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Angehörige

Dr. phil. Gernot Hahn, Prof. Dr. Christine Kröger, Lisa Große

veröffentlicht am 20.10.2024

Englisch: relatives

Mit dem Begriff Angehörige oder Angehöriger werden Personen bezeichnet, die ein besonderes rechtliches oder soziales Verhältnis zu einer anderen Person oder einer Gruppe von Personen haben. Hintergrund sind in der Regel engere familiale oder persönliche Verhältnisse („Familie“), mit entsprechend nahen oder auch weiteren Beziehungsformen. In einer modernen Lesart werden mit dem Begriff alle Personen aufgefasst, die in einer besonderen emotionalen, zeitlich überdauernden Beziehung zu einer anderen Person bzw. Personen stehen und von deren Lebensumständen mit-betroffen sind.

Überblick

  1. 1 Umgangssprachliches und rechtliches Verständnis
  2. 2 Lebensweltliches Verständnis
  3. 3 Selbstvertretungen und professionalisierte Angebote für Angehörige
  4. 4 Quellenangaben
  5. 5 Informationen im Internet

1 Umgangssprachliches und rechtliches Verständnis

Umgangssprachlich kann der Begriff Angehörige als Gruppenzugehörigkeit konstruiert (z.B. Angehörige einer Mehrheits- bzw. Minderheitsgesellschaft) oder als Institutionszugehörigkeit (z.B. Studierende, Angestellte, Professor:innen einer Hochschule) definiert werden. Zudem werden Angehörige in Abhängigkeit vom konkreten Handlungsfeld und/oder von der rechtlichen Perspektive unterschieden. Während im Strafgesetzbuch (§ 11 StGB) Angehörige als Verwandte und Verschwägerte in gerader Linie, der bzw. die Ehegatt:in, Pflegeeltern und Pflegekinder, Lebenspartner:innen, Verlobte, Geschwister, Ehegatt:innen oder Lebenspartner:innen der Geschwister, Geschwister der Ehegatt:innen oder Lebenspartner:innen definiert werden (und zwar auch dann, wenn die Ehe oder Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht), bestimmt das Zivilrecht ausschließlich den Begriff der Verwandtschaft (§ 1589 BGB), nicht aber den Angehörigenstatus.

Anders verhält es sich bei medizinischen Fragestellungen, so enthält das Transplantationsgesetz (§ 1a TPG) eine Definition für den Begriff der „nächsten Angehörigen“ (in der Rangfolge ihrer Aufzählung: Ehegatt:innen oder eingetragene Lebenspartner:innen, volljährige Kinder, Eltern oder nur ein Elternteil, ein:e Vormund:in oder ein:e Pfleger:in, die volljährigen Geschwister, die Großeltern).

Im öffentlichen Recht werden Angehörige u.a. in § 16 Abs. 5 SGB X, in § 20 Abs. 5 VwVfG, in § 15 AO (Abgabenordnung) und im KJHG (§§ 33, 44 SGB VIII) aufgenommen. Rechtliche Folgen aus dem Angehörigenstatus ergeben sich im Bereich des Prozessrechts (§ 383 ZPO), im Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO), oder mit Bezug zu besonderen Pflichten (z.B. bei Schenkungen, § 530 BGB).

2 Lebensweltliches Verständnis

Mit dem Begriff Angehörige werden bei einem weiten lebensweltorientierten Verständnis Personen bezeichnet, die in einem besonderen sozialen Verhältnis zu einer anderen Person oder einer Gruppe von Personen stehen. Im Alltagsverständnis sind meist Personen gemeint, die über mehr oder weniger enge Familienbeziehungen miteinander verbunden sind (z.B. Ehepartner:innen, Eltern, Kinder, Geschwister etc.). In der aktuellen psychosozialen Forschung und Praxis sind u.a. auf Basis gesamtgesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse auch soziale Beziehungen eingeschlossen, die als Wahlfamilie fungieren (z.B. bei pflegebedürftigen Menschen der LGBTQIA*-Community; Lottmann 2018) bzw. weitere Beziehungsformen, die durch gelebte Fürsorge und ein gegenseitiges Verantwortungsgefühl gekennzeichnet sind (z.B. Freund:innen, Kolleg:innen, intensive Verbundenheit in Nachbarschaften, Vereinen oder Glaubensgemeinschaften). Die Bezeichnung „Angehörige:r“ wird also durch das Lebensumfeld einer Person bestimmt, dem wichtige Bezugspersonen „zugehören“. Es geht um Beziehungen, in denen Menschen einander emotional verbunden sind und in Verantwortung zueinanderstehen (Kröger, Große und Hahn 2024).

In den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit (z.B. Kinder- und Jugendhilfe, Altenhilfe, Suchthilfe, Sozialpsychiatrie, Eingliederungshilfe etc.; für einen aktuellen Überblick siehe Rießen und Bleck 2022), aber auch in anderen Professionen (z.B. Pflege, Psychotherapie etc.), werden Angehörige als Personengruppe wahrgenommen und adressiert, die im Zusammenhang mit besonderen Bedarfslagen von Personen stehen (z.B. Angehörige von spezifischen Klient:innen, Patient:innen, Bewohner:innen).

Aus sozialarbeitswissenschaftlicher Perspektive, v.a. im Rahmen sozialraumorientierter Interventionen (Kessl und Reutlinger 2022), sind Angehörige Teil des sozialen Systems bzw. natürlichen Netzwerkes von Klient:innen Sozialer Arbeit. Entscheidendes Charakteristikum von Angehörigenbeziehungen ist hier die persönliche, mehr oder weniger dauerhafte Verbindung, die eine herausgehobene soziale, psychische oder körperliche Bedeutung hat. Die Bedeutung kann mittels egozentrierten Netzwerkkarten sichtbar werden. Die Erfahrungen in den Beziehungen zu Angehörigen prägen die Entwicklung, die Aufrechterhaltung und die (Nicht)Bewältigung von psychosozialen Belastungssituationen und (körperlichen wie psychischen) Erkrankungen in hohem Maße. Vereinfacht ausgedrückt sind zufriedene und unterstützende Beziehungen wichtige sozial-emotionale Ressourcen, die sich positiv auf Wohlbefinden und Bewältigungskompetenzen auszuwirken vermögen. Hier ist von Bedeutung, dass Angehörige füreinander zentrale Quelle sozialer Unterstützung sein können (Kupfer und Nestmann 2024). Gleichzeitig können Beziehungen zu Angehörigen aber auch zu destruktiven Entwicklungen beitragen sowie Quelle von unsäglichem Leid bis hin zu lebensbedrohlichen Gefährdungssituationen sein (u.a. Büttner 2020; Schone 2023).

Vor diesem Hintergrund erschließt sich die vielschichtige Bedeutung von Angehörigenarbeit in der psychosozialen Praxis: Beispielsweise als Erhalt sozialer Ressourcen und Regulierung destruktiver Muster im Hinblick auf die „eigentlich“ Betroffenen, vor allem aber als mögliche Unterstützung bei der Bewältigung eigener Belastungen der Angehörigen.

Je nach (historisch gewachsener) Ausgestaltung der Handlungsfelder ist die (zugeschriebene) Rolle der Angehörigen jedoch heterogen (Arbeit mit bzw. Arbeit für Angehörige sowie Arbeit von Angehörigen; Petereit-Zipfel 2021). So sind in den verschiedenen Arbeitsbereichen umfangreiche Formen der Angehörigenarbeit (z.B. Schulung von Angehörigen in der Pflege, Psychoedukation bei gravierenden körperlichen und psychiatrischen Erkrankungen, Angehörigenberatung in der Sozialen Arbeit, Familien- und Paarberatung bzw. -therapie, trialogische Formate, Selbsthilfegruppen etc.) entstanden und mitunter auch bereits fundiert konzeptualisiert (u.a. Bäuml und Pitschel-Walz 2019; Baumeister et al. 2023; Buchner et al. 2013; Bull und Poppe 2015; Emmelmann und Greving 2019; Jungbauer und Floren 2017; Kreyer und Pleschberger 2018; Lenz 2021; Minder, Cotar und Hepp 2019; Oswald und Meeß 2022; Sielaff 2015, 2020; Smith und Myers 2012; Trasselli, Auer und Gunia 2022; Vauth, Bull und Schneider 2009; Vögeli und Wolf 2023; Wilz 2024; Wilz und Pfeiffer 2019; Zwicker-Pelzer 2020).

3 Selbstvertretungen und professionalisierte Angebote für Angehörige

Vor allem Selbstvertretungen tragen dazu bei, die Bedarfe und Bedürfnisse von Angehörigen sichtbar zu machen und zur Weiterentwicklung einer bedarfsgerechten Versorgung beizutragen. Eine Auswahl der wichtigsten Zusammenschlüsse findet sich unter „Informationen im Internet“.

4 Quellenangaben

Baumeister, Barbara, Navarro Strohmeier, Rahel Smith und Kushtrim Adili, 2023. Gute Angehörigenarbeit in der stationären Betreuung und Pflege von älteren Menschen. Zürich: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften

Bäuml, Josef und Gabriele Pitschel-Walz, 2020. Psychoedukation und Angehörigenarbeit bei Schizophrenie. In: PSYCH up2date. 14(2), S. 111–127. ISSN 2194-8909

Buchner, Ursula G., Annalena Koytec, Tanja Gollrad, Melanie Arnold und Norbert Wodarz, 2013. Angehörigenarbeit bei pathologischem Glücksspiel: Das psychoedukative Entlastungstraining ETAPPE. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-2464-1 [Rezension bei socialnet]

Bull, Nadine und Christine Poppe, 2015. Zuhören, informieren, einbeziehen: Leitfaden für die Arbeit mit Angehörigen in der Psychiatrie. Psychosoziale Arbeitshilfen 31. Köln: Psychiatrie Verlag. ISBN 978-3-88414-594-4 [Rezension bei socialnet]

Büttner, Melanie, Hrsg. 2020. Handbuch Häusliche Gewalt. Stuttgart: Schattauer. ISBN 978-3-608-40045-8

Emmelmann, Ingo und Heinrich Greving, 2019. Erwachsene Menschen mit Behinderung und ihre Eltern: Vom Ablösekonzept zum Freiraumkonzept. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. ISBN 978-3-17-033880-7 [Rezension bei socialnet]

Gyöngyver, Sielaff, 2015. „Dem eigenen Leben leise die Hand wieder hinhalten“ – Resilienzförderung in der Psychiatrie für Angehörige durch Angehörige. In: Jörg Utschakowski, Gyöngyver Sielaff, Thomas Bock und Andreá Winter, Hrsg. Experten aus Erfahrung: Peerarbeit in der Psychiatrie. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 154–160. ISBN 978-3-88414-582-1

Jungbauer, Johannes und Miriam Floren, 2017. Psychosoziale Beratung für Angehörige von Schlaganfallbetroffenen: Das Aachener Modellprojekt „Der Angehörigenlotse“. In: Ute Antonia Lammel und Helmut Pauls, Hrsg. Sozialtherapie. Dortmund: Verlag modernes Lernen, S. 220–229. ISBN 978-3-8080-0802-7 [Rezension bei socialnet]

Kessl, Fabian und Christian Reutlinger, Hrsg. 2022. Sozialraum: Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-29209-6

Kreyer, Christiane und Sabine Pleschberger, 2018. KOMMA – ein nutzerorientierter Ansatz zur Unterstützung von Angehörigen in der häuslichen Hospiz- und Palliativversorgung. In: Zeitschrift für Palliativmedizin. 19(6), S. 229–304. ISSN 1615-2921

Kröger, Christine, Lisa Große und Gernot Hahn, 2024. Angehörigenarbeit. In: Sektion Klinische Sozialarbeit, Hrsg. Handbuch Klinische Sozialarbeit. Weinheim: Juventa, S. 275–285. ISBN 978-3-7799-7537-3

Kupfer, Annett und Frank Nestmann, 2024. Netzwerke und Soziale Unterstützung. In: Sektion Klinische Sozialarbeit, Hrsg. Handbuch Klinische Sozialarbeit. Weinheim: Juventa, S. 117. ISBN 978-3-7799-7537-3

Lenz, Albert, 2021. Ressourcen fördern: Mentalisierungsbasierte Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern und ihren Familien. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-3006-2 [Rezension bei socialnet]

Lottmann, Ralf, 2018. LSBT*I-Senior_innen in der Pflege: Zu Relevanz und Besonderheiten sozialer Netzwerke und der Arbeit mit Angehörigen. In: Pflege & Gesellschaft. 23(3), S. 228–245. ISSN 1430-9653

Minder, Jaqueline, Jeannette Cotar und Urs Hepp, 2019. Die Arbeit mit Angehörigen in der Behandlung von Menschen mit Demenz: Überlegungen zu systemtherapeutischer Diagnostik und Therapie. In: Schweizer Archiv für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 170(2), S. 30–37. ISSN 2297-7007

Oswald, Corinna und Janina Meeß, 2022. Methodenhandbuch Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien. Freiburg i.Br.: Lambertus. ISBN 978-3-7841-3409-3 [Rezension bei socialnet]

Petereit-Zipfel, Heike, 2021. Angehörigenarbeit ist keine Familientherapie. In: Psychotherapie im Dialog. 22(1), S. 52–55. ISSN 1439-913X

Rießen, Anne van und Christian Bleck, Hrsg. 2022. Handlungsfelder und Adressierungen der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-039846-7 [Rezension bei socialnet]

Schone, Reinhold, 2023. Grundlagen der Hilfeplanung und des Schutzauftrags. In: Sabine Wagenblass und Christian Spatscheck, Hrsg. Kinder psychisch kranker Eltern. Köln: Psychiatrie Verlag/utb, S. 107–119. ISBN 978-3-8252-6054-5 [Rezension bei socialnet]

Sielaff, Gyöngyver, 2020. Peerarbeit in der Familienhilfe: Konzept, Weiterbildung, erste Arbeitserfahrungen und ein Ausblick. In: Sozialpsychiatrische Informationen. 50(3), S. 33–37. ISSN 2942-4895

Smith, Jane Ellen und Robert Joseph Myers, 2012. Mit Suchtfamilien arbeiten: CRAFT: Ein neuer Ansatz für die Angehörigenarbeit. Köln: Psychiatrie Verlag. ISBN 978-3-88414-567-8

Trasselli, Claudia, Anne Kristin von Auer und Hans Gunia, 2022. DBT-Familienskills: Ein Praxisleitfaden. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-3181-6

Vauth, Roland, Nadine Bull und Gerda Schneider, 2009. Emotions- und stigmafokussierte Angehörigenarbeit bei psychotischen Störungen: Ein Behandlungsprogramm. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-2235-7 [Rezension bei socialnet]

Vögeli, Samuel und Nina Wolf, 2023. Angehörige von Menschen mit Demenz beraten: Familienzentrierte Beratung, Information und Begleitung. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-456-86008-4

Wilz, Gabriele, 2024. Psychotherapeutic Support for Family Caregivers of People with Dementia: The Tele:TAnDem Manual. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-0-88937-631-1

Wilz, Gabriele und Klaus Pfeiffer, 2019. Pflegende Angehörige. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-2735-2

Zwicker-Pelzer, Renate, 2020. Systemische Beratung und Familientherapie im Kontext von Pflege und Angehörigenarbeit. In: Tanja Kuhnert und Mathias Berg, Hrsg. Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags: Systemische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 224–258. ISBN 978-3-525-40848-3 [Rezension bei socialnet]

5 Informationen im Internet

Selbstvertretungen

Weitere professionalisierte (Beratungs)Angebote

Verfasst von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Prof. Dr. Christine Kröger
Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin
Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit
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Lisa Große
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Zitiervorschlag
Hahn, Gernot, Christine Kröger und Lisa Große, 2024. Angehörige [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 20.10.2024 [Zugriff am: 09.12.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1263

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Angehoerige

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