Anorexia nervosa
Dr. med. Dagmar Pauli
veröffentlicht am 28.10.2021
Anorexia nervosa, auch Magersucht genannt, ist eine schwerwiegende Essstörung. Sie ist gekennzeichnet durch eine psychisch bedingte mangelnde Nahrungsaufnahme und zunehmenden Gewichtsverlust bis hin zu schwerer Unterernährung. Betroffene Menschen nehmen sich häufig trotz massivem Untergewicht als zu dick wahr und setzen sich selbst unter Druck, noch weiter abzunehmen. Die Anorexia nervosa ist ein gefährliches und komplexes psychosomatisches Krankheitsbild mit starken psychischen und körperlichen Sekundärsymptomen und Funktionseinschränkungen.
Überblick
- 1 Bezeichnungen
- 2 Verbreitung (Epidemiologie)
- 3 Ursachen
- 4 Symptome (Klinik) und Diagnostik
- 5 Therapie und Prognose
- 6 Prävention
- 7 Quellenangaben
- 8 Informationen im Internet
1 Bezeichnungen
Anorexia nervosa wird oft vereinfacht als Anorexie bezeichnet. Die Bezeichnung ist griechischen Ursprungs und kann ungefähr mit „nervlich bedingte Appetitlosigkeit“ übersetzt werden.
Die umgangssprachliche Bezeichnung Magersucht legt nahe, dass die Krankheit suchtähnliche Charakteristika aufweist. Insbesondere zeigt sich wie bei den Suchterkrankungen oft eine verminderte Einsicht in das Krankheitsgeschehen und ein hoher sekundärer Krankheitsgewinn (im Falle der Anorexie bedeutet dies zum Beispiel, dass die Betroffenen stolz darauf sind, extrem dünn zu sein). Die Behandlungsmotivation ist dementsprechend bei vielen Betroffenen während langer Zeit sehr gering, was die Behandlung erschwert.
Definition ANOREXIA NERVOSA nach ICD-10 (F 50.0)
Gewichtsverlust mit Body Mass Index (BMI) < 17.5, bei Kindern < p3-10 (3.-10. Altersperzentile)
Gewichtsverlust ist von den Betroffenen selbst herbeigeführt
Selbstwahrnehmung als „zu fett“, niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst
Hormonstörung: Libidoverlust, bei Frauen Amenorrhö (Verlust der Menstruation)
Ausschluss einer Bulimia nervosa
Kasten 1: Diagnostische Kriterien für Anorexia nervosa nach ICD-10
Zentral für die Definition einer voll ausgeprägten Anorexia nervosa ist das Untergewicht. Dieses wird berechnet durch den Body Mass Index BMI (ausgerechnet mit der Formel: Körpergewicht in kg geteilt durch die Körperlänge im Quadrat in m). Da die Normwerte von Kindern und Jugendliche je nach Alter unterschiedlich sind, ist der BMI-Grenzwert für Erwachsene von 17.5 bei Kindern und Jugendlichen nicht gültig. Für sie wird der Grenzwert des BMI daher mit der Perzentilen-Kurve bestimmt.
Neben der Anorexia nervosa gibt es weitere Essstörungen: Bulimia nervosa (Essattacken mit Erbrechen oder anderen Gegenmaßnahmen), Binge Eating (Essattacken ohne Erbrechen). Die klassischen Kategorien der Essstörungen sind nicht auf jede betroffene Person zutreffend, da sich Essstörungen in der klinischen Realität nicht kategorial sondern dimensional zeigen. Dies bedeutet, dass es viele Mischformen und Übergänge zwischen den Essstörungen gibt. Es zeigt sich zudem, dass Betroffene im Laufe ihres Lebens häufig die Diagnose wechseln. Bei jungen Menschen mit Anorexia nervosa kippt die Essstörung im Lebensverlauf nicht selten in eine Bulimia nervosa oder ein Binge Eating.
Orthorexie bezeichnet eine Anorexie-Erkrankung, die durch verminderte Nahrungsaufnahme gekennzeichnet ist, wobei der Wunsch nach einer richtigen Ernährung im Vordergrund steht. Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit den Inhaltsstoffen der Ernährung und Gesundheitsaspekten des Essens, wählen die Nahrung übertrieben sorgfältig aus und nehmen in der Folge zu wenig Kalorien zu sich. Im Gegensatz zur Anorexia nervosa steht also nicht der Wunsch nach Gewichtsabnahme im Vordergrund. Durch Orthorexie kann ebenso schweres Untergewicht mit massiven psychosomatischen Folgeschäden entstehen wie durch die klassische Anorexie.
2 Verbreitung (Epidemiologie)
Essstörungen sind häufige Erkrankungen, insbesondere beim weiblichen Geschlecht. Ca. 5 % der Menschen in Industrieländern entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Essstörung. 70–90 % der Essstörungen treten bei jungen Frauen auf. Ca. 1–2 % aller Frauen und 0,1-0,2 % aller Männer entwickeln im Laufe ihres Lebens eine voll ausgeprägte Anorexia nervosa (Mohler-Kuo et al. 2016; Galmiche et al. 2019). Dies bildet aber nur die Spitze des Eisberges ab, weil es viele atypische Anorexien und Mischformen mit anderen Essstörungen gibt, die nicht minder gefährlich sein können. Einige Untersuchungen weisen darauf hin, dass Essstörungen bei Jugendlichen im Zunehmen begriffen sind.
Historische Untersuchungen und interkulturelle Vergleiche zeigen, dass die Prävalenz der Essstörungen in Industrieländern höher liegt und im Verlauf der Geschichte vermutlich zugenommen hat. Genaue Angaben zum historischen Verlauf der Prävalenz von Essstörungen sind jedoch schwierig, weil von einer historisch höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Beschreibungen aus dem Mittalalter weisen darauf hin, dass es in dieser Zeit bereits einzelne Fälle von religiös bedingtem gefährlichen Fasten mit Untergewicht gab. Anorexia nervosa wurde bereits im 17. Jahrhundert erstmals vom Arzt Richard Morton beschrieben und 1873 als Krankheit mit den noch heute typischen Symptomen vom Arzt Ernest-Charles Lasègue definiert.
3 Ursachen
Essstörungen sind biopsychosoziale Erkrankungen und sind daher multifaktoriell bedingt. Eine Essstörung bei einer betroffenen Person hat nie nur eine Ursache. Die unterschiedliche Prävalenz der Essstörungen in verschiedenen Kulturen weist auf gesellschaftliche Faktoren in der Entstehung hin. Durch den Einfluss der sozialen Medien und den zunehmenden Schlankheits- und Fitnesswahn hat sich während der letzten zehn Jahre das Körperbild von Jugendlichen deutlich verändert. Sie haben ein immer übertriebeneres Schlankheitsideal und lehnen ihren eigenen Körper immer stärker ab (Pauli 2018). Gleichzeitig zeigt sich eine unterschiedliche Vulnerabilität von Individuen, die auf genetische, persönlichkeitsbedingte und lebensgeschichtlichen Faktoren hinweisen.
Eine genetische Veranlagung erhöht die Wahrscheinlichkeit, an einer Anorexie zu erkranken. Persönlichkeitszüge, die Essstörungen begünstigen, sind Perfektionismus, Ängstlichkeit und hohe Ansprüche an sich selbst. Der gesellschaftliche Nährboden von Schlankheitsdruck und Diätwahn führt dazu, dass viele junge Menschen, insbesondere Mädchen, ihren Körper ablehnen, sich zu dick fühlen und Diäten beginnen. Diäten sind wichtige auslösende Faktoren für die Anorexia nervosa und andere Essstörungen. Ist eine anorektische Essstörung im Entstehen begriffen, führt ein psychosomatischer Teufelskreis dazu, dass sich die Symptome immer weiter verstärken. Psychische und körperliche Symptome führen zu immer weiterem Gewichtsverlust, der wiederum die psychischen und körperlichen Symptome verstärkt (siehe Abbildung 1).

4 Symptome (Klinik) und Diagnostik
4.1 Psychische Symptome und Verhaltenssymptome
Eine Anorexia nervosa zeichnet sich durch eine stark eingeschränkte Nahrungsmenge aus. Die Betroffenen leiden meist unter einer Körperwahrnehmungsstörung. Sie sehen sich als dick oder normalgewichtig, obwohl sie bereits stark untergewichtig sind. Sie denken ständig daran, was sie essen dürfen und was nicht und wählen die Nahrungsmittel sehr sorgfältig aus. Viele rechnen ständig nach, wie viele Kalorien sie zu sich nehmen und legen für sich selbst eine extrem niedrige maximale Kalorienzahl fest. Erkrankte sind meist stark auf das Gewicht fixiert und haben panische Angst davor, zuzunehmen. Viele wiegen sich daher ständig und legen ein extrem niedriges Körpergewicht für sich selbst fest. Die Einsicht in das Krankheitsgeschehen ist meist erschwert. Betroffene nehmen sich selbst nicht als gefährdet wahr und wehren sich gegen Hilfe von Angehörigen oder Fachpersonen.
Psychisch verändern sich Menschen mit Anorexia nervosa stark. Sie sind oft verlangsamt in der Sprache, wirken bedrückt und übertrieben ernst. Angehörige beschreiben oft, dass die Erkrankten abgeschottet und für sie nicht erreichbar wirken. Viele werden depressiv. Obwohl die Krankheit mit viel Leid verbunden ist und es den Betroffenen aus Sicht der Bezugspersonen offensichtlich nicht gut geht, wehren sie sich oft verzweifelt gegen Hilfsangebote. Die Angst, durch Hilfe „fett“ zu werden und die Kontrolle zu verlieren, ist größer. Menschen mit Anorexie beschreiben sich oft als bereits vor der Krankheit ehrgeizig und perfektionistisch, manche sind auch im Alltag eher zwanghaft ordentlich und übertrieben kontrolliert. Diese Persönlichkeitszüge verstärken sich meist durch die Anorexie, vor allem, wenn die Krankheit lange besteht.
Ein weiteres häufiges Symptom ist ein übertriebener Bewegungsdrang. Betroffene müssen oft in zwanghafter Weise bis zu mehreren Stunden pro Tag körperliche Übungen (Joggen, Turnen) ausführen. Nicht selten entwickeln die Betroffenen weitere Zwänge rund um das Thema Essen und Körper: Sie beschäftigen sich ständig mit Nahrung, kochen für andere, essen selbst aber nicht mit. Andere fühlen oder messen ständig zwanghaft bestimmte Körperteile bei sich selbst aus, um zu überprüfen, ob diese nicht „fett“ geworden seien. Menschen mit Anorexia nervosa essen sehr wenig und sie haben dennoch ständig den Eindruck, dass sie zu viel gegessen hätten. Deshalb erbrechen manche von ihnen regelmäßig. In Abgrenzung zur Bulimia nervosa haben sie aber vor dem Erbrechen keine Essattacke.
Psychische und Verhaltenssymptome von Anorexia nervosa
Gedankliche Symptome
Panische Angst vor Gewichtszunahme, niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst
Zwanghafte Gedanken ums Essen, Kalorienrechnen
Körperwahrnehmungsstörung: Betroffene sehen sich trotz Untergewicht als dick
Verhaltenssymptome
Bewegungszwänge (übertriebene körperliche Übungen, nicht ruhig sitzen können)
Ständiges Wiegen
Ständiges Betrachten im Spiegel, ständiges Kontrollieren bestimmter Körperteile
Kochen für andere, Essen sehr klein schneiden, verlängertes Kauen, Essen verstecken
Erbrechen
Emotionale Symptome
Depression
Sozialer Rückzug, Abschottung, Weinerlichkeit, übertriebene Ernsthaftigkeit
Gesteigerter Perfektionismus, übertriebene Ansprüche an sich selbst
Kasten 2: Psychische und Verhaltenssymptome von Anorexia nervosa
Natürlich haben nicht alle von Anorexie Betroffenen alle Symptome dieser Liste. Die Mehrzahl der Erkrankten entwickelt aber ein sehr ähnliches klinisches Bild.
4.2 Körperliche Symptome
Anorexia nervosa entwickelt eine hohe Eigendynamik und kann daher körperlich gefährliche Zustände hervorrufen. Durch den Kalorienmangel entsteht eine Unterversorgung verschiedener Organe wie Gehirn, Lunge und Herz. Die Haut trocknet aus, es kommt zu Haarausfall und Hormonstörungen mit letztlich einer Verminderung der Knochendichte. Es kommt zu unnatürlichem feinen Haarwuchs am Körper (Lanugobehaarung). Die Verdauung verlangsamt sich, es kommt zu Verstopfung. Durch zusätzliches Erbrechen können die Blutsalze (Kalium, Natrium) aus dem Gleichgewicht geraten. Dies kann zu gefährlichen Herzrhythmusstörungen führen.

4.3 Differenzialdiagnose
In der Diagnostik einer Essstörung ist es sehr wichtig, dass Fachpersonen mögliche dem Gewichtsverlust zugrunde liegende körperliche Erkrankungen ausschließen. Dies können zum Beispiel Tumoren, chronische Darminfektionen oder eine Schilddrüsenüberfunktion sein. Es ist wichtig, dass solche Krankheiten erkannt und behandelt werden und nicht Zeit durch die Fehldiagnose einer Essstörung verloren geht.
Eine Depression kann aufgrund von Appetitmangel zu Gewichtsverlust führen. Dies ist von einer Essstörung zu unterscheiden, da hier nicht primär der Wunsch nach Schlankheit oder andere kognitive Verzerrungen in Bezug auf Körper und Essen oder Nahrungsmittel vorliegen. Die Differentialdiagnose von Depression und Essstörung kann dadurch erschwert werden, dass auch bei typischen Essstörungen häufig eine Depression folgt. Bei einer primär vorliegenden Depression muss vor allem das depressive Zustandsbild psychotherapeutisch oder medikamentös behandelt werden, wobei sich der Appetit dann durch die Verbesserung der Stimmungslage und des Antriebes wieder einstellt. Bei einer sekundären Depression muss zunächst die Essstörung behandelt und die Ernährung wieder aufgebaut werden.
5 Therapie und Prognose
5.1 Wirksame Psychotherapien
Es gibt wirksame Behandlungsmethoden für Essstörungen. Je früher eine Essstörung behandelt wird, desto größer sind die Erfolgschancen. Zum Krankheitsbild Anorexia nervosa wurden unterschiedliche Wirksamkeitsstudien zu Behandlungsmethoden durchgeführt. (Zipfel et al. 2015).
Bei Erwachsenen mit Anorexia nervosa hat sich zum Beispiel die um eine Motivationsphase erweiterte kognitive Verhaltenstherapie nach Fairburn (CBT-E) als wirksam erwiesen (Fairburn 2011). In der ersten Phase werden die Patientinnen und Patienten nicht vor allem zur Gewichtszunahme gedrängt, sondern es wird an der Motivation für Verhaltensänderung gearbeitet. Die Vor- und Nachteile des Festhaltens an der Essstörung werden sorgfältig erarbeitet. Die Verbesserung der Essstörung geschieht dann mit kleinen Verhaltensänderungen, welche positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen haben. Ängste werden abgebaut und es wird ein individuelles Störungsmodell erarbeitet. Hierbei erkennen die Patientinnen und Patienten, welche Faktoren zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheit in ihrem Fall beigetragen haben und wie diese bekämpft werden können.
Bei Kindern und Jugendlichen mit Anorexia nervosa ist die familienbasierte Therapie in der ambulanten Behandlung die nachweislich wirksamste Methode. Hierbei werden die Eltern nicht als schuldig für die Entstehung der Essstörung bei ihrem Kind angesehen, sondern als Ressource in die Therapie einbezogen. Gemeinsame Mahlzeiten in der Familie werden als hilfreich für alle Beteiligten angesehen. Nicht hilfreiche familiäre Interaktionen wie gegenseitige Vorwürfe und Detaildiskussionen ums Essen können dabei abgebaut und ein unterstützendes Familienklima aufgebaut werden. Auch bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, die Motivation für eine Behandlung der Essstörung schrittweise aufzubauen. Sie werden zusätzlich in der ersten Behandlungsphase mit Hilfe der Eltern durch ein klares und gut strukturiertes Mahlzeitenprogramm wirksam unterstützt (Lock und Le Grange 2015).
Bei der Behandlung von Essstörungen ist es wichtig, dass die Krankheit nicht als Teil der Person gesehen wird. Mit Hilfe von sogenanntem „Externalisieren“, werden die Symptome der Krankheit benannt und der Anorexie zugeordnet. Die Behandler und die Angehörigen versuchen ein Bündnis mit den Betroffenen im Kampf gegen die Anorexie einzugehen.
5.2 Weitere Therapiebausteine
Menschen mit Anorexia nervosa profitieren zusätzlich zur Psychotherapie häufig von weiteren Behandlungsbausteinen. In stationären Behandlungen kommen kreative Therapien wie Musik- und Maltherapie zum Einsatz. Menschen mit Essstörungen haben nicht selten grundsätzlich große Mühe, einen positiven Zugang zu ihrem Körper zu finden, wobei körperzentrierte Therapien wie Bewegungs- und Tanztherapie hilfreich sein können. Diese verschiedenen therapeutischen Zugänge können verborgene Ressourcen der Betroffenen fördern und das Selbstwertgefühl stärken.
Die Ernährungstherapie bzw. Ernährungsberatung dienen dazu, den Betroffenen realistische Vorstellungen von ausgewogener Ernährung zu vermitteln. Nicht selten wissen Menschen mit Anorexie sehr viel über sogenannte „gesunde“ Ernährung. Sie teilen die Nahrungsmittel in „gesund“ und „ungesund“ ein und versuchen nur noch die ihrer Meinung nach gesunden Nährstoffe zu sich zu nehmen. In der Folge wird die Ernährung durch mangelnde Kalorien, mangelnde Kohlehydrate und mangelnde Fette äußerst ungesund. Eine auf die Essstörung zugeschnittene Ernährungsberatung vermittelt neben der Korrektur solcher Fehlannahmen auch eine gesunde Einstellung zu Essen und Körper. Es geht nicht darum, die Nahrungsmittel abzuwiegen und sich an einen akribischen Ernährungsplan zu halten. Es geht darum, dass mit Spaß gegessen wird, der Genuss wieder in den Vordergrund rückt und Essen als gemeinschaftliches und familiäres Ereignis wieder ein positiver Teil des Lebens der Betroffenen wird.
5.3 Stationäre Behandlung
Die stationäre Behandlung erfolgt fachgerecht in einem multimodalen multidisziplinären Ansatz. Dies bedeutet, dass Fachpersonen verschiedener Disziplinen (Psychiatrie, Psychologie, Innere Medizin bzw. Pädiatrie, Pflege, Ernährungstherapie, Bewegungs- oder kreative Therapien) zusammenarbeiten. Mit Hilfe eines Behandlungsplans, der in der modernen Behandlung gemeinsam mit den Betroffenen und bei Minderjährigen zudem mit den Sorgeberechtigten erarbeitet und individuell angepasst wird, soll eine schrittweise Gewichtszunahme erreicht werden. In der Behandlungsvereinbarung werden sowohl die Gewichtsschritte geplant, als auch weitere Eckpunkte der Zusammenarbeit festgehalten.
Bei schwer erkrankten stark untergewichtigen Patientinnen bzw. Patienten kommt dem somatischen Monitoring und dem gut geplanten Ernährungsaufbau eine große Bedeutung zu. In schweren Fällen mit gefährlichem Untergewicht und mangelnder Fähigkeit, auch in stationärer Behandlung die Nahrung bei den Mahlzeiten zu sich zu nehmen, muss unter Umständen vorübergehend mit einer Magensonde ernährt werden.
Stationäre Behandlungen dienen der Normalisierung der Ernährung und der Gewichtszunahme, aber auch der intensiven psychotherapeutischen Bearbeitung der Symptomatik der Essstörung sowie der zugrunde liegenden persönlichen Probleme der Betroffenen. Im stationären Rahmen profitieren die Betroffenen von der Unterstützung durch Mitpatientinnen bzw. -patienten auch im Rahmen von Gruppentherapien. Gruppentherapien können bei fachgerechter Führung eine äußerst positive Dynamik unter den Teilnehmenden auslösen. Die Erkrankten können gemeinsam Übungen durchführen, sich gegenseitig ermutigen und für Fortschritte gegenseitig bestärken.
Eine stationäre Einweisung ist angezeigt, wenn die ambulante psychotherapeutische Behandlung auch mit den vorhandenen zusätzlichen Unterstützungen (Familientherapie, Gruppentherapie, Home Treatment, tagesklinisches Programm) nicht ausreicht, um eine Gewichtszunahme und eine Besserung der psychischen und körperlichen Symptome der Essstörung zu erreichen. Nachfolgend sind die Kriterien für eine stationäre Behandlung aufgelistet (Kasten 3). Die Beurteilung im Einzelfall, wann ein stationärer Eintritt angezeigt ist, erfolgt immer gemeinsam mit den Betroffenen, bei Minderjährigen deren Sorgeberechtigte und den involvierten Fachpersonen.
Kriterien für eine stationäre Einweisung bei Anorexia Nervosa
Anhaltende Gewichtsabnahme trotz ambulanter Behandlung
Gewichtsstagnation im Untergewicht trotz ambulanter Behandlung
Mangelnde Motivation für eine ambulante Behandlung bei schwer kranken Minderjährigen
Fehlende familiäre Tragfähigkeit oder grosse Erschöpfung des Familiensystems bei schwer kranken Minderjährigen
Akute Suizidalität
Somatische Gefährdung (Kreislaufwerte, Blutwerte)
Kasten 3: Kriterien für eine stationäre Einweisung bei Anorexia Nervosa
Eine stationäre Behandlung kann eine Kurzhospitalisation zur somatischen Stabilisierung mit anschließender ambulanter Weiterbehandlung sein oder ein mehrmonatiges umfassendes Therapieprogramm mit dem Ziel der Gewichtsnormalisierung.
Bereits in den letzten Wochen der stationären Behandlung beginnt die Rückfallprophylaxe. Es ist wichtig, dass die erlernten Fortschritte in das häusliche Umfeld nach dem Austritt übertragen werden. Mahlzeiten zu Hause und im sonstigen Umfeld sowie der Umgang mit Sport und Bewegung müssen bereits während des Aufenthaltes und während Tagesurlauben geübt werden.
5.4 Häufige Behandlungsfehler
Menschen mit Anorexia nervosa berichten im Nachhinein häufig, dass sie sich von den behandelnden Fachpersonen gezwungen und nicht ernst genommen gefühlt haben. Es ist wichtig, die Essstörung als eine schwerwiegende Erkrankung zu begreifen, deren primärer Fallstrick im hohen sekundären Krankheitsgewinn und der damit einhergehenden geringen Behandlungsmotivation liegt. Es ist daher wichtig, Menschen mit Essstörungen gut zuzuhören und sie mit den Methoden der motivierenden Gesprächsführung Schritt für Schritt für eine Therapie zu gewinnen.
Bei Jugendlichen ist der fehlende Einbezug der Eltern ein häufiger Behandlungsfehler. Rechtzeitige Familiengespräche und eine Unterstützung der Eltern sind häufig essenziell, um den Teufelskreis des Gewichtsverlustes früh zu unterbrechen.
Es ist wichtig, auch bei übergewichtigen jungen Menschen, einen raschen Gewichtsverlust ernst zu nehmen und Symptome einer Essstörung zu erkennen. Nicht selten werden Essstörungen zu lange verkannt, weil das Gewicht (noch) nicht sehr niedrig ist, obwohl alle übrigen Symptome der Anorexie bereits voll ausgeprägt sind. Es ist daher sehr wichtig, bei der Untersuchung immer eine Gewichtskurve zu zeichnen um abzuschätzen, wie rasch wie viel an Gewicht verloren wurde.
Eine Essstörung ist eine psychosomatische Krankheit, deren Symptomatik sich sowohl psychisch als auch körperlich manifestiert. Eine akute Essstörung bedarf daher neben der psychiatrisch-psychotherapeutischen Diagnostik und Behandlung immer auch einer somatischen Überwachung. Eine Behandlungsübernahme durch eine psychologische oder psychiatrische Fachperson sollte daher nie ohne die Zusammenarbeit mit einer Fachperson aus der somatischen Medizin erfolgen.
5.5 Prognose
Letztlich ist Anorexia nervosa eine lebensgefährliche Erkrankung. Von den Betroffenen, die über 10 Jahre unter dieser Krankheit leiden, sterben ca. 10 % (Steinhausen et al. 2009). Bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa kann jedoch durch eine frühzeitige Diagnose und Behandlung die Prognose entscheidend verbessert werden, sodass meist ein fataler Verlauf vermieden werden kann. Je kürzer die Erkrankung dauert, desto eher können Spätfolgen verhindert werden. Die meisten körperlichen Symptome können sich nach Erreichen eines Normalgewichts zurückbilden. Allerdings gibt es auch Spätfolgen nach chronischer Anorexie wie Osteoporose (verminderte Knochendichte bis hin zu Knochenbrüchen) und Infertilität.
Ca. 30 % der erwachsenen langjährig Betroffenen können geheilt werden, ca. 30 % leiden weiterhin unter eine Essstörung. Ein weiteres Drittel entwickelt im Verlauf des Lebens andere psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen (Steinhausen et al. 2009). Bei Jugendlichen mit kurzer Erkrankungsdauer können jedoch bis zu 80 % in der Symptomatik stark verbessert oder ganz geheilt werden (Herpertz-Dahlmann 2015).
6 Prävention
6.1 Früherkennung
In der Kindheit sind bis zu 20 % der Kinder betroffen von selektivem Essverhalten (sogenanntes „Picky Eating“), wodurch Eltern nicht selten beunruhigt sind. Diese Kinder essen oft nur ausgewählte Dinge, meist wenig Obst und Gemüse. Es handelt sich hierbei um eine Normvariante. Solange sich das Gewicht und der BMI entlang der Perzentile im Normbereich bewegen, besteht kein Handlungsbedarf abgesehen von Beratung der Eltern hinsichtlich einer Entspannung der Interaktion rund um das Essen. Da sich in Familien mit diesen Kindern jedoch ein regelrechter Kampf um das Essen entwickelt, besteht ohne Beratung ein erhöhtes Risiko für die spätere Entwicklung einer Essstörung im Rahmen der Pubertät.
Im Rahmen der Pubertät und während der Jahre der Adoleszenz ist das Selbstwertgefühl junger Menschen noch nicht stabil. Eine Diät in dieser Lebensphase stellt bereits einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung dar. Frühwarnzeichen sind ein schneller Gewichtsverlust und eine zunehmende Beschäftigung mit Themen wie Kalorien, Nahrungsmittel und Figur.
Mögliche Frühwarnzeichen für den Beginn einer Essstörung
rascher Gewichtsverlust (unabhängig von Vorgewicht)
sieht bleich und krank aus, wirkt hohlwangig
hat Ringe unter den Augen
ständiges Frieren
kalte Hände und Füße
extrem niedriger Blutdruck und Puls
verschwindet immer direkt nach dem Essen
weicht gemeinsamen Mahlzeiten aus („Ich habe schon gegessen“)
extra weite Kleider, um Körper zu verstecken
wirkt empfindlich, reizbar, labil und übermäßig ernst
weicht sozialen Aktivitäten aus, lernt dafür umso eifriger
bewegt sich zwanghaft, macht vermehrt Ausdauersport
kocht für andere, ohne selbst richtig mitzuessen
beschäftigt sich übertrieben mit Kalorien und Bestandteilen von Nahrungsmitteln
Kasten 4: Mögliche Frühwarnzeichen für den Beginn einer Essstörung
6.2 Primärprävention
Die Primärprävention von Essstörungen zielt darauf ab, eine gesunde Einstellung zum eigenen Körper und zum Essen zu vermitteln. Gemeinsame Mahlzeiten in der Familie oder im sonstigen sozialen Umfeld beugen Essstörungen vor. Bei den Mahlzeiten sollten das positive Gemeinschaftserlebnis und der Genuss im Vordergrund stehen. Am Familientisch sollte nicht ständig über die Bestandteile der Ernährung oder über Gewichtsprobleme gesprochen werden. Sport für Kinder und Jugendliche sollte vor allem das Gemeinschaftsgefühl und die sozialen Beziehungen fördern und der gesunden Bewegung und dem Spaß dienen und nicht primär dem Kalorienverbrauch.
In der Schule sollte Essstörungsprävention nicht für sich allein stehen und nicht hauptsächlich die Gefahren der Essstörung thematisieren. Ebenso wie reine Programme zur Prävention von Adipositas können diese sonst das Gegenteil des gewünschten Effekts erzielen. Eine effektive schulische Prävention sowohl gegen Essstörungen als auch gegen Adipositas besteht aus Interventionen, in denen in kleinen Gruppen Themen wie gesunde Lebensweise, positive Einstellung zum eigenen Körper, kritische Medienerziehung, Selbstwert, gesunde Einstellung zu Ernährung und Aufklärung über herrschende Fehlmeinungen zu angeblich gesunder Ernährung und Diäten bearbeitet werden (Pauli 2014).
7 Quellenangaben
Fairburn, Christopher G., 2011. Kognitive Verhaltenstherapie und Essstörungen. Stuttgart: Schattauer. ISBN 978-3-608-42836-0
Galmiche, Marie, Pierre Déchelotte, Grégory Lambert und Marie Pierre Tavolacci, 2019. Prevalence of eating disorders over the 2000–2018 period: a systematic literature review. In: The American journal of clinical nutrition. 109(5), S. 1402–1413. ISSN 0002-9165
Herpertz-Dahlmann, Beate, 2015. Adolescent eating disorders: update on definitions, symptomatology, epidemiology, and comorbidity. In: Child and Adolescent Psychiatric Clinics. 24(1), S. 177–196. ISSN 1056-4993
Lock, James und Daniel Le Grange, 2015. Treatment manual for anorexia nervosa: A family-based approach. New-York: Guilford Publications. ISBN 978-1-4625-2346-7
Mohler-Kuo, Meichun, Ulrich Schnyder, Petra Dermota, W. Wei und Gabriella Milos, 2016. The prevalence, correlates, and help-seeking of eating disorders in Switzerland. In: Psychological medicine. 46(13), S. 2749–2758. ISSN 0033-2917
Pauli, Dagmar, 2014. Prävention von Essstörungen. In: Wulf Rössler und Vladeta Ajdacic-Gross, Hrsg. Prävention psychischer Störungen: Konzepte und Umsetzungen. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag, S. 160–169. ISBN 978-3-17-021986-1
Pauli, Dagmar, 2018. Size Zero: Essstörungen verstehen, erkennen und behandeln. München: CH Beck. ISBN 978-3-406-72667-5 [Rezension bei socialnet]
Steinhausen, Hans-Christoph, 2009. Outcome of eating disorders. In: Child and adolescent psychiatric clinics of North America. 18(1), S. 225–242. ISSN 1056-4993
Zipfel, Stephan, Katrin E. Giel, Cynthia M. Bulik, Phillipa Hay und Ulrike Schmidt, 2015. Anorexia nervosa: aetiology, assessment, and treatment. In: The Lancet Psychiatry. 2(12), S. 1099–1111. ISSN 2215-0366
8 Informationen im Internet
- Rechner Body-Mass-Index (BMI)
- Leitlinien-Detailansicht, Diagnostik und Therapie der Essstörungen
- Essstörungen: Erkennung und Behandlung
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu Essstörungen
- Deutsche Gesellschaft für Essstörungen e.V.
- Österreichische Gesellschaft für Essstörungen (ÖGES)
- Schweizerische Gesellschaft für Essstörungen (SGES)
- „Wir haben verlernt, normale Körper schön zu finden (Artikel in FAZ)“
Verfasst von
Dr. med. Dagmar Pauli
Chefärztin, Stv. Klinikdirektorin
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Zürich
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