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Altersmischung

Prof. Dr. Manfred Bönsch

veröffentlicht am 25.05.2020

Unter Altersmischung versteht man, wenn Menschen unterschiedlicher Altersstufen zusammen leben, lernen oder arbeiten.

Überblick

  1. 1 Anthropologische Grundannahmen
  2. 2 Generationsübergreifendes Zusammenleben
  3. 3 Altersmischung in pädagogischen Institutionen
  4. 4 Partialkonzepte für Altersmischung
  5. 5 Fazit
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Literaturhinweise

1 Anthropologische Grundannahmen

Der Mensch ist existenziell auf den Anderen, auf das Du angewiesen. Das Neugeborene ist nicht überlebensfähig, wenn es allein gelassen werden würde. Zunächst die Mutter, dann aber auch andere Bezugspersonen müssen die Lebensgrundlagen wie z.B. Nahrung, Grundpflege, aber eigentlich noch wichtiger elementare Bindungserlebnisse sichern. Für die seelisch-emotionale Entwicklung sind diese so wichtig, weil sie das Urvertrauen in die Welt und zu den Menschen aufbauen, das der Mensch braucht, um überlebensfähig zu sein. Die Bindungstheorie (Bowlby 1925; Brisch 1999) sagt recht verlässlich aus, dass der kleine Mensch ohne intensive Bindungen seelisch verkümmern würde, ja sogar sterben könnte. Das heißt, dass das Ich auf das Du angewiesen ist. Die ältere Bezugsperson schafft durch Bindung, Pflege und Zuwendung die Voraussetzungen, damit ein Kleinkind bejahend und vertrauensvoll beginnen kann, sich die Welt zu erobern, soziale Kontakte positiv zu erleben und selbst kreativ auf seine Umwelt zuzugehen. Im negativen Fall kommt es schnell zu Beziehungsstörungen mit entsprechenden Fehlverhaltensweisen (Bindungslosigkeit, Aggressivität, Formen des Autismus).

2 Generationsübergreifendes Zusammenleben

Die Grundform menschlichen Zusammenlebens ist nach wie vor die Familie. Sie ist bestimmt durch zwei Generationen, früher waren es häufig drei. Altersmischung heißt hier, dass Erwachsene mit Kindern bzw. Jugendlichen zusammen leben. Da der neugeborene Mensch noch frei von Werten und Normen, Gewohnheiten und Routinen ist, werden diese von Generation zu Generation weiter gegeben. Auch neue Familienformen wie die viel genannte Patchwork-Familie unterliegen diesem Anliegen, wobei die Altersmischung da stärker und damit die Verhaltensangebote vielfältiger sein können. Der generationsübergreifende Transfer von Werten, Normen und Weltverständnis bleibt das Grundanliegen. Zu bedauern ist, dass das Zusammenleben von drei Generationen immer seltener wird, da das Voneinanderlernen reicher sein kann, wenn man von zwei Generationen Anregungen bekommen kann.

3 Altersmischung in pädagogischen Institutionen

Während in Krippen und Kitas häufig altersgemischte Gruppen anzufinden sind, ist das deutsche Schulsystem dadurch gekennzeichnet, dass es in der Breite jahrgangsorientiert ist. Das hat sicher vor allem organisatorische Gründe. Für etwa 11 Millionen Schülerinnen und Schüler sind am ehesten organisatorische Strukturen zu finden, die jahrgangsorientiert Gruppierungen bilden. Die Grundannahme dabei ist, dass in aufsteigender Reihe das Lernen fortschreiten kann, eben Jahr für Jahr, im quasi militärischen Gleichschritt. Die Komplexität altersgemischter Lerngruppen wird dabei minimiert und auf die Vorteile altersgemischter Klassen wird verzichtet. Abgesehen davon, dass es in der Realität in den meisten Klassen dann doch Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Alters gibt – durch Spät- oder Früheinschulungen und das Phänomen des Sitzenbleibens bedingt sind in vielen Klassen Altersunterschiede bis zu zwei Jahren zu finden –, ist die Reduzierung auf Lernende gleichen Alters eine Verarmung der Lernanregungen durch unterschiedliche Begabungen und Erfahrungen. Das häufige Sitzenbleiben und Abschulen an Gymnasien und Realschulen kann man als negativen Effekt mangelnder Diversität von Lernenden ansehen. Die Diskussion um Inklusion – alle jungen Menschen sollten lernen, miteinander zu leben und zu lernen – ist als pädagogische Gegenbewegung zu verstehen. Die Realisierung kommt aber nur mühsam voran.

4 Partialkonzepte für Altersmischung

Es hat daher seit der reformpädagogischen Bewegung im vergangenen Jahrhundert pädagogische Initiativen gegeben, die unter dem Schlagwort „Bankrott der Jahrgangsklasse“ (Petersen 1980) altersgemischte Lerngruppen forderten. Petersen entwickelte den Jenaplan, der vier altersgemischte Lerngruppen vorsah: 1.-3. Schuljahr, 4.-6. Schuljahr, 7./8. Schuljahr und 9./10. Schuljahr. Er sprach von der Dreiergruppierung Meister – Geselle – Lehrling und sah vor, dass jede Schülerin und jeder Schüler mehrfach in deren Rollen kommen müsse, um von anderen zu lernen, dass aber auch andere von ihr oder ihm lernen könnten. Das differente Bildungsgefälle sei so positiv zu nutzen. Soziales Lernen bekäme größere Chancen. Das wechselseitige Helfen sei wichtig. Der Leistungsdruck vermindere sich. Sitzenbleiben erübrige sich.

Eine sehr eigenständige Erziehungsphilosophie entwickelte auch Maria Montessori (Montessori 1972), in der altersgemischte Gruppen einen festen Platz haben. Kindern müsse Zeit gegeben werden. Sie könnten voneinander lernen. Verschiedenheit sei zu bejahen. Jedes Kind folge seinem eigenen Entwicklungsgang. Familienähnliche Gruppierungen seien entsprechend einzurichten.

Bis in die Gegenwart folgen reformorientierte Schulen diesen Gedanken, eher in Grundschulen als in Sekundarschulen. So sind z.B. auch Schuleingangsstufen (0.-2. Schuljahr) altersgemischt eingerichtet worden. Der Gedanke der Revitalisierung von Heterogenität als dem produktiveren Soziotop ist also aktuell wie eh und je. Und er findet seine Bestätigung auch in der Arbeitswelt, in der es ständig Altersmischungen mit unterschiedlichen Kompetenzen in Betrieben gibt, von denen produktive Anreicherungen ausgehen.

5 Fazit

Altersmischung ist gewissermaßen das „Salz in der Suppe“ menschlichen Zusammenlebens, ob es um das produktive Aufwachsen, um Kooperation oder einfach um anregenderes Miteinander geht! Das menschliche Individuum ist in seiner Existenz auf ältere Personen angewiesen. Es wäre sonst gar nicht lebensfähig. Andererseits erfährt das menschliche Leben durch altersgemischtes Zusammenleben und -arbeiten jederzeit Bereicherungen, sodass Altersmischung ein grundlegendes gesellschaftliches Phänomen ist.

6 Quellenangaben

Bowlby, John, 1925. Bindung. München

Brisch, Karl-Heinz, 1999. Bindungsstörungen. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-94184-5

Montessori, Maria, 1972. Das kreative Kind. Freiburg i.Br.: Herder

Petersen, Peter, 1980. Der kleine Jena-Plan. 60. Aufl. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-18087-2

7 Literaturhinweise

Bönsch, Manfred, 2018. Grundlegungen sozialen Lernens heute. Baden-Baden: Academia. ISBN 978-3-89665-763-3 [Rezension bei socialnet]

Bönsch, Manfred, 2017. Starke Schüler durch starke Pädagogik: individuell, gemeinsam und differenziert zum Lernerfolg. Braunschweig: Westermann. ISBN 978-3-14-162202-7

Verfasst von
Prof. Dr. Manfred Bönsch
Leibniz-Universität Hannover
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