeitungszustand als gelöst vs. unverarbeitet kodiert werden.
Auf Grundlage der ersten beiden Auswertungsschritte wird in einem dritten Schritt eine übergeordnete Bindungsklassifikation vergeben (Gloger-Tippelt 2012, S. 104–105). Identisch zum AAP werden die drei organisierten Bindungsmuster im Erwachsenenalter vergeben: sicher-autonom (F), unsicher-distanziert (Ds), unsicher-präokkupiert (E). Die Zuordnung zu den Mustern erfolgt anhand der Bindungsstrategien, die sich in eine flexible Strategie, Deaktivierung- oder Minimierungsstrategie oder Maximierungsstrategie unterscheiden. Sicher gebundene Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie im AAI über positive wie auch negative Erfahrungen köhärent berichten können. Unsicher-distanziert gebundene Erwachsene bewerten in der Erzählung positive Bindungserfahrungen als weniger bedeutsam und spielen negative Erfahrungen herunter. Personen mit einer unsicher-präokkupierten Bindung zeigen beim Bericht über negative Kindheitserfahrungen weiterhin Ärger oder sehen sich den Erfahrungen hilflos ausgesetzt. Darüber hinaus kann der unverarbeitete Bindungsstatus vergeben werden. Berichte von Erwachsenen mit einem unverarbeiteten Trauma zeichnen sich durch vielfältige Verstöße gegen die internale Kohärenz der Narration aus, z.B. durch inhaltliche Widersprüche. Beim Auftreten distanzierter und präokkupierter Bindungsstrategien im Interview ist zudem die Kodierung „nicht klassifizierbar“ möglich (Gloger-Tippelt 2012, S. 105–107). Zusätzlich können weitere zwölf Subklassifikationen vergeben werden (Hofmann 2012). Mittlerweile stehen weitere Auswertungsverfahren des AAI zur Verfügung wie beispielsweise die Self Reflective Scale von Fonagy et al. (1995).
4 Gütekriterien
In Tabelle 1 wird ein Überblick über die Gütekriterien des Interviewverfahrens gegeben. Für eine objektive Datenerhebung ist das Setting der Erhebung genau definiert. Ein intensives Training der Interviewer*innen ist Voraussetzung für eine objektive Erhebung (Gloger-Tippelt 2012). Eine ausreichende Inter-Rater-Reliabilität kann nach einem intensiven Auswertungstraining erreicht werden (Hofmann 2001). Die Stabilität des Testergebnisses nach wiederholter Testung lag für die drei organisierten Bindungsmuster zwischen 77 und 90 Prozent (z.B. Bakermans-Kranenburg und IJzendoorn 1993; Sagi et al. 1994). Die konvergente Validität lässt sich anhand von Messverfahren belegen, die ebenfalls die mentale Repräsentation von Bindung im Erwachsenenalter erfassen. Studien überprüften daher u.a. einen Zusammenhang zwischen dem AAP und dem AAI. Während Buchheim et al. (2003) und George und West (2012) eine Übereinstimmung in den Bindungsmaßen zwischen 90 und 97 Prozent ermitteln konnten, ließ sich die konvergente Validität in der Untersuchung von Jones-Mason et al. (2015) nicht nachweisen, was in dieser Studie auf inhaltliche und methodische Unterschiede der beiden Messinstrumente zurückgeführt wird. Ein Überblick zur Gültigkeit im Vergleich mit anderen Erhebungsverfahren wie Fragebogen zu eigenen Bindungserfahrungen (z.B. Manassis et al. 1999) findet sich in Hofmann (2012). Allerdings ist hier die Übereinstimmung nur eingeschränkt gegeben, da Fragebögen den unverarbeiteten oder nicht klassifizierbaren Bindungsstatus nicht erfassen können (Höger 2002). Daher wird in diesem Rahmen auf die Darstellung der Ergebnisse verzichtet.
Mehrere Studien haben zudem die Unterschiede zu Gedächtnisleistungen (Bakermans-Kranenburg und IJzendoorn 1993; Sagi et al. 1994), sowie der verbalen und nonverbalen Intelligenz untersucht. In Hinblick auf letzteren Aspekt ist die Studienlage bisher nicht eindeutig (für einen Überblick Hofmann 2012), weshalb empfohlen wird, die Intelligenz in Studien mit dem AAI mit zu erfassen (Crowell et al. 1996). Die soziale Erwünschtheit und relevante soziodemografische Daten haben hingegen keinen Einfluss auf das Ergebnis im AAI (Bakermans-Kranenburg und IJzendoorn 1993; Crowell et al. 1996; Sagi et al. 1994).
Besonders hervorzuheben ist die nachgewiesene prädikative Validität des AAI in Bezug auf das Bindungsmuster des Kindes. In Bezug auf das Bindungsverhalten des Kindes wies IJzendoorn (1995) anhand einer Metaanalyse nach, dass ein Zusammenhang zwischen der Bindungsklassifikation der Bindungsperson im AAI und dem Bindungsmuster des Kindes besteht. Dies gilt auch für Kinder mittleren Alters (George und Solomon 1996).
5 Bewertung
Das AAI gilt bisher als einziges valides Erhebungsinstrument von Bindungsrepräsentationen im Erwachsenenalter mit dem sich das Bindungsverhalten des Kindes vorhersagen lässt (Hofmann 2012, S. 140). Es kann jedoch nicht nur als Erhebungsinstrument, sondern auch für bindungsgeleitete Interventionen eingesetzt werden. Die Durchführung allein kann bei der interviewten Person therapeutische Effekte erzielen. Ebenso können aus dem AAI Ansatzpunkte für die Weiterarbeit an den eigenen Bindungserfahrungen ermittelt werden (König 2012, S. 381). Aufgrund der Tiefe der Nachfragen nach z.T. belastenden Erlebnissen, sollte die das Interview durchführende Person Kontakte zu Beratungsstellen oder Therapien bereithalten und ggf. vermitteln. Für die Durchführung und Auswertung ist ein Trainingsseminar zwingende Voraussetzung (Gloger-Tippelt 2012, S. 93).
6 Quellenangaben
Bakermans-Kranenburg, Marian J. und Marinus H. van IJzendoorn, 1993. A Psychometric Study of the Adult Attachment Interview: Reliability and Discriminant Validity. In: Developmental Psychology. 29(5), S. 870–879. ISSN 0012-1649
Buchheim, Anna, Carol George und Malcom West, 2003. Das Adult Attachment Projective (AAP) – Gütekriterien und neue Forschungsergebnisse [online]. In: Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie. 53(9–10), S. 419–427 [Zugriff am: 21.02.2019]. ISSN 0937-2032. Verfügbar unter: doi:10.1055/s-2003-42170
Crowell, Judith A., Everett Waters, Dominique Treboux, Elizabeth O'Connor, Christina Colon-Downs, Olga Feider, Barbara Golby und German Posada, 1996. Discriminant Validity of the Adult Attachment Interview [online]. In: Child Development. 67(5), S. 2584–2599 [Zugriff am: 25.11.2020]. ISSN 1467-8624. Verfügbar unter: doi:10.1111/j.1467-8624.1996.tb01876.x
Fonagy, Peter, Miriam Steele, Howard Steele, Tom Leigh, Roger Kennedy, Gretta Mattoon und Mary Target, 1995. Attachment, the reflective self, and borderline states: The predictive specificity of the Adult Attachment Interview and pathological emotional development. In: Susan Goldberg, Roy Muir und John Kerr, Hrsg. Attachment theory: Social, developmental, and clinical perspectives. Hillsdale, N.J.: Analytic Press, S. 233–278. ISBN 978-0-88163-184-5
George, Carol und Judith Solomon, 1996. Representational models of relationships: Links between caregiving and attachment. In: Infant Mental Health Journal. 17(3), S. 198–216. ISSN 0163-9641
George, Carol und Malcolm L. West, 2012. The Adult Attachment Projective Picture System: Attachment Theory and Assessment in Adults. New York: Guilford Press. ISBN 978-1-4625-0425-1
George, Carol, Nancy Kaplan und Mary Main, 1996. Adult Attachment Interview. 3. Auflage. Berkley: University of California
George, Carol, Nancy Kaplan und Mary Main, 2012. Adult Attachment Interview. In: Gabriele Gloger-Tippelt, Hrsg. Bindung im Erwachsenenalter: Ein Handbuch für Forschung und Praxis. 2., überarb. und erg. Auflage. Bern: Huber, S. 419–439. ISBN 978-3-456-84879-2 [Rezension bei socialnet]
Gloger-Tippelt, Gabriele, 2012. Das Adult Attachment Interview: Durchführung und Auswertung. In: Gabriele Gloger-Tippelt, Hrsg. Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis. 2., überarb. und erg. Auflage. Bern: Huber, S. 93–112. ISBN 978-3-456-84879-2 [Rezension bei socialnet]
Hofmann, Volker, 2001. Psychometrische Qualitäten des Adult Attachment Interviews. In: Gabriele Gloger-Tippelt, Hrsg. Bindung im Erwachsenenalter: Ein Handbuch für Forschung und Praxis. Bern: Huber, S. 121–153. ISBN 978-3-456-83414-6
Hofmann, Volker, 2012. Psychometrische Qualitäten des Adult Attachment Interview – Stand der Forschung. In: Gabriele Gloger-Tippelt, Hg. Bindung im Erwachsenenalter: Ein Handbuch für Forschung und Praxis. 2., überarb. und erg. Auflage. Bern: Huber, S. 113–149. ISBN 978-3-456-84879-2 [Rezension bei socialnet]
Höger, Diether, 2002. Fragebögen zur Erfassung von Bindungsstilen. In: Bernhard Strauss, Anna Buchheim und Horst Kächele, Hrsg. Klinische Bindungsforschung: Theorien – Methoden – Ergebnisse. Stuttgart: Schattauer, S. 94–117. ISBN 978-3-7945-2158-6
IJzendoorn, Marinus H. van, 1995. Adult attachment reprasentations, parental responsiveness, and infant attachment, a meta-analysis on the predictive vadility of the Adult Attachment Interview. In: Psychological Bulletin. 117, S. 387–403. ISSN 0033-2909
Jones-Mason, Karen, I. Elaine Allen, Steve Hamilton und Sandra J. Weiss, 2015. Comparative validity of the Adult Attachment Interview and the Adult Attachment Projective. In: Attachment & Human Development [online]. 17(5), S. 429–447 [Zugriff am: 25.11.2020]. Verfügbar unter: doi:10.1080/14616734.2015.1075562
König, Lilith, 2012. Anwendungen des Audlt Attachment Interviews (AAI) in der psychologischen Beratung und psychotherapeutischen Praxis. In: Gabriele Gloger-Tippelt, Hrsg. Bindung im Erwachsenenalter: Ein Handbuch für Forschung und Praxis. 2., überarb. und erg. Auflage. Bern: Huber, S. 381–398. ISBN 978-3-456-84879-2 [Rezension bei socialnet]
Main, Mary, Ruth Goldwyn und Erik Hesse, 2003. Adult Attachment scoring and classification system. Version 7.2. Unpublished manuscript. Berkeley: University of California
Manassis, Katharina, Mary Owens, Kenneth S. Adam, Malcolm West und Adrienne E. Sheldon-Keller, 1999. Assessing attachment: convergent validity of the adult attachment interview and the parental bonding instrument. In: Australian & New Zealand Journal of Psychiatry. 33(4), S. 559–567. ISSN 0004-8674
Sagi, Abraham, Marinus H. van IJzendoorn, Miri Scharf, Nina Koren-Karie, Tirtsa Joels und Ofra Mayseless, 1994. Stability and discriminant validity of the Adult Attachment Interview: A psychometric study in young Israeli adults. Developmental Psychology [online]. 30(5), S. 771–777 [Zugriff am: 25.11-2020]. ISSN 1939-0599. Verfügbar unter: doi:10.1037/0012-1649.30.5.771
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