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Anti-Bias-Ansatz

Birol Mertol, Dana Meyer

veröffentlicht am 07.09.2023

Der Anti-Bias-Ansatz gilt als einer der zentralen Ansätze diversitätsorientierter und antidiskriminierender Pädagogik und Bildung.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Entstehungsgeschichte
    1. 2.1 Hintergrund der Entwicklung
    2. 2.2 Anti-Bias in Deutschland
  3. 3 Grundannahmen
    1. 3.1 Vorurteile & Othering
    2. 3.2 Macht & Internalisierung
    3. 3.3 (Mehrfach-) Diskriminierung & Intersektionalität
  4. 4 Die vier Ziele des Anti-Bias
  5. 5 Handlungsfelder 
  6. 6 Haltungsarbeit
    1. 6.1 Reflexion
    2. 6.2 Handlungsmöglichkeiten
  7. 7 Anti-Bias in der Praxis
  8. 8 Quellenangaben
  9. 9 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Der Anti-Bias-Ansatz steht in der Tradition machtkritischer und emanzipatorischer Bildung und nimmt die verschiedenen Ebenen pädagogischer Arbeits- und Handlungsfelder in den Blick. Dabei steht vor allem die Auseinandersetzung mit der eigenen (professionellen, pädagogischen) Haltung im Mittelpunkt. Anti-Bias kann in diesem Sinne verstanden werden als eine „lebenslange Reise, die in uns selbst beginnt“ (Derman-Sparks 2001, S. 1).

Das Konzept kommt ursprünglich aus der Elementarpädagogik, findet mittlerweile jedoch in vielerlei Bereichen von Pädagogik, Bildung und Beratung Anwendung.

Basierend auf der Annahme, dass Vorurteile und Machtstrukturen das Zusammenleben prägen und damit manchen Menschen in Form von Privilegien in gesellschaftliche Teilbereiche Türen öffnen und anderen verschließen, verfolgt der Anti-Bias-Ansatz das Ziel, Strukturen und Handlungsweisen so zu verändern, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Merkmale, gleichwertig am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Dazu müssen Vorurteile und Diskriminierungen wahrgenommen sowie aktiv auf individueller, kultureller, institutioneller und struktureller Ebene abgebaut werden.

2 Entstehungsgeschichte

2.1 Hintergrund der Entwicklung

Der Weg zur Entstehung des Anti-Bias-Ansatzes wurde maßgeblich durch die gesellschaftlichen Widerstandsbewegungen, wie der Bürger*innenrechtsbewegung der späten 50er- und 60er-Jahre, geebnet. In dem Zusammenhang entstanden viele machtkritische Ansätze, die sich von den dominanzkulturellen abgrenzten. Anfang der 80er-Jahre entwickelte sich aus der Unzufriedenheit an der Haltung „We are all the same“ der Anti-Bias-Ansatz (Fleischer und Lorenz 2012, S. 2). Die zentrale Kritik an dieser Haltung und dem damit verbundenen „Multicultural Education“-Ansatz bezog sich u.a. darauf, dass das Schaffen von „Begegnungen“ ohne Berücksichtigung von Machtverhältnissen dominanzkulturelle Perspektiven und Leitkulturgedanken fördere (Schmidt 2009, S. 32 f.; Derman-Sparks 2001, S. 3).

Entwickelt wurde der Anti-Bias-Ansatz von Louise Derman-Sparks und Carol Brunson-Phillips, unter Beteiligung von Absolvent*innen des Lehramtsstudiums, am Pacific Oak College (Kalifornien) im Bereich der Elementarpädagogik. Im Zentrum stand das Ziel, den Primar- und Elementarbereich antirassistisch und damit auch gerechter zu gestalten (Mertol 2017, S. 385).

Nach der offiziellen Abschaffung der Apartheid suchten Anfang der 1990er-Jahre südafrikanische Pädagog*innen der Early Learning Ressource Unit (ELRU) nach Wegen, die „Apartheid in den Köpfen“ der Menschen zu überwinden und fanden Anschluss an den Anti-Bias-Ansatz (Anti-Bias-Netz 2016, 11 f.)

2.2 Anti-Bias in Deutschland

In kontinuierlichen Kooperationen zwischen den einzelnen Praxisorten gelangte der Ansatz über zwei Wege nach Deutschland. Zum einen entwickelte die Fachstelle Kinderwelten Ende der 1990er-Jahre den Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung als inklusives Praxiskonzept für Kitas weiter. Dieser basiert auf dem Situationsansatz und dem Anti-Bias-Ansatz.

Ungefähr zeitgleich fand das Konzept im Rahmen des Projekts „Vom Süden Lernen“ vom INKOTA-netzwerk e.V., in enger Zusammenarbeit mit südafrikanischen Trainer*innen, den Weg in die deutsche politische (Erwachsenen-)Bildung. Der Verein INKOTA lud zum Perspektivwechsel ein, indem er die Frage aufwarf, welche Schieflagen es im Globalen Norden und welche Bildungsansätze es hierzu im Globalen Süden gäbe. Seitdem wird der Anti-Bias-Ansatz von Multiplikator*innen sowohl in der frühkindlichen Bildung, der schulischen und außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit sowie der Erwachsenenbildung kontinuierlich weiterentwickelt und hat sich als festes Konzept der Antidiskriminierungsarbeit etabliert.

3 Grundannahmen

Das englische Wort „bias“ kann mit „Voreingenommenheiten“, „Einseitigkeiten“ oder auch „Schieflagen“ übersetzt werden. Das „Anti“ artikuliert die zentrale Prämisse des „Aktivwerdens“ gegen die damit einhergehenden Unterdrückungen und Diskriminierungen (Derman-Sparks et al. 1989, S. 3; Schmidt 2009, S. 23).

In diesem Sinne kann der Anti-Bias-Ansatz als umfassender, interdisziplinärer, praxisorientierter und an der eigenen (professionellen, pädagogischen) Haltung arbeitender Ansatz verstanden werden (Trisch 2013, S. 91). Trisch benennt verschiedene Wissenschaftsdisziplinen, deren Ergebnisse in diesen einfließen:

Diese werden nochmals in Teildisziplinen unterteilt, sodass deutlich wird, welche vielschichtigen Einflüsse den Anti-Bias-Ansatz ausmachen.

Mit der Vision einer diskriminierungsfreien und gerechten Gesellschaft wird das Ziel verfolgt, Schieflagen ausfindig zu machen, sie zu analysieren und Gegenstrategien zu entwickeln. Dabei werden gesellschaftlich ungleiche Positionierungen, Ressourcenverteilungen und Machtverhältnisse sowie deren vielschichtige Verstrickungen in unserem Alltag betrachtet. Ferner werden sowohl verschiedene Ebenen von Diskriminierungen als auch Überschneidungen und Wechselwirkungen verschiedener Diskriminierungsformen (Intersektionalität) (z.B. Rassismus, Klassismus und Sexismus) thematisiert und analysiert (a.a.O., S. 17).

3.1 Vorurteile & Othering

Bereits in der frühen Kindheit beginnt ein Prozess der Aneignung von Stereotypen, Vorurteilen und der Unterscheidung zwischen der „eigenen Gruppe“ und den „Anderen“ (Bierhoff und Rohmann 2008).

In einem ersten Schritt bilden sich gedankliche Kategorien, sogenannte „Schubladen“ aus. Diese werden mit Bildern und Vorstellungen über Eigenschaften sowie Merkmalen einer Kategorie versehen. Dadurch bilden sich Klischees und Stereotype – z.B. „weiße deutsche Kinder sind alle unterschiedlich und individuell“, während „alle BIPoC Kinder mit türkischer Migrationsbiografie muslimisch und kulturell homogen geprägt sind“ (BIPoC = Black, Indigenous and People of Color). Wenn diese dann noch bewertet werden (z.B. nach dem Muster: besser – schlechter, schneller – langsamer, zivilisiert – nicht zivilisiert), entstehen Vorurteile.

Der Prozess, Menschen zu „verandern“, kann als Othering bezeichnet werden. Dabei wird die eigene Position als „Normalität“ konstruiert bzw. wahrgenommen und das Selbstbild somit gegenüber dem „Anderen“ aufgewertet. Die Konstruktion von einem „Wir“ und „Sie“ und der einhergehenden Bewertung mit einer zivilisatorischen Weiterentwicklung ist historisch mit dem Kolonialismus verflochten und spiegelt sich im Eurozentrismus wider.

Vorurteile und Stereotype sind somit auch nicht als individuelle und isolierte „Fehler“ zu verstehen, sondern als strukturell gesellschaftlich vorherrschende Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster, mit denen Komplexitätsreduktionen betrieben, klare Zugehörigkeiten hergestellt, positive Selbstbilder erhalten sowie Machtstrukturen (re-)produziert und legitimiert werden (Schmidt, Dietrich und Herdel 2011, S. 164).

Es gibt keine vorurteilsfreie Wahrnehmung der Realität. Vorurteile und Stereotype zu erkennen, zu dekonstruieren und ihnen entgegenzuwirken ist daher eine zentrale Aufgabe pädagogischer Fachkräfte im Kontext des Anti-Bias (Mertol 2022; Herdel 2007, S. 3).

3.2 Macht & Internalisierung

Entsprechend des zuvor skizzierten Otherings werden Unterschiede (auch Differenzierungen genannt) zwischen Menschen hierarchisiert. Diese Bewertungen werden durch alltägliche Sprach- und Handlungspraxen, in denen Machtkonstrukte als normativ reproduziert werden, verinnerlicht. Die Verinnerlichungen betreffen sowohl diejenigen in unterdrückten als auch in dominierenden Positionen. Gleichzeitig gibt es bei jedem Menschen Erfahrungen mit beiden Positionen. In diesem Fall sprechen wir von verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung. Diese Internalisierung geschieht durch Botschaften über die eigenen Gruppenzugehörigkeiten sowie durch Erfahrungen mit Privilegierung oder Diskriminierung (Derman-Sparks 2001, S. 7).

„Internalisierte […] Machtverhältnisse beschreiben Dominanz- und Unterdrückungsstrukturen, die so lange erlebt worden sind, dass sie nicht mehr als solche […] erkannt werden. Sie haben sich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte tief in Denk- und Verhaltensmuster eingegraben und sind zur Normalität geworden“ (Trisch und Winkelmann 2009, S. 62).

3.3 (Mehrfach-) Diskriminierung & Intersektionalität

Vorurteile können im Zusammenspiel mit Macht zu Diskriminierung führen (siehe Abbildung 1). Macht kann hierbei Verschiedenes bedeuten, z.B.:

  • Macht über jemanden oder etwas zu haben,
  • Etwas (mit-) entscheiden zu können
  • handeln zu dürfen
  • Deutungshoheiten zu haben oder
  • Privilegien bzw. Vorteile Eigeninteressen zu nutzen.
Diskriminierungsmodell
Abbildung 1: Diskriminierungsmodell (Darstellung in Anlehnung an Fleischer und Lorenz 2012, S. 5; Schmidt 2009, S. 82; Anti-Bias-Netz 2016, S. 15)

Diskriminierung kann bewusst oder auch unbewusst ausgeübt werden. Die Effekte und Wirkweisen der Diskriminierung bleiben jedoch davon unberührt. Zudem kann sich Diskriminierung auf drei unterschiedlichen Ebenen artikulieren, die gleichzeitig ihre Wirkungsmacht vollziehen können:

  • Auf zwischenmenschliche Ebene findet sie in Interaktions- und Kommunikationsprozessen statt.
  • Die institutionelle Ebene beinhaltet etablierte Rechte, Traditionen, Gewohnheiten – also soziale Praxen – und Verfahren, durch die bestimmte Gruppen und Menschen mittels machtvoller Zuschreibungen systematische Benachteiligung erfahren (Schmidt, Dietrich und Herdel 2011, S. 163).
  • Die ideologisch-diskursive Ebene beinhaltet Maßstäbe zur Bewertung, Beurteilung und Benachteiligung (z.B. was normal ist, mit Blick auf Normen, Werte, Ideale) aus dominanten Diskursen und Ideologien (Schmidt 2009, S. 85).

In der Analyse von Diskriminierungen und Diskriminierungsmechanismen werden neben subjektiven Einstellungen und individuellen Verhaltensweisen auch gesellschaftliche, historische und globale Strukturen (z.B. koloniale Kontinuitäten) sowie deren Verstrickungen untereinander in den Blick genommen. Dadurch, dass Menschen verschiedene Identitätsmerkmale innehaben, können auch mehrere Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus gleichzeitig und dabei auch in Wechselwirkung zueinander auftreten. Diese Analyse solcher Überschneidungen von diskriminierungsrelevanten Differenzlinien wird Intersektionalität genannt. Die historischen Wurzeln dieses Ansatzes gehen zurück bis ins 19. Jahrhundert (Busche 2016, S. 8).

4 Die vier Ziele des Anti-Bias

Die vier grundlegenden Ziele des Anti-Bias-Ansatzes sind für alle Menschen die gleichen und auf alle (Arbeits-)Kontexte übertragbar bzw. anwendbar. Sie gelten auch als Grundgerüst für die Praxis:

  1. Identität stärken: Jeder Mensch findet Anerkennung und Wertschätzung, als Individuum und als Mitglied in einer bestimmten sozialen Gruppe. Dazu gehören Selbstvertrauen und ein Wissen um seinen eigenen Hintergrund.
  2. Erfahrungen mit Vielfalt ermöglichen: Auf der Basis einer gestärkten Ich- und Bezugsgruppen-Identität wird den Beteiligten ermöglicht, aktiv und bewusst Erfahrungen mit Menschen zu machen, die anders aussehen und sich anders verhalten als sie selbst, sodass sie sich mit ihnen wohlfühlen und Empathie entwickeln können.
  3. Kritisches Denken über Gerechtigkeit anregen: Die Menschen erhalten Impulse, um über Vorurteile, Machtasymmetrien und Ideologien der Überlegenheit und Unterlegenheit zu reflektieren.
  4. Aktivwerden gegen Unrecht und Diskriminierung: Kritisch Denkende werden ermutigt, sich aktiv und gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit einzusetzen sowie sich gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr zu setzen, die gegen sie oder andere gerichtet sind. (angelehnt an: Reddy 2019, S. 22)

5 Handlungsfelder 

Entlang dieser Ziele nimmt der Anti-Bias-Ansatz verschiedene Handlungsfelder in den Blick (siehe Abbildung 2). Im Rahmen der pädagogischen Interkation geht es um:

  • methodische Zugänge,
  • dialogische Grundsätze,
  • diskriminierungskritische Sprache,
  • Interventionsstrategien bei Diskriminierung,
  • Empowermentkonzepte,
  • Raumgestaltung und
  • die kritische Sichtung von Spiel- und Lernmaterial wie z.B. Kinderbüchern, Schulbüchern o.Ä.

Eine Organisation kann sich, analog zum Individuum, entscheiden, Stereotype und Vorurteile zu reproduzieren und Ausschlüsse zu produzieren oder eben antidiskriminierend zu sein. Die Ebenen der Organisations- und Teamentwicklung sowie der Netzwerkarbeit sind daher zentrale Bausteine eines Anti-Bias-Prozesses. Diese sollten im besten Fall mit einer externen Beratung begleitet und durch diese Person moderiert werden.

Der Anti-Bias-Ansatz eignet sich zudem, um Reflexions- und Veränderungsprozesse in der Kommunikation mit Eltern, Sorgeverantwortlichen und Familien zu initiieren, denn auch die Begegnung zwischen diesen und pädagogischen Fachkräften ist nie frei von Vorurteilen, Stereotypen und festgefahrenen Bildern. In diesem Sinne sollte ein aufrichtiger Dialog etabliert werden, der eine Diskussion über die unterschiedlichen Standpunkte eröffnet und danach strebt, Klarheit, Verständnis und Lösungen zu erlangen, die für alle Beteiligten akzeptabel sind. Dafür müssen sichere Rahmenbedingungen hergestellt werden, indem die von der Anti-Bias-Arbeit aufgeworfenen Fragestellungen, Themen und Probleme miteinander diskutiert werden können. In diesem Zusammenhang sowie im Sinne der Familienbildung sollten die Familien am besten bereits in die Entwicklung und im Weiteren in die Umsetzung sowie Evaluation der institutionellen diversitätsreflektierten und diskriminierungskritischen Einrichtungsgestaltung einbezogen werden (Derman-Sparks et al. 1989, S. 97).

Haltungsarbeit
Abbildung 2: Haltungsarbeit (eigene Darstellung nach Mertol und Meyer 2024)

6 Haltungsarbeit

Ausgangspunkt einer Haltungsarbeit stellt die eigene Verortung und kritische Selbstreflexion dar, die dabei als eine unentbehrliche professionelle Kompetenzperspektive zu verstehen ist. Ziel dabei ist es, zu erkennen, welche Auswirkungen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft auf einen selbst und andere haben, um daraus konkrete Handlungsmöglichkeiten für die Praxis zu entwickeln.

6.1 Reflexion

Menschen werden in eine Welt hineingeboren, in der schon mitunter seit Jahrhunderten Strukturen und Kategorien von Dominanz- und Unterdrückungsverhältnissen aufgebaut wurden. Dies führt dazu, dass sie − abhängig von ihren Zugehörigkeiten und den damit verbundenen privilegierten oder benachteiligten Positionen − Wissensbestände übernehmen und internalisieren (Mertol 2022). Dies hat Auswirkungen auf die alltägliche Wahrnehmung. Für ein diskriminierungskritisches Bestreben bedeutet das, dass es „einer Standpunktsensibilität und -reflexivität [bedarf], [die] die eigenen Verstrickungen, Vor- und Nachteile sowie Handlungsmöglichkeiten und Verantwortungsübernahmen in einer von Rassismen und anderen Herrschaftsformen beeinflussten Gesellschaft berücksichtigt“ (Mecheril und Melter 2010, S. 172).

Dabei geht es nicht darum, sich schuldbewusst mit der Situation der „unterdrückten Anderen“ auseinanderzusetzen oder Anleitungen für den Umgang mit den „vorurteilsbeladenen Anderen“ zu erhalten, sondern darum, die eigene Verstrickung in Dominanz- und Unterdrückungsverhältnisse zu reflektieren, zu spüren und zu erleben.

Niemand ist dabei ausschließlich ein ohnmächtiges „Opfer“ oder „allmächtig privilegiert“. Denn in der gleichzeitigen Auseinandersetzung mit beiden Themen können die unterschiedlichen Positionsanteile in gesellschaftlichen Verhältnissen sichtbar sowie in einem weiteren Schritt alternative Möglichkeiten entwickelt werden, um Empowermentprozesse zu entfalten und gleichzeitig Strategien des Powersharings nachzukommen (Mertol 2022). Can äußert in diesem Zusammenhang, dass echte Transformation gegen Diskriminierungs- und Machtungleichverhältnisse nur gelingen kann,

„wenn sich nicht nur Machtarme untereinander (Doing Empowerment), sondern auch Machtreiche (Doing Powersharing) ohne paternalistische Bevormundung solidarisieren. Insoweit sollte Doing Empowersharing, also das Zusammendenken von Empowerment und Powersharing, als handlungsmächtige Maxime auch wegweisend für die politisch praktische Bildungsarbeit“ sein (Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e.V., 2018, S. 33).

Diese bestehenden individuellen Gleichzeitigkeiten bieten damit einhergehend unterschiedliche Einflussmöglichkeiten in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen. Pädagogische Fachkräfte haben allein aufgrund ihrer Profession und ihres Alters erheblichen Einfluss und Möglichkeiten auf die Entwicklung von Kindern. In diesem Sinne kann das in Fachkraft enthaltene Wort „Kraft“ hierbei auch als „Power/​Macht“ übersetzt werden.

6.2 Handlungsmöglichkeiten

Das Aneignen von Fachwissen im Kontext von Diskriminierungskritik stellt eine Grundlage der Haltungsarbeit dar. Dies kann über das Lesen von Fachliteratur, Artikeln oder Blogbeiträgen geschehen. Genauso gut können entsprechende Fortbildungen, Workshops und Trainings mit selbstreflektierenden Übungen besucht werden. Ebenfalls empfiehlt sich, die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl inspirierender und zur Reflexion anregender Medien, wie Dokumentationen, Filmen, Podcasts oder auch das aufmerksame Sichten soziokultureller Beiträge (Lyrik, Songs, bildender Kunst, Performances usw.).

Basierend auf diesem Wissen sollte das Ziel verfolgt werden, weniger diskriminierend zu kommunizieren und die eigene Sprache permanent, lern- und reflexionsfreudig anzupassen. Dazu gehört es, diskriminierende Begriffe aus dem Vokabular zu streichen, ohne jeglichen Versuch, sie doch noch legitimieren zu wollen. Insbesondere in pädagogischen Settings gilt es daher besonders verantwortungsvoll mit Begrifflichkeiten zu agieren.

Zu Haltungsarbeit gehört es ferner, sich mit den eigenen Abwehrmechanismen, wie Widerstand, Leugnung, Scham- und Schuldgefühlen auseinanderzusetzen. Diese gilt es wahrzunehmen und zu reflektieren. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang auch die Erarbeitung eines Umgangs mit Fehlern und der Aufbau einer Kultur der (eigenen) Fehlerfreundlichkeit, bei gleichzeitiger Verantwortungsübernahme. Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen heißt u.a. sich für diskriminierendes Verhalten zu entschuldigen, die Situation für sich selbst zu analysieren und aus ihr zu lernen. Dazu gehört aber auch das Eingeständnis, dass die Verletzung nicht rückgängig und nicht „wiedergutgemacht“ werden kann.

7 Anti-Bias in der Praxis

Immer mehr Erzieher*innen und Leitungen von Kindertagesstätten setzen sich mit dem Anti-Bias-Ansatz auseinander, um die eigene Einrichtung und deren pädagogischen Alltag vorurteilsbewusst und diskriminierungskritisch zu gestalten. Hierbei kann auf einen großen Fundus an Materialien u.a. von der Fachstelle Kinderwelten oder auf Tipps des Verband binationaler Familien zurückgegriffen werden. Dort gibt es Tipps für diversitätssensible Kinderbücher, Spielmaterialien, Empfehlungen für den Alltag und ein umfangreiches Qualifizierungsangebot, das auf allen Handlungsebenen agiert.

Doch obwohl der Ansatz aus der Elementarpädagogik kommt, hat er sich, wie beschrieben, enorm weiterentwickelt. Er findet in vielerlei Bereichen von Pädagogik, Bildung und Beratung Anwendung. Konkret gibt es zahlreiche Angebote zur Weiterbildung im Bereich Kinder- und Jugendarbeit/​-hilfe, Schule, Freiwilligendienste, internationale (Austausch-)Projekte, politische Bildung, Multiplikator*innen und Erwachsenenbildung.

Im Sinne der Haltungsarbeit hat sich der Anti-Bias-Ansatz, neben Social-Justice-Trainings und fokussierten Schulungen im Bereich von Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsformen, daher als eines der wesentlichen Konzepte umfassender diskriminierungskritischer Fortbildungsangebote in der Bildungslandschaft etabliert. Es gibt zahlreiche freie Trainer*innen, Netzwerkstellen, Fachberatungen sowie Einrichtungen, die sich darauf spezialisiert haben und Workshops, Trainings, Fort- und Weiterbildungen bis hin zu Organisationsberatungen anbieten.

Aber auch jenseits von Pädagogik und Bildung wird der Ansatz immer häufiger angewandt. So finden zunehmend Anti-Bias-Trainings für Verwaltungen, medizinische Einrichtungen und viele weitere Dienstleitungsanbieter*innen und Unternehmen statt.

8 Quellenangaben

Anti-Bias-Netz, 2016. Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz. Freiburg im Breisgau: Lambertus, Glossar, S. 141–143. ISBN 978-3-7841-2608-1 [Rezension bei socialnet]

Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e.V., 2018. Interviews: Die Diskussion um Werte sollte unabhängig von Migration und Flucht zentrales Thema der politischen Arbeit sein. In: Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e.V., Hrsg. Politische Jugendbildung und Teilhabechancen in der Migrationsgesellschaft gestalten [online]. Wuppertal: Bundesausschuss Politische Bildung (bap) e.V. [Zugriff: 31.07.2023]. Verfügbar unter: https://empowered-by-democracy.de/wp-content/​uploads/2018/11/BAP_EbD_Broschuere_RZ_web.pdf

Busche, Mart, 2016. Warum Linke Bildungsarbeit Intersektional sein sollte. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Hrsg. Intersektionalität: Bildungsmaterialien der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 2016(4). Berlin: Media Service GmbH, S. 8–11. ISSN 2513-1222

Derman-Sparks, Louise, 2001. Anti-Bias-Arbeit mit jungen Kindern in den USA [online]. Berlin: ISTA Institut für den Situationsansatz [Zugriff am: 17.02.2023]. Verfügbar unter: https://situationsansatz.de/publikationen/​anti-bias-arbeit-mit-jungen-kindern-in-den-usa/

Derman-Sparks, Louise et al., 1989. Anti-Bias-Curriculum: Tools for Empowering Young Children. Washington D.C.: National Association for the education of Young Children. ISBN 978-0-93598-920-5

Fleischer, Eva und Friederike Lorenz, 2012. Differenz(ierung)en, Macht und Diskriminierung in der Sozialen Arbeit? Neue Perspektiven mit dem Anti-Bias-Ansatz. In: soziales_kapital [online]. 2012(8) [Zugriff am: 17.02.2023]. ISSN 2070-3481. Verfügbar unter: https://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/​article/view/245/386

Herdel, Shantala, 2007. Was ist Anti-Bias. In: Europahaus Aurich, Hrsg. Demokratie verstehen und leben: [online] Methodenbox: Demokratie-Lernen und Anti-Bias-Arbeit. Aurich

Mecheril, Paul und Claus Melter, 2010. Gewöhnliche Unterscheidungen: Wege aus dem Rassismus. In: Paul Mecheril et al., Hrsg. Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz Verlag, S. 150–178. ISBN 978-3-407-34205-8 [Rezension bei socialnet]

Mertol, Birol, 2017. Der Anti-Bias-Ansatz als Grundlage für eine Vorurteilsreflektierte Pädagogik am Beispiel des MIKA-Methodenkoffers. In: Kemal Bozay und Dierk Borstel, Hrsg. Ungleichwertigkeitsideologien in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 381–402. ISBN 978-3-658-14244-5

Mertol, Birol, 2022. Der Anti-Bias-Ansatz zur Stärkung einer diversitätsorientierten und diskriminierungskritischen Bildungspraxis [online]. Bonn: Bundesausschuss für politische Bildung (bap) e.V., 02.11.2022 [Zugriff: 17.02.2023]. Verfügbar unter: https://profession-politischebildung.de/grundlagen/​diversitaetsorientierung/​anti-bias-ansatz/

Mertol, Birol und Dana ​Meyer, 2024. „Ich? Ich bin doch nicht rassistisch!“: Rassismuskritische Reflexionen und Praxis mit dem Anti-Bias-Ansatz. In: Seyran Boctancı und Emra Ilgün-Birhimeoğlu, Hrsg. Elementarpädagogik in der postmigrantischen Gesellschaft: Theoretische und empirische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik (Arbeitstitel). Weinheim: Beltz/​Juventa. Erscheint voraussichtlich Anfang 2024

Mertol, Birol und Miriam Weilbrenner, 2022. Intersektionale Professionalisierung aus der Perspektive des Anti-Bias-Ansatzes. In: Raphael Bak und Claudia Machold, Hrsg. Kindheit und Kindheitsforschung intersektional denken: Theoretische, empirische und praktische Zugänge im Kontext von Bildung und Erziehung. Wiesbaden: Springer VS, S. 323–337. ISBN 978-3-658-36759-6

Reddy, Prasad, 2019. „Hier bist Du richtig, wie Du bist!“: Theoretische Grundlagen, Handlungsansätze und Übungen zur Umsetzung von Anti-Bias-Bildung für Schule, Jugendarbeit, Soziale Arbeit und Erwachsenenbildung. Düsseldorf: IDA Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. ISBN 978-3-9821886-1-4

Schmidt, Bettina, 2009. Den Anti-Bias-Ansatz zur Diskussion stellen: Beitrag zur Klärung theoretischer Grundlagen in der Anti-Bias-Arbeit. Oldenburg: Bis-Verlag. ISBN 978-3-8142-2158-8

Schmidt, Bettina, Katharina Dietrich und Shantala Herdel (Anti-Bias-Werkstatt), 2011. Anti-Bias-Arbeit in Theorie und Praxis – kritische Betrachtung eines Antidiskriminierungsansatzes. In: Wiebke Scharathow und Rudolf Leiprecht, Hrsg. Rassismuskritik: Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 154–170. ISBN 978-3-89974-368-5

Trisch, Oliver, 2013. Der Anti-Bias-Ansatz: Beiträge zur theoretischen Fundierung und Professionalisierung der Praxis. Stuttgart: ibidem-Verlag. ISBN 978-3-8382-0418-5 [Rezension bei socialnet]

Trisch, Oliver und Anne Sophie ​Winkelmann, 2009. Die eigenen Erfahrungen in einen größeren Kontext stellen: Anti-Bias-Arbeit in Theorie und Praxis. In: Stephan Bundschuh, Birgit ​Jagusch und Hanna Mai, Hrsg. Holzwege, Umwege, Auswege – Perspektiven auf Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. IDA e.V. Düsseldorf. S. 61–63

9 Informationen im Internet

Verfasst von
Birol Mertol
Bildungsreferent im Schwerpunkt machtkritische und antidiskriminierende Bildungsarbeit bei der FUMA Fachstelle Gender & Diversität NRW
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Dana Meyer
Referentin für kritisch-emanzipatorische politische Bildung und Anti-Bias-Trainerin
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Dana Meyer.

Zitiervorschlag
Mertol, Birol und Dana Meyer, 2023. Anti-Bias-Ansatz [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 07.09.2023 [Zugriff am: 26.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4716

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Anti-Bias-Ansatz

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