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Ambulant betreutes Wohnen

Prof. Dr. Christoph Walther

veröffentlicht am 17.03.2021

Unter ambulant betreutem Wohnen versteht man eine regelmäßige oder auf Abruf erbrachte Dienstleistung vor Ort in der Wohnung von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen bei der alltäglichen Selbstversorgung Unterstützung benötigen. Während die Betreuung beim stationären Wohnen nicht nur zeitweise, sondern potenziell rund um die Uhr zur Verfügung steht und an einen Heimplatz gebunden ist, richtet sich das ambulant betreute Wohnen an selbstständig lebende Wohnungsinhaber*innen.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Gründe
  3. 3 Zielgruppen
  4. 4 Arten
  5. 5 Intensität
  6. 6 Sozialrechtlicher Anspruch
  7. 7 Aktueller Fachdiskurs
  8. 8 Forschung
  9. 9 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Ambulant betreutes Wohnen richtet sich an Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen. Man kann fünf Arten der Wohnbetreuung unterscheiden, deren Betreuungsintensität variieren kann. Durchgeführt wird ambulant betreutes Wohnen durch Familienmitglieder und/oder professionelle externe Pflegkräfte, die auf unterschiedlichen sozialrechtlichen Grundlagen arbeiten. Es gibt einen aktuellen Fachdiskurs, in welcher Haltung und mit welchem Grundverständnis Wohnbetreuung durchgeführt werden soll. Erstes evidenzbasiertes Wissen aus der Wohnforschung liegt vor, doch die Forschung steht noch am Anfang.

2 Gründe

Die Gründe für die Notwendigkeit der Unterstützung in der alltäglichen Selbstversorgung können vielfältig sein. In der Regel sind sie bedingt durch Krankheit, Behinderung, Alter oder Pflegebedürftigkeit.

Mit alltäglicher Selbstversorgung sind wiederkehrende Tätigkeiten gemeint, die zum Erhalt eines eigenen Haushaltes und zur Gestaltung des Alltags notwendig sind. Das sind im engeren Sinne insbesondere Einkaufen, Nahrungszubereitung, Reinigung, Wäschepflege, Körperpflege und im weiteren Sinne Umgang mit Geld, Nachbarn, Bezugspersonen, Behörden sowie der Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen, gesellschaftlichen, kulturellen und freizeitbezogenen Aktivitäten im näheren oder weiteren häuslichen Umfeld als Bürger oder Bürgerin einer Gemeinde (Sozialraum).

3 Zielgruppen

Ambulant betreutes Wohnen ist zunächst keine ausschließliche Aufgabe der Sozialen Arbeit oder der professionellen Pflege. Es ist ein allgemein menschliches und soziales Phänomen, dass Verwandte, Angehörige, Freunde oder Nachbarn meist ohne Bezahlung ihnen wichtige Bezugspersonen zu Hause betreuen, wenn diese kurz- oder langfristig, manchmal auch jahrelang, Hilfe brauchen.

Bezahlte Aufgabe der Sozialen Arbeit wird es erst, wenn keine natürlichen Personen zur Verfügung stehen oder sie diese Aufgabe nicht übernehmen wollen oder damit überfordert wären. Ambulant betreutes Wohnen als bezahlte Aufgabe der Pflege setzt voraus, dass ein Pflegegrad festgestellt worden ist, um eine Geldleistung an die zu pflegende Person auszulösen.

Typische Zielgruppen für ambulant betreutes Wohnen können sein,

  • (chronisch) kranke Menschen
  • psychisch erkrankte Menschen (Konrad und Rosemann 2011, 2016, 2020)
  • geistig und/oder körperlich behinderte Menschen (Hanslmeier-Prockl 2009; Thesing 2009; Niedieck 2010; Bundesvereinigung der Lebenshilfe 2012; Schallenkammer 2016; Theunissen und Kulig 2016; Groß 2017)
  • alte Menschen (Hasenau und Michel 2017; Boggatz 2019)
  • zu pflegende Menschen oder
  • Menschen, die aus dem Maßregelvollzug entlassen wurden.

4 Arten

Es gibt verschiedene Arten des ambulant betreuten Wohnens. Die häufigsten Arten sind

  • in der selbst gemieteten Wohnung oder in der eigenen Eigentumswohnung (betreutes Einzelwohnen)
  • in einer von einem Leistungserbringer angemieteten Wohnung
  • in einer Wohngemeinschaft (betreute WG)
  • in einer Wohngruppe
  • Wohnen bei einer Gastfamilie (betreutes Wohnen in der Familie) (Konrad et al. 2012).

Im Arbeitsfeld der Sozialpsychiatrie gibt es seit 2018 die stationsäquivalente psychiatrische Behandlung als eine Sonderform des betreuten Wohnens. In einer psychischen Krise geschieht die Behandlung statt durch eine Aufnahme in eine Klinik in Form von u.U. täglichen Hausbesuchen in der Wohnung des Klienten oder der Klientin so lange bis eine Besserung eintritt. Eine Klinikaufnahme während der Zeit ist nicht ausgeschlossen, soll aber damit verhindert werden. Diese Leistung zahlt die Krankenversicherung (§ 115d SGB V).

Zahlen zum ambulant betreuten Wohnen gibt es nur aus einzelnen Arbeitsfeldbereichen, sodass eine Gesamtzahl nicht bezifferbar ist. Am häufigsten gibt es ambulant betreutes Wohnen in der Pflege und in der Behindertenhilfe. Über die Pflegeversicherung wurden Ende 2018 3.063.731 Leistungsbezieher ambulant betreut (Bundesministerium für Gesundheit 2019). Ungefähr Zweidrittel der Pflegebedürftigen werden allein durch Angehörige unterstützt, ein Drittel in Zusammenarbeit mit einem professionellen Pflegedienst. Hier müssen noch diejenigen hinzugezählt werden, die von ihren Angehörigen bei der Alltagsbewältigung betreut werden, ohne einem Pflegegrad zugeordnet zu sein, und damit nicht Leistungsbezieher der Pflegekassen sind.

Im Bereich der Behindertenhilfe wurden nach den Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Sozialhilfeträger Ende 2018 in Deutschland 207.794 Personen im Rahmen der Eingliederungshilfe in ihren Wohnungen ambulant betreut, davon 2.987 Personen bei Gastfamilien. 70,5 % der Personen waren Menschen mit psychischer Erkrankung, 25,3 % Menschen mit geistiger und 4,2 % Menschen mit körperlicher Behinderung (BAGüS 2020). Hinzu kommt die recht hoch anzusetzende Anzahl von ambulant betreuten Menschen mit Behinderung, die durch Angehörige betreut werden, und keine Eingliederungshilfeleistungen beziehen.

5 Intensität

Die Betreuungsintensität richtet sich nach dem Unterstützungsbedarf des Einzelfalls und kann von einmal im Monat bis zu mehreren Stunden pro Tag variieren. Im Zeitverlauf kann der Betreuungsumfang auch ab- oder zunehmen.

6 Sozialrechtlicher Anspruch

Ambulant betreutes Wohnen ist für den Behinderten- und den Pflegebereich unterschiedlich sozialrechtlich verankert. In der Arbeit mit Menschen mit Behinderung oder mit einer psychischen Erkrankung hat ambulant betreutes Wohnen über die Assistenzleistung eine rechtliche Verankerung im Sozialgesetzbuch (SGB). Durch die Neuregelungen im Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist diese Leistung seit Anfang 2020 im SGB IX geregelt. Das bedeutet, dass ein Leistungserbringer oder der oder die Leistungsberechtigte konkret benannte Dienstleistungen (Assistenzleistungen), die im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens erbracht werden, auf der Grundlage des SGB IX von einem Leistungsträger finanziert bekommt. Leistungsträger sind die Kostenträger der Eingliederungshilfe, die je nach Bundesland unterschiedlich sein können.

Werden im Einzelfall (auch) Pflegeleistungen benötigt, kommt zusätzlich oder ausschließlich die Pflegeversicherung (SGB XI) als (weiterer) Kostenträger in Betracht. Hier handelt es sich – im Gegensatz zur Finanzierung von Assistenzleistungen – um pauschalisierte Beträge in Abhängigkeit des festgestellten Pflegegrades. Pflegeleistungen werden häufig bei Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung oder bei Menschen im hohen Alter relevant.

Menschen mit Behinderungen oder die von Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen nach dem SGB IX, „um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligung zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“ (§ 1 SGB IX). Eingliederungshilfe umfasst die Rehabilitationsleistung „Soziale Teilhabe“ und meint damit Partizipation an zivilisatorischen, kulturellen und sozialen Kontexten einer Gesellschaft. „Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können“ (§ 90 SGB IX).

Bei der Ermöglichung von Sozialer Teilhabe geht es darum, dass Menschen eine Unterstützung erhalten, um trotz bestimmter Einschränkungen ihre Lebensführung und Alltagsbewältigung möglichst genauso in Autonomie und Eigenverantwortung verwirklichen zu können wie alle anderen Bürger und Bürgerinnen auch ohne diese Einschränkung. Als Leistungen der Sozialen Teilhabe werden im Gesetz in einer nicht abgeschlossenen Liste aufgeführt: Leistungen für Wohnraum, Assistenzleistungen, heilpädagogische Leistungen, Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie, zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, zur Förderung der Verständigung, zur Mobilität, Hilfsmittel und Besuchsbeihilfen (vgl. § 113 Abs. 2 SGB IX)

Im Kontext von Wohnbetreuung ist der Fachbegriff „Assistenz“, juristisch „Assistenzleistung“, wesentlich (Konrad 2019), weil diese Tätigkeiten meist die zentralen Aufgaben sind. „Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen zur Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeine Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen“ (§ 78 SGB IX). Im Absatz 6 werden zudem noch „Leistungen zur Erreichbarkeit einer Ansprechperson unabhängig von einer konkreten Inanspruchnahme, soweit dies nach den Besonderheiten des Einzelfalls erforderlich ist“ erwähnt. Das Wort „insbesondere“ weist darauf hin, dass die Aufzählung im § 78 SGB IX nicht abschließend ist. Je nach Einzelfall können weitere Assistenzleistungen benannt werden. Die jeweiligen Assistenzleistungen werden dann konkret im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens erbracht. Nicht das ambulant betreute Wohnen wird finanziert, sondern die Assistenzleistungen.

Von der Form her kann die Finanzierung entweder als persönliches Budget an den Leistungsberechtigten oder nach dem Sachleistungsprinzip vom Leistungsträger an den Leistungserbringer geleistet werden.

Finanziell muss beim ambulant betreuten Wohnen unterschieden werden zwischen der Fachleistung (Assistenzleistungen zur Sozialen Teilhabe oder Pauschalisiertes Pflegegeld nach Pflegegraden) und den unterhaltssichernden Leistungen. Letztere können bei vorliegender Erwerbsfähigkeit der Verdienst, Arbeitslosengeld I oder II oder Krankengeld sein. Wenn die Erwerbsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, handelt es sich meist um Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Erwerbsminderungsrente oder Altersrente.

7 Aktueller Fachdiskurs

Betreutes Wohnen unterlag im Kontext der Behindertenarbeit in den letzten Jahren aufgrund der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention einem fundamentalen Bedeutungs- und Verständniswandel. Art 19 der Konvention sichert dem Menschen mit Behinderung zu, wie alle anderen Bürger oder Bürgerinnen auch, ihren Aufenthaltsort frei wählen und entscheiden zu können, wo und mit wem sie leben wollen, ohne verpflichtet zu sein, in besonderen Wohnformen leben zu müssen. Damit war der traditionellen Einteilung, dass Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf stationär und Menschen mit geringem ambulant betreut werden (müssen), die Grundlage entzogen. Die Unterstützung orientiert sich nicht mehr an dem Angebot einer Einrichtung, sondern an dem individuellen Bedarf des Leistungsberechtigten. Es geht um personzentrierte statt um institutionszentrierte Hilfeleistungen. Damit war die Unterscheidung zwischen stationär und ambulant betreutem Wohnen obsolet geworden (Rosemann und Konrad 2020).

Während eines Betreuungsprozesses muss jetzt bei einer Erhöhung oder Reduzierung des Unterstützungsbedarfs nicht mehr zwangsläufig die Wohnform gewechselt werden, ebenso steht auch keine Änderung des Wohnumfeldes oder der professionellen Bezugspersonen an. Die Assistenzleistung ist nicht mehr an die Form der Betreuung (ambulant oder stationär) gebunden, sondern lässt sich nur noch inhaltlich begründen, weil das entsprechende Erfordernis besteht, eine möglichst selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensführung in der eigenen Wohnung und im dazugehörigen Sozialraum zu ermöglichen. Aufgrund des Wunsch- und Wahlrechtes (§ 104 SGB IX) steht es Leistungsberechtigen aber auch zu, bewusst eine stationäre Form der Wohnbetreuung zu wählen.

Der Unterstützungsbedarf, der die Assistenzleistungen begründet, wird mit „Instrumenten der Bedarfsermittlung“ (§ 118 SGB IX) erhoben. Diese werden derzeit bei den Kostenträgern der Eingliederungshilfe entwickelt. Fest steht, dass sie sich inhaltlich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientieren müssen. Es ist zu erwarten, dass sich die in den Bundesländern unterschiedlich entwickelnden Instrumente durch eine gewisse Heterogenität auszeichnen werden (Projekt „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz“ o.J.). Die Handhabung und das Ausfüllen der Bedarfsermittlungsinstrumente müssen die Leistungsberechtigten (u.U. mit Unterstützung eines Sozialarbeiters oder einer Sozialarbeiterin, der gesetzlichen Betreuerin bzw. des gesetzlichen Betreuers oder eines Angehörigen) vornehmen. Als Fachkraft der Sozialen Arbeit ist es sinnvoll, sich auf diese Aufgabe vorzubereiten und sich entsprechende Kompetenzen durch Fortbildung zu erwerben. Die Anträge sind bei den jeweiligen Kostenträgern der Eingliederungshilfe zu stellen.

Die Bedarfserhebung und die Hilfeplanung muss sich an den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Leistungsberechtigten orientieren und ist Teil des Gesamtplanverfahrens, in dem der Bedarf erfasst, ein Gesamtplan der durchzuführenden Leistungen aufgestellt und bei Bedarf eine Gesamtplankonferenz abgehalten wird – immer unter Einbeziehung des oder der Leistungsberechtigten. Sind über die Soziale Teilhabe hinaus weitere Rehabilitationsleistungen zu berücksichtigen, kann ein Teilhabeplan zusammen mit den anderen Rehabilitationskostenträgern erstellt werden.

Im Rahmen der Pflegeversicherung wird durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen der Pflegegrad ermittelt. Die jedem Pflegegrad zugeordneten Geldpauschalen unterscheiden sich in der Höhe in Abhängigkeit, ob die Pflege ambulant, teilstationär oder stationär erfolgt. Die zu pflegende Person entscheidet nach ihrem Pflegeumfang, ihrer Lebenssituation und in Absprache mit den Angehörigen, welche dieser drei Formen der Pflege sie wählt.

Im Arbeitsfeld der Behindertenhilfe arbeiten nicht nur Fachkräfte der Sozialen Arbeit, sondern auch viele andere Berufsgruppen im ambulant betreuten Wohnen (z.B. Heilerziehungspfleger*innen, Erzieher*innen, Pflegefachkräfte). Betreutes Wohnen ist eine Tätigkeit, die querliegt zu mehreren Berufen. Es lassen sich berufsübergreifende Kernkompetenzen für die Tätigkeit der Wohnbetreuung formulieren (Walther 2020). Die konkreten Anforderungen an die Betreuungsarbeit unterscheiden sich jedoch je nach Zielgruppe (psychisch erkrankte Menschen oder geistig behinderte Menschen) erheblich und benötigen zusätzliche zielgruppenspezifische Kompetenzen. Im Rahmen der pflegenden Altenhilfe dominieren die Pflegefach- und Pflegehilfskräfte. Hier bedarf es umfassender pflegerischer Kompetenzen.

8 Forschung

International und national steht die Forschung zum ambulant betreuten Wohnen erst am Anfang. Wirksamkeitsstudien, die nach dem klassischen Muster einer kontrollierten und randomisierten Studie durchgeführt werden (RCT-Studien), sind oft aus verschiedenen Gründen ethisch nicht vertretbar (Richter und Jäger 2020).

Eine deutschlandweite Bestandanalyse für ambulant betreute Wohnformen für Menschen mit Demenz, Behinderung und/oder Pflegebedarf hat das Bundesministerium für Gesundheit 2017 herausgegeben.

Im Bereich ambulant betreutes Wohnen bei Menschen mit geistiger Behinderung liegen für Deutschland einzelne Studien vor. Michels (2012) untersucht mit qualitativen Methoden die Bewältigung eigenständigen Wohnens aus Betroffenensicht. Hamburg hat in den Jahren 2005 bis 2013 über 700 stationäre Plätze für Menschen mit geistiger Behinderung umgewandelt in ambulant betreute Angebote. Dieser Umwandlungsprozess wurde evaluiert (Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Hamburg e.V. 2015).

Für den Bereich der Sozialpsychiatrie gibt es international einige Studien zu obdachlosen psychisch erkrankten Menschen, die das Konzept des „housing first“ untersuchen und positiv evaluieren (Richter und Jäger 2020).

Für das Wohnsetting von psychisch erkrankten Menschen, die nicht obdachlos sind, gibt es vergleichende Untersuchungen verschiedener Wohnbedingungen über einen beobachteten Zeitverlauf. Danach gibt es bezüglich verschiedener sozialer und gesundheitlicher Indikatoren keine Unterschiede in welcher Wohnform unterstützt wird. Es scheint aber eine eindeutige Wohnpräferenz der befragten Personen zu geben, nämlich möglichst unabhängig von Institutionen zu leben (Richter und Jäger 2020). Für Deutschland liegen einige vorwiegend qualitative Studien zum ambulant betreuten Wohnen vor, eine entsprechende Übersichtsarbeit dazu (Walther 2014) und drei Untersuchungen aus der Betroffenenperspektive (Effinghausen 2014; Tamm 2015; Kahl 2016).

Die in Deutschland durchgeführte BAESCAP-Studie untersuchte mit quantitativen und qualitativen Methoden verschiedene Wohnsettings (Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V. et al. 2018) an über 1.800 Personen, die Eingliederungshilfe erhalten. U.a. wurde deutlich, dass im ambulant betreuten Wohnen Stigmatisierungserfahrungen deutlich häufiger sind als im stationär betreuten Wohnen. Die Gefahr der Vereinsamung wurde tendenziell ambulant höher, die ärztlich somatische Versorgung und die subjektiv empfundenen Teilhabechancen schlechter eingeschätzt als im stationären Setting. Die Freiheit, das Wohnsetting selbst bestimmen zu können, wurde im ambulant betreuten Wohnen deutlich höher bewertet. Die Ergebnisse lohnen, im Detail gelesen zu werden, da hier nicht alle fachlich einschlägigen Nuancen wiedergegeben werden können. Zu der BAESCAP-Studie gibt es bereits eine Replikation, die wesentliche Ergebnisse wiederholen konnte (Heim und Walther 2020). Es wird deutlich, dass im ambulant betreuten Wohnen einige Bereiche in der Betreuung qualitativ besser und zielgerichteter ausgerichtet werden können.

Aktuell wurde ein Abschlussbericht einer Forschungsarbeit aus dem Bundesland Baden-Württemberg vorgelegt (Steinert et al. 2020). Das Forschungsvorhaben „Wirksamkeit verschiedener Formen des unterstützten Wohnens für Menschen mit seelischer Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg“ (WieWohnen-BW) ist in vier ausgewählten Stadt- und Landkreisen systematisch der Frage nachgegangen: Was wirkt beim unterstützten Wohnen und wie wirksam ist es?

9 Quellenangaben

Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e.V., 2015. Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg [online]. Hamburg; Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e.V [Zugriff am: 13.03.2021]. Verfügbar unter: https://www.agfw-hamburg.de/download/​Ambulantisierung_Abschlussbericht_Alltagssprache_Langfassung.pdf

Boggatz, Thomas, 2019. Betreutes Wohnen: Perspektiven zur Lebensgestaltung bei Bewohnern und Betreuungspersonen. Berlin: Springer. ISBN 978-3-662-58404-0 [Rezension bei socialnet]

Bundesarbeitsgemeinschaft überörtlicher Sozialhilfeträger (BAGüS), 2020. Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe 2020 [online]. Berichtsjahr 2018. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe [Zugriff am: 06.11.2020]. Verfügbar unter: https://www.lwl.org/spur-download/bag/Endbericht%202018_final.pdf

Bundesministerium für Gesundheit, 2017. Ambulant betreute Wohngruppen [online]. Bestandserhebung, qualitative Einordnung und Handlungsempfehlungen. Abschlussbericht. Bonn: Bundesministerium für Gesundheit [Zugriff am: 07.11.2020]. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/​Dateien/​5_Publikationen/​Pflege/​Berichte/​Abschlussbericht_AGP_HWA_Wohngruppen-Studie.pdf

Bundesministerium für Gesundheit, 2019. Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung [online]. Bonn: Bundesministerium für Gesundheit [Zugriff am: 07.11.2020]. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/​Dateien/​Downloads/​Statistiken/​Pflegeversicherung/​Zahlen_und_Fakten/​Zahlen-u-Fakten-zur-Pflegeversicherung_2019.pdf

Bundesvereinigung der Lebenshilfe, 2012. Wohnen heute: Beispiele für selbstbestimmtes Leben; Menschen mit geistiger Behinderung berichten, wie sie wohnen. 3. Auflage. Marburg: Lebenshilfe-Verlag. ISBN 978-3-88617-534-5 [Rezension bei socialnet]

Effinghausen, Sabrina, 2014. Diagnose psychisch krank – Ein Leben ohne Zukunft? Bewältigungsstrategien von psychisch erkrankten Menschen und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit am Beispiel des ambulant betreuten Wohnens. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-1047-8 [Rezension bei socialnet]

Groß, Peter, 2017. Personenorientierte Behindertenhilfe: individuelle Hilfen zum Wohnen für erwachsene Mitbürger mit einer geistigen Behinderung. Oberhausen: Athena-Verlag. ISBN 978-3-89896-655-9 [Rezension bei socialnet]

Hanslmeier-Prockl, Gertrud, 2009. Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung: Empirische Studie zu Bedingungen der Teilhabe im Ambulant betreuten Wohnen in Bayern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1665-6 [Rezension bei socialnet]

Hasenau, Claudius und Lutz Michel, Hrsg., 2017. Ambulant betreute Wohngemeinschaften: Gestalten. Finanzieren. Umsetzen. 3. Auflage. Hannover: Vincentz Network. ISBN 978-3-86630-432-1

Heim, Luisa und Christoph Walther, 2020. Soziale Teilhabe. Ergebnisse einer Replikation der BAESCAP-Studie. In: Sozialpsychiatrische Informationen. 50(1), S. 44–49. ISSN 0171-4538

Kahl, Yvonne, 2016. Inklusion und Teilhabe aus der Perspektive von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Köln: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-88414-660-6 [Rezension bei socialnet]

Konrad, Michael, 2019. Die Assistenzleistung: Anforderung an die Eingliederungshilfe durch das BTHG. Köln: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-88414-998-0

Konrad, Michael und Matthias Rosemann, 2011. Handbuch Betreutes Wohnen. Bonn: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-88414-647-7 [Rezension bei socialnet]

Konrad, Michael und Matthias Rosemann, 2016. Betreutes Wohnen: Mobile Unterstützung zur Teilhabe. Köln: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-88414-780-1

Konrad, Michael, Jo Becker und Reinhold Eisenhut, Hrsg., 2012. Inklusion leben: Betreutes Wohnen in Familien für Menschen mit Behinderung. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-78412-096-6

Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V., Andreas Speck und Ingmar Steinhart, Hrsg., 2018. Abgehängt und chancenlos? Teilhabechancen und -risiken von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen. Köln: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-88414-682-8 [Rezension bei socialnet]

Michels, Caren, 2012. Ambulant Betreutes Wohnen für Menschen mit (geistiger) Behinderung – eine qualitative Pilotstudie zu Ressourcen, Kompetenzen und Fähigkeiten unter besonderer Berücksichtigung der Betroffenenperspektive [ Dissertation] [online]. Köln: Universität zu Köln [Zugriff am: 13.03.2021]. Verfügbar unter: https://kups.ub.uni-koeln.de/4608/

Niediek, Imke, 2010. Das Subjekt im Hilfesystem: eine Studie zur Individuellen Hilfeplanung im Unterstützten Wohnen für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Berlin: Springer. ISBN 978-3-531-17654-3 [Rezension bei socialnet]

Projekt „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz“, [ohne Jahr]. Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz [online]. Berlin: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. [Zugriff am: 13.03.2021]. Verfügbar unter: https://umsetzungsbegleitung-bthg.de

Richter, Dirk und Matthias Jäger, 2020. Wohnforschung in der psychiatrischen Versorgung: Methodische Probleme und aktueller Forschungsstand. In: Matthias Rosemann und Michael Konrad, Hrsg. Selbstbestimmtes Wohnen kompakt. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 92–102. ISBN 978-3-96605-057-9

Rosemann, Matthias und Michael Konrad, Hrsg., 2020. Selbstbestimmtes Wohnen kompakt. Köln: Psychiatrie-Verlag. ISBN 978-3-96605-057-9

Schallenkammer, Nadine, 2016. Autonome Lebenspraxis im Kontext Betreutes Wohnen und Geistige Behinderung: Ein Beitrag zum Professionalisierungs- und Selbstbestimmungsdiskurs. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3357-1 [Rezension bei socialnet]

Steinert, Tilmann, Susanne Jaeger und Sabine Herpertz, 2020. Wirksamkeit verschiedener Formen des unterstützten Wohnens für Menschen mit seelischer Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe in Baden-Württemberg (WieWohnen-BW): Abschlussbericht. Stuttgart: Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg

Tamm, Julia, 2015. Ambulant Betreutes Wohnen aus der Perspektive Psychiatrieerfahrener. Siegen: Universitätsverlag Siegen. ISBN 978-3-936533-59-0 [Rezension bei socialnet]

Thesing, Theodor, 2009. Betreute Wohngruppen und Wohngemeinschaften für Menschen mit geistiger Behinderung. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-78411-918-2

Theunissen, Georg und Wolfram Kulig, 2016. Inklusives Wohnen: Bestandsaufnahme, Best Practice von Wohnprojekten für Erwachsene mit Behinderung in Deutschland. Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag. ISBN 978-3-8167-9564-3 [Rezension bei socialnet]

Walther, Christoph, 2014. Betreutes Wohnen psychisch kranker Menschen – Wirksamkeitsstudien in Deutschland. In: Soziale Arbeit. 63(2), S. 55–62. ISSN 0490-1606

Walther, Christoph, 2020. Kernkompetenzen, um Menschen zu einer selbstbestimmten Lebensführung zu befähigen. In: Matthias Rosemann und Michael Konrad, Hrsg. Selbstbestimmtes Wohnen kompakt. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 207–217. ISBN 978-3-96605-057-9

Verfasst von
Prof. Dr. Christoph Walther
Dipl.-Sozialpädagoge (FH), Technische Hochschule Nürnberg, Fakultät Sozialwissenschaften, Professor für Soziale Arbeit, Schwerpunkte: Sozialpsychiatrie, Beratung
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Zitiervorschlag
Walther, Christoph, 2021. Ambulant betreutes Wohnen [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 17.03.2021 [Zugriff am: 15.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29037

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