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Ästhetische Erziehung

PD Dr. Sebastian Bernhardt

veröffentlicht am 02.02.2023

Etymologie: gr. aisthesis sinnliche Wahrnehmung

Englisch: aesthetic education

Ästhetische Erziehung bezeichnet intentional von außen gesteuerte Prozesse, die die Fähigkeit zur Teilhabe an ästhetischen Erfahrungen hervorbringen sollen. Dadurch sollen Erfahrungen im Umgang mit Kunst ermöglicht und allgemein die ästhetische Wahrnehmung geschärft werden.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung
    1. 2.1 Probleme der Begriffsbestimmung
    2. 2.2 Abgrenzung ästhetische Wahrnehmung, ästhetische Bildung und ästhetische Erziehung
    3. 2.3 Paradoxien (ästhetischer) Erziehung: Erziehung zur Kunst oder Erziehung durch Kunst
  3. 3 Quellenangaben
  4. 4 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Der Begriff ästhetische Erziehung bezeichnet intentional von außen gesteuerte Prozesse, die eine Fähigkeit zur Teilhabe an ästhetischen Erfahrungen hervorbringen sollen. Ziel ist, Erfahrungen im Umgang mit Kunst zu ermöglichen und allgemein die ästhetische Wahrnehmung (z.B. durch Bewegungstraining und Koordination) zu fördern. Allerdings wird der Terminus aktuell kaum noch verwendet und darüber hinaus oftmals mit dem Begriff der ästhetischen Bildung vermengt. Die beiden Begriffe bilden zwei Seiten desselben Prozesses ab: Ästhetische Erziehung stellt die Arrangements dar, die durch Erzieher:innen, Lehrer:innen oder weitere Vermittlungsinstanzen angeboten werden, ästhetische Bildung stellt hingegen die selbsttätige Auseinandersetzung von Individuen mit diesen Angeboten dar (Dietrich 2009, S. 46).

2 Ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung

2.1 Probleme der Begriffsbestimmung

Die Unschärfe zwischen ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung wird schon dadurch deutlich, dass sich geschichtliche Abrisse zu ästhetischer Bildung und ästhetischer Erziehung gleichermaßen an Schillers „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ abarbeiten (etwa Mollenhauer 1996, S. 13; Dietrich 2013). Die von Dietrich ebenso wie von Weiß konstatierte Inkonsistenz der Begriffsverwendung (Dietrich 2013; Weiß 2013, S. 114 f.) geht auf eine allgemeine Unschärfe in Bezug auf die Unterscheidung von Bildung und Erziehung zurück (dazu Mollenhauer 1996, S. 13). Die terminologische Differenzierung von Erziehung und Bildung ist im internationalen Diskurs unerheblich, weil beispielsweise im Englischen keine Unterscheidung von Bildung und Erziehung (education) vorhanden ist (etwa Bamford 2009). Daraus ergeben sich zudem teilweise Übersetzungsprobleme, wenn es darum geht, das Konzept „education“ in den deutschen Diskurs zu implementieren.

2.2 Abgrenzung ästhetische Wahrnehmung, ästhetische Bildung und ästhetische Erziehung

Im deutschsprachigen Diskurs ist allerdings wichtig, nicht nur den Bildungsgehalt zu fokussieren, sondern auch die Erziehungsanteile: Weiß hebt nämlich hervor, dass der Begriff der ästhetischen Bildung das Problem der mangelnden terminologischen Differenzierung zwischen ohnehin sich vollziehender ästhetischer Wahrnehmung und den bildenden Vorgängen in sich trage (Weiß 2013, S. 114). Diese mangelnde Trennschärfe individueller ereignishafter Erfahrungen und der Bildungsvorgänge lässt sich durch die Betrachtung der Erziehungsanteile überwinden: Dietrich führt aus, die Grundkomponenten, die im Zuge ästhetischer Bildung (Fingerfertigkeiten, Alphabetisierung, Selbstaufmerksamkeit und Sprache) zusammenwirken (Dietrich 2009, S. 46), seien zugleich auch Grundkomponenten ästhetischer Erziehung (ebd.). Es handele sich um zwei untrennbare Dimensionen:

„Die Erziehungsdimension hat jeweils die von der Kultur der Erwachsenen – mehr oder minder bewusst ausgewählten –, jedenfalls zuhandenen Angebote, Aufgaben und Präsentationsformen zum Inhalt, die Bildungsdimension hingegen macht sich die selbsttätige Aneignung der Angebote sowie die Auswahl und je spezifische Zusammenfügung der Teilgebiete zum Thema“ (a.a.O., S. 46).

Aus Dietrichs Ausführungen geht hervor, dass sich ästhetische Erziehung und ästhetische Bildung dahingehend unterscheiden, dass die Erziehung stärker von der Seite der Vermittlungsinstanz gedacht wird, die Bildung stärker von der Seite des aneignenden Individuums. Auch wenn der Begriff der ästhetischen Erziehung aktuell selten verwendet wird, ist zu bedenken, dass ästhetischer Bildung immer auch erzieherische Prozesse zugrunde liegen. Weiß betont, dass der Begriff der ästhetischen Erziehung insofern wichtig sei, als dadurch weiter reflektiert werde, dass pädagogischen Prozessen zur Ermöglichung sinnlicher Erfahrungen eine „Angewiesenheit auf andere“ (Weiß 2013, S. 114) eingeschrieben sei. Der Begriff der ästhetischen Erziehung fokussiere also die Tatsache, dass es sich um einen von außen arrangierten Vorgang handele (ebd.). Dietrich problematisiert genau diese Konstellation und mahnt an, die Künste nicht zu pädagogisieren (Dietrich 2013), um sie damit nicht zu instrumentalisieren und sich selbst zu entfremden. Wenn eine Erziehung im engen Sinne erfolge, bestünde die Gefahr, die ästhetische Erfahrung zu entindividualisieren, den Vermittlungsprozess zu moralisieren und damit den Erfahrungscharakter zu verstellen.

2.3 Paradoxien (ästhetischer) Erziehung: Erziehung zur Kunst oder Erziehung durch Kunst

Darüber hinaus weisen Dietrich, Krinninger und Schubert darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit ästhetischer Erziehung einen möglichst weiten Erziehungsbegriff voraussetze, während sich im aktuellen Erziehungsdiskurs eine Engführung abzeichne (Dietrich et al. 2012, S. 22). Ihnen zufolge müsse Erziehung ganz allgemein als Vorgang der generationellen Weitergabe von Wissen, Haltungen und Normen gefasst werden und nicht zu stark als eine gesteuerte Unterweisung (a.a.O., S. 23 f.). Weiß spricht allgemein von einer paradoxalen Verfasstheit des modernen Erziehungsgedankens, der nämlich einerseits einen Eingriff in die Entwicklung des Individuums darstelle und gleichzeitig dieses Individuum zur Selbstbestimmung bringen wolle. Demzufolge seien die Adressat:innen von Erziehungshandlungen zugleich als frei und abhängig zu denken. Diese Besonderheit ästhetischer Erziehung, die nicht zu stark vorgebend operieren darf, um ästhetische Erfahrungen nicht zu verstellen, trägt dieses Paradox besonders deutlich in sich und führt zu einer weiteren konzeptionellen Annäherung der Termini ästhetische Bildung und ästhetische Erfahrung.

Bamford plädiert beispielsweise dafür, die education in the arts (Erziehung zur Kunst) auf die Erweiterung hin zur education through arts (Erziehung durch Kunst) (Bramford 2009, S. 59; zur Übersetzung Dietrich 2013). Es soll also einerseits darum gehen, künstlerische Prozesse zu unterrichten und selbst vollziehen zu lassen und andererseits durch die Rezeption ästhetischer Gegenstände eine Erziehung herbeizuführen. Dabei sieht Dietrich eine Spannung zwischen dem Anspruch der Erziehung, das Bestehende weiterzugeben und systemstabilisierend zu wirken, und der ästhetischen Erfahrung, die individuell-sinnlich sei (Dietrich 2013). 

3 Quellenangaben

Bamford, Anne, 2009. Education in and through the arts: The challenge of arts education in schools. Bilden und Erziehen durch und in den Künsten: Eine Herausforderung für Schulen. In: Kristin Westphal und Wolf-Andreas Liebert, Hrsg. Gegenwärtigkeit und Fremdheit: Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. Weinheim: Juventa, S. 55–67. ISBN 978-3-7799-2280-3

Dietrich, Cornelie, 2009. Ästhetische Bildung zwischen Markt und Mythos. In: Kristin Westphal und Wolf-Andreas Liebert, Hrsg. Gegenwärtigkeit und Fremdheit: Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. Weinheim: Juventa, S. 39–54. ISBN 978-3-7799-2280-3

Dietrich, Cornelie, 2013. Ästhetische Erziehung. In: Kulturelle Bildung online [online]. 2013/2012, Wolfenbüttel: Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel e.V [Zugriff am: 23.01.2023]. DOI: https://doi.org/10.25529/​hk78-wk75

Dietrich, Cornelie, Dominik Krinninger und Volker Schubert, 2012. Einführung in die Ästhetische Bildung. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-4329-7

Mollenhauer, Klaus, 1996. Grundfragen ästhetischer Bildung: Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim: Juventa. ISBN 978-3-7799-1030-5

Weiß, Gabriele, 2013. Ästhetische Erziehung. In: Sabine Andresen, Christine Hunner-Kreisel und Stefan Fries, Hrsg. Erziehung: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 111–117. ISBN 978-3-476-02383-4 [Rezension bei socialnet]

4 Literaturhinweise

Grosser, Sabine, 2020. Ästhetische Bildung [online].socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 23.04.2020 [Zugriff am: 16.01.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/5497

Verfasst von
PD Dr. Sebastian Bernhardt
Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd
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Zitiervorschlag
Bernhardt, Sebastian, 2023. Ästhetische Erziehung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 02.02.2023 [Zugriff am: 16.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1520

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