Ästhetische Erfahrung
Prof. Dr. phil. habil. Sabine Grosser
veröffentlicht am 23.04.2020
Ästhetische Erfahrungen gründen in der Sinnlichkeit unserer Wahrnehmungen und lassen sich sowohl rezeptiv als auch produktiv erleben, d.h. sowohl in der Wahrnehmung ästhetischer Objekte und Phänomene als auch in der eigenen ästhetischen Praxis, sei es bildnerisch, sprachlich, musikalisch, darstellerisch, medial aber auch in alltäglichen Zusammenhängen, z.B. bei Naturerlebnissen. Demnach sind ästhetische Erfahrungen nicht an Kunst- oder Medienerfahrungen gekoppelt, sondern beschreiben eine Qualität eines Bildungsprozesses. Ästhetische Erfahrungen prägen – nach unserem heutigen Verständnis – zentrale Momente ästhetischer Bildung und ästhetischen Lernens.
„Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren“ (Otto 1994, S. 56). Das heißt, ästhetische Erfahrungen sind nicht nur in Zusammenhang mit Kunst- oder Medienerfahrungen möglich, sondern müssen vielmehr als ein Bildungsprozess verstanden werden. Das Ästhetische wird dabei nicht als eine eigene gegenstandsbezogene Qualität verstanden, sondern konstituiert sich in der Art und Weise eines Prozesses, sei es einer Sehweise, eines Erlebens, einer Zugriffsform o.a.
Bereits der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey bezieht die Möglichkeit zu ästhetischer Erfahrung nicht ausschließlich auf Kunsterfahrung. Ästhetische Erfahrungen sind auch im Alltag möglich, wenn ein Interesse geweckt wird (Dewey 1980 [1934], S. 11). Ästhetische Erfahrung konstituiert sich in Beziehung des Menschen zur Welt unter Aktivierung und Einsatz aller menschlichen Sinne. Nach Dewey ist menschliche Wahrnehmung und menschliche Erfahrung nicht nutzlos, sondern interessengeleitet (Dewey 1980 [1934], S. 11).
Ästhetischen Erfahrungen kommt ein Wert an sich zu. Allerdings geht der Kunstpädagoge Gert Selle davon aus, dass sie in Verbindung mit unserem Wahrnehmungsverhalten ausgebildet werden. Selle begreift die Fähigkeit zu ästhetischen Erfahrungen und Empfindungen als menschliche „Grundausstattung“, die allerdings das ganze Leben geschult werden muss: „Nur muß zum Empfinden die Wahrnehmung, zu beiden verbundenen Tätigkeiten das Gestalten treten, das ein Empfundenes und Wahrgenommenes auf besondere Weise weiterverarbeitet. Dies ist eine ‚Methode‘, ein von allen begehbarer Weg, ästhetische Erfahrung zu gewinnen“ (Selle 1988, S. 30). In diesem Sinne sind Gestalten oder ästhetische Praxis als „prozessual verstandenes Dingfestmachen von Erfahrungen“ anzusehen, die allerdings im Sinne eines Bildungsanspruchs von Reflexionen begleitet sein sollten (Peetz 2008, S. 68). „Die ästhetische Praxis sollte auf die sinnlichen Anteile der Wahrnehmungen und Empfindungen gerichtet sein: Es geht um Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Auslegen und Deuten. Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusst werden, wenn wir sie mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch. Dieses ‚Sinnbewusstsein‘ muss nicht auf den Begriff gebracht werden (Sievert-Staudte 1998, S. 25), es sollte aber reflexiv bewusst sein. Diese notwendige Reflexivität und insbesondere Selbstreflexivität darf nicht verwechselt werden mit einem Dualismus von sinnlicher und logischer Erkenntnis, von intuitiven und rationalen Erkenntnisprozessen […]“ (Grosser 2008, S. 29).
Als Strukturmomente ästhetischer Erfahrungen, die sie vom Gewohnten unterscheiden und als etwas Widerständiges und Unerwartetes erfahrbar machen, charakterisiert Ludwig Duncker z.B. die Überraschung (Duncker 1999, S. 11) oder das Staunen und den Genuss (Duncker 1999, S. 15). Nach Duncker vermitteln sich ästhetische Erfahrungen vornehmlich durch ästhetische Ausdrucksformen, die ihrerseits kulturell geprägt und in soziale Kontexte eingebettet sind. Demnach erscheint für Duncker eine Verwobenheit von Kulturaneignung und Kulturproduktion kennzeichnend für ästhetische Erfahrungen (Duncker 1999, S. 16 f.).
Quellenangaben
Dewey, John, 1980 [1934]. Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M., Suhrkamp. ISBN 978-3-518-06412-2
Duncker, Ludwig, 1999. Begriff und Struktur ästhetischer Erfahrung. In: Norbert Neuß, Hrsg. Ästhetik der Kinder. Frankfurt a. M.: GEP Verlag, S. 9–19. ISBN 978-3-932194-31-3
Grosser, Sabine, 2008. Bildwelten – Ästhetisches Lernen im Kontext kultureller Globalisierung. In: Claudia Vorst, Sabine Grosser und Juliane Eckhardt und Rita Burrichter, Hrsg. Ästhetisches Lernen. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, S. 27–44. ISBN 978-3-631-55714-3
Otto, Gunter, 1994. Das Ästhetische ist „Das Andere der Vernunft“: Der Lernbereich Ästhetische Erziehung. In: Friedrich Jahresheft. XII/1994, S. 56–58. ISSN 0176-2966
Peetz, Georg, 2008. Einführung in die Kunstpädagogik. Stuttgart, Kohlhammer. ISBN 978-3-17-020422-5
Selle, Gert, 1988. Gebrauch der Sinne: Eine kunstpädagogische Praxis. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. ISBN 978-3-499-55467-4
Sievert-Staudte, Adelheid, 1998. Ästhetisches Lernen. In: Dieter Haarmann, Hrsg. Wörterbuch Neue Schule: Die wichtigsten Begriffe der Reformdiskussion. Weinheim, Beltz, S. 22–27. ISBN 978-3-407-25198-5
Literaturhinweise
Brandstetter, Ursula, 2012. Ästhetische Erfahrung. In: Hildegard Bockhorst, Vanessa Reinwand und Wolfgang Zacharias, Hrsg. Handbuch Kulturelle Bildung. München: Kopaed, S. 174–180. ISBN 978-3-86736-330-3 [Rezension bei socialnet]
Bubner, Rüdiger, 1989. Ästhetische Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-11564-0
Grosser, Sabine, Katharina Köller und Claudia Vorst, Hrsg. 2017. Ästhetische Erfahrungen: Theoretische Konzepte und empirische Befunde zur kulturellen Bildung. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag. ISBN 978-3-631-67329-4 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. phil. habil. Sabine Grosser
Fachhochschule Kiel, Professur für Ästhetische Bildung
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Zitiervorschlag
Grosser, Sabine,
2020.
Ästhetische Erfahrung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 23.04.2020 [Zugriff am: 28.11.2023].
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