Alltagsintegrierte Sprachbildung
Prof. Dr. Tanja Jungmann
veröffentlicht am 25.06.2019
Alltagsintegrierte Sprachbildung steht in der Tradition des situationsorientierten Ansatzes, der davon ausgeht, dass die Sprachkompetenz nicht in punktuellen, zeitlich begrenzten Fördereinheiten erworben wird. Vielmehr wird Dialogen mit Erwachsenen, Gleichaltrigen, älteren und jüngeren Kindern in bedeutungsvollen Situationen eine entscheidende Rolle im Erwerbsprozess zugeschrieben. Somit ist sie immer auch eine inklusive, primär präventive Sprachbildung, weil sie den pädagogischen Alltag prägt und sich an alle Kinder richtet. Es handelt sich damit im Unterschied zur Sprachförderung nicht um ein festes Konzept mit vorgegebenen Materialien und Zeiten. Vielmehr ist sie durchgängiges Prinzip und Querschnittsaufgabe der pädagogischen Arbeit. Sie umfasst grundsätzlich alle Komponenten der Sprachentwicklung und orientiert sich an individuellen Sprachentwicklungsverläufen der Kinder (Jungmann und Albers 2013).
Die Unterstützung der kindlichen Sprachentwicklung stellt eine zentrale Bildungsaufgabe im frühpädagogischen Alltag von Kindertageseinrichtungen dar. Alltagsintegrierte Sprachbildung orientiert sich an der Lebenserfahrung, den Interessen und den individuellen Lebenslagen der Kinder. Sie umfasst eine entwicklungs- und prozessbegleitende Beobachtung der Sprachkompetenzen aller Kinder, die eine Kindertageseinrichtung besuchen. Die Eltern sind im Rahmen der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft in die sprachliche Bildung einzubeziehen. Die mit der Umsetzung der alltagsintegrierten Sprachbildung verbundenen Herausforderungen erfordern eine spezielle Qualifizierung und Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte (Jungmann et al. 2018).
Die pädagogischen Fachkräfte unterstützen den Bildungsprozess eines jeden Kindes in umfassender Weise. Sie greifen vielfältige Situationen im Alltag auf und stellen eine sprachanregende räumliche Umgebung bereit. Dabei erfüllen sie eine wichtige Funktion als Sprachvorbild. Jedes Kind wird ausgehend von seinen individuellen Sprachkompetenzen in seiner weiteren sprachlichen Entwicklung unterstützt. Die Lernausgangslage und die Lernfortschritte im Entwicklungsbereich „Sprache und frühe Literacy“ werden z.B. regelmäßig mit dem Beobachtungs- und Einschätzbogen Kompetenzen und Interessen von Kindern (KOMPIK, Bertelsmann Stiftung 2010) erfasst.
Unterschiedliche Alltagssituationen in der Kindertageseinrichtung bieten Anlässe zum Sprechen und Sprachlernen. Am offensichtlichsten ist dies in der Protosituation der Spracheinführung, dem gemeinsamen Betrachten von Bilderbüchern, dem auch für den frühen Umgang mit Schriftkultur (Early Literacy) ein wichtiger Stellenwert zukommt. Durch frühe Erfahrungen mit der schriftsprachlichen Kultur wird Kindern der Einblick in die Komplexität von Sprache, die durch das dialogische Lesen, durch Geschichten, Erzählungen und Reime auch zum Ausdrucksmittel von Fantasie und Kreativität wird, eröffnet. Die Auseinandersetzung mit der Sprache in Büchern ermöglicht es den Kindern zunehmend komplexere Sachverhalte zu erfassen und diese selbst auch differenzierter auszudrücken. Darüber hinaus entdecken sie bestimmte Redewendungen und Besonderheiten der Schriftsprache und beginnen diese spielerisch in eigene Geschichten und Erzählungen einzubauen. Die pädagogischen Fachkräfte unterstützen die Kinder in diesem Prozess der Entdeckung von Sprache und Schriftsprache. Hierbei werden wichtige Impulse gesetzt und die Ausbildung von sprachlichen Kompetenzen angeregt, die im Hinblick auf die schulischen Anforderungen von Bedeutung sind.
Aber auch in der Begrüßungssituation, im Morgenkreis, beim Freispiel oder im Rahmen von musikalischen oder naturwissenschaftlichen Angeboten sowie beim gemeinsamen Mittagessen und Basteln bieten sich vielfältige Möglichkeiten zur alltagsintegrierten Sprachbildung (zur vertieften Auseinandersetzung und für spielerische Anregungen zur alltagsintegrierten Sprachbildung s. Jungmann et al. 2018).
Die Gestaltung des Übergangs von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule sollte mit Blick auf eine durchgängige alltagsintegrierte Sprachbildung besondere Beachtung finden. Hierbei steht der Austausch von Kindertageseinrichtung und Grundschule über Beobachtungsverfahren, Konzepte und Förderstrategien im Mittelpunkt (Jungmann und Albers 2013).
Quellenangaben
Bertelsmann Stiftung, 2010. Beobachtungs- und Einschätzbogen Kompetenzen und Interessen von Kindern (KOMPIK) [online]. [Zugriff am: 13.06.2019]. Verfügbar unter: http://www.kompik.de/ueber-kompik.html
Jungmann, Tanja und Timm Albers, 2013. Frühe sprachliche Bildung und Förderung. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02399-8 [Rezension bei socialnet]
Jungmann, Tanja, Ulrike Morawiak und Marlene Meindl, 2018. Überall steckt Sprache drin: Alltagsintegrierte Sprach- und Literacyförderung für 3- bis 6-jährige Kinder. 2., aktualisierte Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02756-9
Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Jungmann
Universität Oldenburg, Professur für Sprache und Kommunikation und ihre sonderpädagogische Förderung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse
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