Armuts- und Reichtumsbericht
Prof. Dr. Christoph Butterwegge
veröffentlicht am 16.03.2023
Unter einem Armuts- und Reichtumsbericht versteht man einen Sozialreport, der die Einkommens- und Vermögensverhältnisse eines Landes, einer Region oder einer Kommune dokumentiert. Da die Bundesregierung im Jahr 2001 ihren ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt hat und ihm seither pro Legislaturperiode einen weiteren folgen lässt, wird der Begriff heute in aller Regel nur für diese Form der Sozialberichterstattung verwendet.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Entstehungshintergrund
- 3 Methodik, Inhalt und Aussagen des 1. Armuts- und Reichtumsberichts
- 4 Die Umdeutung des Gerechtigkeitsbegriffs im 2. Armuts- und Reichtumsbericht
- 5 Biografisierung, Pädagogisierung und Psychologisierung des Armutsproblems im 3. Bericht
- 6 Diskussionen und Kontroversen um den 4. Regierungsbericht
- 7 Verharmlosung der Armut und Verschleierung des Reichtums im 5. Bericht
- 8 Corona, Armut und Reichtum im 6. Bericht
- 9 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Bisher hat die Bundesregierung sechs Armuts- und Reichtumsberichte vorgelegt, die unter Beteiligung eines Beraterkreises, in dem Arbeitgeber- und Wohlfahrtsverbände sowie Gewerkschaften vertreten waren, und eines Wissenschaftlichen Gutachtergremiums, das aber ebenso wie die Letzteren keinerlei Mitbestimmungsrechte hat, vom Sozialministerium erstellt wurden. Danach äußern sich andere Ressorts zu dem Entwurf, bevor ihn das Kabinett endgültig beschließt. Die ausnahmslos sehr umfangreichen Dokumente enthalten zahlreiche Daten und Statistiken zur Armutsentwicklung, wohingegen der Reichtum bis zuletzt eher stiefmütterlich behandelt wurde. In allen Berichten dominiert eine Verharmlosung der Armut und eine Verschleierung des Reichtums, was auf dem Willen der unterschiedlichen Bundesregierungen beruht, ihre eigene Politik als erfolgreich darzustellen, statt die soziale bzw. sozioökonomische Ungleichheit offen als Kardinalproblem unserer Gesellschaft zu benennen, Ursachen für die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich zu analysieren sowie geeignete Lösungen ins Auge zu fassen.
2 Entstehungshintergrund
Bis zur Jahrtausendwende weigerte sich die Bundesregierung, Armut als gesellschaftliche Realität anzuerkennen. Deshalb suchten Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Kirchen dieses Problem – so gut es ging – selbst zu dokumentieren (hierzu mit entsprechenden Beispielen: Butterwegge 2021, S. 33 ff.). Im Februar 1994 erschien der erste Armutsbericht des DGB, der Hans-Böckler-Stiftung und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, im November 2000 der mit über 600 Seiten noch umfangreichere zweite (Hanesch et al. 1994; Hanesch et al. 2000). Auch manche Kommunen und einzelne Länder bauten früher als der Bund eine regelmäßige Berichterstattung zum Thema „Armut“ auf, wenngleich es den meisten Verwaltungen schwerfiel, das Phänomen als solches offen zu benennen. Deshalb wurden die einschlägigen Materialsammlungen häufig verschämt „Sozialberichte“ genannt. Sie glichen nicht selten „Datenfriedhöfen“, die vielfach erheblich mehr über die Belastung des kommunalen Haushalts durch Sozialhilfekosten als über die reale Lebenssituation der Armen aussagten (Oelschlägel 1994, S. 305).
Während es auf regionaler bzw. lokaler Ebene schon länger einzelne Sozialberichte gab, die sich darauf konzentrierten, das Ausmaß der Armut in einer Stadt oder einem Bundesland zu erfassen, lehnte die damalige CDU/CSU/FDP-Koalition wiederholt Anträge der Oppositionsfraktionen ab, denselben Versuch auf zentralstaatlicher Ebene zu unternehmen. Erst die rot-grüne Koalition legte im April 2001, zweieinhalb Jahre nach dem Regierungswechsel, den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht vor. Seither wird in jeder Legislaturperiode regierungsoffiziell dokumentiert, welches Ausmaß die soziale Ungleichheit hierzulande erreicht hat.
3 Methodik, Inhalt und Aussagen des 1. Armuts- und Reichtumsberichts
Das ohne großen zeitlichen Vorlauf erstellte Dokument, welches aus einem Berichtsteil und einem nur wenig dünneren Materialband bestand (BMAS 2001), beeindruckte zwar durch seine immense Datenfülle, enttäuschte aber in konzeptioneller Hinsicht und ließ vor allem klare Aussagen zu den Ursachen der sozialen Polarisierung, zum Reichtum und zur Armutsbekämpfung vermissen. Hinsichtlich seiner Datenbasis ging der Bericht bis 1973 zurück und reichte gewiss nicht zufällig nur bis zum Amtsantritt von Rot-Grün im Herbst 1998. Denn dies ermöglichte es der neuen Bundesregierung, darin die Versäumnisse ihrer Amtsvorgängerinnen anzuprangern, ohne selbst für politische Fehler einstehen zu müssen.
Obwohl bzw. vielleicht auch gerade weil ihm hauptsächlich eine symbolische Bedeutung zukam, wirkte der Bericht als Fanal, dass Armut in der Bundesrepublik existierte, dass die Regierung dem jahrzehntelang verleugneten Umstand einer sozialen Spaltung endlich Rechnung trug und dass sie dem Problem den Kampf erklärte. Oskar Negt sah darin denn auch „einen historischen Fortschritt für die Armutspolitik“, welche bis dahin „ersatzweise und unzulänglich“ von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen betrieben worden sei (Negt 2002, S. 7). Gleichwohl wies der Regierungsbericht zahlreiche Lücken, methodische Mängel und grobe Fehlinterpretationen auf, die es seinen Leser:innen nicht erlaubten, sich ein adäquates Bild von den „Lebenslagen in Deutschland“ zu machen.
Rot-Grün setzte die Tradition aller Bundesregierungen fort, den massenhaften Bezug und die sich verfestigende Abhängigkeit vieler Menschen von Sozialhilfe nicht etwa als Folge bzw. Ausdruck der wachsenden Armut zu begreifen, sondern darin umgekehrt einen (Teil-)Erfolg des Wohlfahrtsstaates bei der Armutsbekämpfung zu sehen. Obwohl der Leistungsbezug zweifellos ein starkes Indiz für Armut ist, wurde die Sozialhilfe im ersten Regierungsbericht als „wirksames Instrument zur Bekämpfung von Armut und materiellen Notlagen“ glorifiziert und gleichzeitig kritisiert, dass man den Leistungsbezug in der öffentlichen Diskussion „fälschlicherweise“ häufig mit Armut gleichsetze:
„Insbesondere bei steigenden Empfängerzahlen wird von einer zunehmenden Armut gesprochen. Diese Einschätzung ist besonders dann irreführend, wenn durch eine Anhebung der Leistungen der Sozialhilfe der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet wird. Eine solche Entwicklung kann nicht als Anzeichen für eine steigende Armut interpretiert werden, sondern ist Ergebnis des gesetzgeberischen Willens zur Verbesserung der Lebenslage auf Sozialhilfe angewiesener Menschen“ (BMAS 2001, S. 74).
Werner Rügemer warf der rot-grünen Koalition vor, mit ihrem Armuts- und Reichtumsbericht „systematische Desinformation“ zu betreiben und die Bürger:innen hinsichtlich der sozialen Wirklichkeit für dumm zu verkaufen (Rügemer 2001, S. 863). So stand der im Regierungsbericht ohnehin bloß am Rand thematisierte Reichtum völlig unvermittelt neben der Armut und beschränkte sich vorrangig auf das Einkommen der Besserverdienenden und das private Geldvermögen, wohingegen das Immobilienvermögen nicht zum Marktwert, sondern zum erheblich niedrigeren steuerlichen Einheitswert und das noch wichtigere Produktivvermögen überhaupt nicht berücksichtigt wurde – von den Luxusgütern, die Millionäre, Multimillionäre und Milliardäre im Unterschied zu Durchschnittsbürger:innen besitzen, ganz zu schweigen.
4 Die Umdeutung des Gerechtigkeitsbegriffs im 2. Armuts- und Reichtumsbericht
Nach am 27. Januar 2000 und am 19. Oktober 2001 gefassten Parlamentsbeschlüssen soll die Bundesregierung ihren Armuts- und Reichtumsbericht regelmäßig zur Mitte einer Legislaturperiode vorlegen. Hinter den ministeriellen Kulissen wurde beim nächsten Mal, im Herbst 2004, jedoch lange darum gerungen, wie ein Imageschaden für die Regierung zu vermeiden sei. Der erst am 2. März 2005 vom Bundeskabinett gebilligte 2. Bericht konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün weiter vertieft hatte, und zwar sowohl beim privaten (Geld-)Vermögen als auch beim Einkommen. War die „Armutsrisikoquote“ zwischen den Jahren 1998 und 2003 von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen, so verfügten die vermögendsten 10 Prozent der Haushalte mit knapp 47 Prozent des gesamten Nettovermögens im Jahr 2003 über gut 2 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor, wobei das Betriebsvermögen erneut ausgeklammert blieb (BMAS 2005, S. XXII, XXV und 16 ff.).
Konzeptionell versuchte man zwar in Anknüpfung an den erreichten Forschungsstand, Armut qualitativ zu fassen und nicht auf fehlende finanzielle Ressourcen zu reduzieren, erlag jedoch der Versuchung, den bis dahin vorherrschenden Gerechtigkeitsbegriff zwecks Rechtfertigung der rot-grünen Regierungspraxis in Frage zu stellen. Es komme, wurde behauptet, nicht so sehr auf die Umverteilung von materiellen Ressourcen, vielmehr auf die Bereitstellung von „Teilhabe- und Verwirklichungschancen“ an (BMAS 2005, S. XVII). Man rekurrierte damit auf den Ansatz von Amartya Sen, einem bekannten indischen Ökonomen, der sich um die internationale Armutsforschung verdient gemacht und 1998 für seine Arbeiten zur Wohlstandsökonomik den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaft bekommen hat (Volkert 2005; Leßmann 2007, S. 126 ff.; Sedmak et al. 2011).
Sen begreift Armut zwar nicht in erster Linie als Geldmangel, sondern als Mangel an „Verwirklichungsmöglichkeiten“, ohne jedoch im Geringsten zu bestreiten, dass Letzterer mit der Knappheit materieller Ressourcen bzw. monetärer Mittel (Einkommen und Vermögen) verbunden ist: „In einem reichen Land verhältnismäßig arm zu sein kann die Verwirklichungschancen selbst dann extrem einengen, wenn das absolute Einkommen gemessen am Weltstandard hoch ist“ (Sen 2003, S. 112). Statt der Mittel hält Sen die Zwecke für zentral, denen sie dienen und welche Menschen verfolgen, sowie jene Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, ihre Ziele zu erreichen. Sen wird jedoch gründlich missverstanden, wenn man daraus folgert, dass Einkommensarmut und deren Bekämpfung von untergeordneter Bedeutung seien. Zwar hat die Verbesserung der Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnbedingungen usw. einen (hohen) Eigenwert, sie begründet aber keinen Gegensatz zur Verringerung materieller Defizite. Um seine „Teilhabe- und Verwirklichungschancen“ wahrnehmen zu können, benötigt man Finanzmittel, über die Personen kaum verfügen dürften, denen bei der Sozialhilfe und beim Arbeitslosengeld II zugemutet wurde, mit 1,26 Euro im Monat für Kino- und Theaterbesuche auszukommen.
Neben der „Chancengleichheit“, die den freien Zugang eines jeden Menschen zu Bildungsinstitutionen und zum Arbeitsmarkt voraussetzt, erfuhr besonders die „Generationengerechtigkeit“ im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung eine demonstrative Aufwertung, was vermutlich gleichfalls den Legitimationsbedürfnissen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen geschuldet war. Dabei handelt es sich um ein Schlagwort, das wenig zur Klärung der bestehenden Verteilungsverhältnisse, zum Verständnis der gesellschaftspolitischen Hintergründe und zur Aufhellung der sozialstrukturellen Zusammenhänge beiträgt (Butterwegge und Klundt 2003).
Hingegen verwischte der 2. Regierungsbericht die strukturellen Zusammenhänge zwischen einer wachsenden Armutspopulation und einem sich parallel dazu vermehrenden Reichtum. Die erschreckend hohe Armutsquote wurde auf eine vor allem aus „externen Schocks“ wie den Terroranschlägen des 11. September 2001, dem Irakkrieg, dem Zusammenbruch des IT-Booms und spektakulären Bilanzskandalen von US-Unternehmen resultierende Wachstumsschwäche zurückgeführt und damit als bloßes Konjunktur-, nicht als Strukturproblem (an)erkannt (BMAS 2005, S. XVII).
Dass zunehmender Reichtum in einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln, der Konkurrenz und der Mehrwertproduktion durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft basiert, zwangsläufig Armut hervorbringt, blieb außer Betracht. Erst recht fehlte die Einsicht, dass eine Regierungspolitik der „Standortsicherung“, wie sie SPD und Bündnis 90/Die Grünen machten, die soziale Polarisierung verschärft. Während Kapitaleigentümer, Begüterte und Spitzenverdiener als Gewinner dieser Form der ökonomischen Modernisierung immer reicher wurden, gehörten Millionen (Langzeit-)Arbeitslose, Obdachlose, Migrant:innen, (chronisch) Kranke, Behinderte, sozial benachteiligte Familien und Rentner:innen zu den Hauptverlierer:innen rot-grüner Reformen.
5 Biografisierung, Pädagogisierung und Psychologisierung des Armutsproblems im 3. Bericht
Die im November 2005 gebildete Große Koalition setzte die von ihrer Vorgängerregierung begründete Tradition der Armuts- und Reichtumsberichterstattung fort. Seinen Entwurf für den 3. Armuts- und Reichtumsbericht stellte der zuständige Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz (SPD) am 19. Mai 2008 der Öffentlichkeit vor, ohne das Kabinett informiert und eine Ressortabstimmung der Ministerien darüber herbeigeführt zu haben. Noch vor seiner kurzfristig anberaumten Pressekonferenz gab Scholz ausgerechnet Bild am Sonntag (v. 18.5.2008) ein Interview, in dem er seine Interpretation der vorgelegten Daten erläuterte und sich so die Deutungshoheit hierüber sicherte. Unter der Überschrift „Jeder achte Deutsche lebt in Armut!“ verkündete Scholz seine zentrale Botschaft: „Der Sozialstaat wirkt!“ Ohne die Sozialtransfers wie das Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kindergeld gäbe es laut Scholz doppelt so viele Arme. Die beiden BamS-Redakteure Michael Backhaus und Bernhard Kellner bezweifelten, dass man da von „Armut im engeren Sinn“ reden könne, und erklärten die Orientierung des Berichts am Durchschnittseinkommen für „völlig lebensfremd. Denn wenn alle Bankvorstände in diesem Land eine Million Euro zusätzlich erhalten, steigt das Durchschnittseinkommen und somit die statistische Zahl der Armen. An deren tatsächlicher Situation hat sich aber nichts geändert“ (Bild am Sonntag 2008). Zwar war diese Feststellung falsch und unsachgemäß, denn das Medianeinkommen steigt überhaupt nicht, nur weil einige Bankiers mehr verdienen. Scholz widersprach aber nicht, sondern reagierte ausgesprochen defensiv: „Klar. Wir haben es mit einem statistischen Wert zu tun. Und richtig ist auch, dass viele der 13 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die von Armut in Deutschland bedroht sind, mehr zum Leben haben als die Durchschnittsverdiener in vielen anderen Ländern. Doch man vergleicht die eigene Situation mit der des Nachbarn“ (ebd.).
Über zentrale Aussagen des Regierungsberichts gab es zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU- und SPD gravierende Meinungsverschiedenheiten. Da die berücksichtigten Daten nur bis zum Jahr 2005 reichten, enthülle der Bericht bloß die schlechte Bilanz der rot-grünen Sozialpolitik, meinte beispielsweise ein CDU-Politiker. Umgekehrt warfen manche Armutsforscher:innen, linke Kritiker:innen und einzelne Journalist:innen der Bundesregierung vor, die soziale Lage in dem Bericht zu schönen. Hatte die „Armutsrisikoschwelle“ im 2. Armuts- und Reichtumsbericht von 2005 noch bei 938 Euro gelegen, war sie in dem neuen Bericht drastisch auf 781 Euro gesunken, wodurch sich die Zahl der Betroffenen rechnerisch deutlich verringerte. Das zuständige Arbeits- und Sozialministerium hatte vom Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das seit 1984 bundesweit und mittlerweile vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erhoben wird, zu einer anderen Quelle, nämlich der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen „Leben in Europa“ (EU-SILC) hinübergewechselt (BMAS 2008, S. X f.), die seit 2005 ebenfalls jährlich erhoben wird und EU-weite Vergleiche ermöglicht, aber als weniger zuverlässig gilt.
Für die schwarz-rote Bundesregierung war Bildung der „Schlüssel für Teilhabe und Integration“, weshalb es im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht hieß: „Schulische Bildung und berufliche Qualifikation sind die Grundlage für Teilhabe am Arbeitsmarkt und der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut“ (BMAS 2008, S. 187). Zwar kann ein Individuum durch die Beteiligung an (Aus-)Bildungsprozessen einer prekären Lebenslage entkommen, eine gesamtgesellschaftliche Lösung bietet Bildung allein freilich nicht. Zweifellos ist die Armut in Deutschland ohne eine spürbare Verbesserung der Bildungseinrichtungen und der Bildungschancen für alle (Wohn-)Bürger:innen bzw. ihre Kinder nicht erfolgreich zu bekämpfen. Aber nur mittels einer Bildungsoffensive lässt sich das Problem ebenso wenig lösen. Darüber hinaus ist neben einer Vielzahl anderer Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur die Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen nötig (Butterwegge 2016, S. 269 ff.).
6 Diskussionen und Kontroversen um den 4. Regierungsbericht
Mit dem Entwurf zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht, der im September 2012 an die Öffentlichkeit gelangte, erreichte die Debatte über die soziale Polarisierung in der Bundesrepublik einen weiteren Höhepunkt. Als die Süddeutsche Zeitung (v. 18.9.2012) darüber unter dem Titel „Reiche trotz Finanzkrise immer reicher“ berichtete, ging ein kurzer Aufschrei der Empörung durchs Land, weil das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Tendenz zur Spaltung des Landes empirisch belegte. Obwohl man über den privaten Reichtum und seine Konzentration auf wenige Familien nicht viel mehr als in früheren Regierungsdokumenten dieser Art erfuhr, riefen die wenigen Zahlen hierzu die FDP auf den Plan, deren Zerrbild einer wohlständigen, sozial nivellierten und wenig polarisierten Bundesrepublik dadurch getrübt wurde. Innerhalb der schwarz-gelben Koalition stieß sich besonders Vizekanzler und Wirtschaftsminister Philipp Rösler an den Feststellungen im Entwurf des Arbeits- und Sozialressorts, wonach die Privatvermögen hierzulande „sehr ungleich verteilt“ waren, die Einkommensspreizung zugenommen hatte, über 4 Millionen Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro arbeiteten und Niedriglöhne das Armutsrisiko verschärfen und den sozialen Zusammenhalt schwächen, sowie an der Forderung nach einer Prüfung durch die Bundesregierung, ob und wie der private Reichtum über die Progression in der Einkommensbesteuerung hinaus für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzuziehen sei (BMAS 2012a, S. IX, XIX, XX, XXII f. und XLII).
Daraufhin wurden jene Passagen, die den ausufernden Niedriglohnsektor, die zunehmende Lohnspreizung und die extreme Verteilungsschieflage betrafen, im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen, ins Gegenteil verkehrt bzw. abgeschwächt (BMAS 2012b, S. VIII, XLVI und passim), was der Regierungskoalition nach Bekanntwerden der geänderten Fassung den Vorwurf eintrug, Zensur ausgeübt und das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland geschönt zu haben. Zum ersten Mal wurde Berichtskosmetik dieser Art vor aller Augen betrieben und weiten Teilen der Öffentlichkeit klar, dass Armut und Reichtum einer politischen Klassifikation unterliegen und selbst innerhalb des „bürgerlichen Lagers“ gegensätzliche Bewertungen existieren. Deshalb wäre es auch falsch, den Armuts- und Reichtumsbericht von „unabhängigen“ Wissenschaftler:innen erstellen zu lassen und die Bundesregierung damit von der Pflicht zu entbinden, selbst deutlich Position in Sachen Einkommens- und Vermögensverteilung bzw. Verteilungs(un)gerechtigkeit zu beziehen.
Trotz aller Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuche dokumentierte der 4. Armuts- und Reichtumsbericht deutlicher als die vorangegangenen Deutschlands doppelte Spaltung: Erstens wachsen Armut und Reichtum gleichermaßen, sind also zwei Seiten derselben Medaille. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vermögen, das Arme gar nicht haben, weil es sich zunehmend bei wenigen Hyperreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung fast 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen, kam die ärmere Hälfte der Bevölkerung nur auf 1 Prozent (BMAS 2013, S. 465). Über 40 Millionen Menschen lebten also gewissermaßen von der Hand in den Mund, waren nur eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt.
Zweitens geht der wachsende private Reichtum zwangsläufig mit einer öffentlichen Verarmung einher. Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2006 und 2011 um 1,5 Billionen Euro auf gut 10 Billionen Euro erhöht hatte, war das Nettovermögen des Staates in den vergangenen beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Milliarden Euro gesunken (BMAS 2013, S. XLIII; BMAS 2012a, S. XXXIX). Geld war also genug da, befand sich aber in den falschen Taschen, was den Staat auf Dauer aktionsunfähig macht, obwohl er die Aufgabe hat, soziale Probleme zu lösen oder wenigstens zu lindern.
Vernachlässigt wurden krasse regionale Disparitäten, unter denen das Ost-West-, das Nord-Süd- und das Stadt-Land-Wohlstandsgefälle besonders hervorstechen, wie der Paritätische in seinem „Armutsatlas“ dokumentiert hat (Der Paritätische Gesamtverband 2012). Wenn die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Demontage des Sozialstaates und die unsoziale Steuerpolitik der Regierung nicht enden, zerfallen die Städte der Bundesrepublik weiter: in Luxusquartiere, wo sich die (Hyper-)Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, einerseits sowie in Elendsgettos, wo sich die Armen konzentrieren, andererseits. Was der 4. Armuts- und Reichtumsbericht verschwieg: Das hier skizzierte Szenario hatte die Bundesregierung selbst heraufbeschworen, wie auch diesmal nur berichtet wurde, aber Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur etwa auf steuerpolitischem Gebiet ausblieben.
Methodisch hatte im 4. Armuts- und Reichtumsbericht ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Die bisher im Mittelpunkt stehenden Kernindikatoren (17 Armuts-, fünf Reichtums- und acht Querschnittsindikatoren) wurden zwar fortgeschrieben, in den Vordergrund waren durch die Entscheidung für das Lebensphasenmodell aber die biografischen Übergänge zwischen Kindheit, Jugend sowie frühem, mittlerem, hohem und höchstem Erwachsenenalter gerückt (BMAS 2013, S. 24 ff.). Der analytische Fokus lag auf „sozialer Mobilität“, d.h. gesellschaftlichen Auf- und Abstiegen sowohl im Lebensverlauf von Menschen (intragenerationale Mobilität) wie von der Eltern- zur Kindergeneration (intergenerationale Mobilität). Primär ging es um die Erfolgs- und Risikofaktoren für Auf- bzw. Abstiege in verschiedenen Lebensphasen.
Zwar werden an bestimmten Stationen im Lebensverlauf vieler Menschen entscheidende Weichen gestellt, die biografische Entwicklung gibt aber höchstens Aufschluss über einen geringen Teil der Armutsrisiken. Das sog. Lebensphasenmodell fokussiert auf situative Momente der Armutsentwicklung, wohingegen sozioökonomische, sektorale und sozialräumliche Entwicklungsdeterminanten zwangsläufig aus dem Blickfeld geraten. Dass die Armut – ebenso wie der Reichtum – strukturell bedingt und ein gesellschaftliches Problem ist, entgeht der Analyse, wenn die aufeinander folgenden Abschnitte der Biografie im Mittelpunkt stehen. Weil der 4. Armuts- und Reichtumsbericht überwiegend auf – für andere Zwecke erhobenen – Querschnittsdaten basierte, blieb außerdem die erforderliche Längsschnittbetrachtung auf der Strecke. Hier liegt ein Hauptmangel aller bisherigen Regierungsberichterstattung: Nach den ökonomischen, politischen und sozialen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Spreizung von Einkommen und Vermögen wurde in keinem Armuts- und Reichtumsbericht gefragt. Höchstens die Auslöser persönlicher Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Trennung bzw. Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität waren Gegenstand der Betrachtung.
Während das Stichwort „Kinderarmut“ nur in den Fußnoten bzw. den dort aufgeführten Titeln zitierter Fachliteratur auftauchte, wurde Altersarmut als in ferner Zukunft drohende Gefahr heruntergespielt: „Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist überdurchschnittlich gut“, hieß es im 4. Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS 2013, S. XXXVIII). Es wurde darauf hingewiesen, dass am 31. Dezember 2011 „nur“ 436.210 Personen über 64 Jahren die Grundsicherung im Alter bezogen, was einem Anteilswert von rund 2,6 Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe entsprach, wohingegen der Anteil von Empfänger:innen von Mindestsicherungsleistungen aller Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung bei 8,9 Prozent lag. Dies mache deutlich, hieß es weiter, „dass Bedürftigkeit im Alter heute kein Problem darstellt“ (ebd.). Hierbei übersah oder unterschlug die Bundesregierung, dass der Anteil jener Menschen, die ihnen zustehende Sozialleistungen wie die Grundsicherung nicht beantragen, weil sie zu stolz sind, weil sie sich schämen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie fälschlicherweise den Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder und Enkel fürchten, unter den Senior:innen besonders hoch ist. Man hätte daher von weit mehr als einer Million Ruheständler:innen ausgehen müssen, die auf oder unter dem Hartz-IV-Niveau (seinerzeit 707 Euro pro Monat im Durchschnitt) lebten. Mehr als 760.000 hatten einen Minijob; fast 120.000 davon waren 75 Jahre oder älter. Altersarmut ist eben kein Problem von gestern oder von morgen, sondern längst eine bedrückende Zeiterscheinung, wie jeder weiß, der alte Menschen frühmorgens Zeitungen austragen, öffentliche Toiletten putzen oder Regale im Supermarkt einräumen sieht.
Die kontroversen Diskussionen über den 4. Armuts- und Reichtumsbericht zeigten, dass eine liberal-konservative Regierung den Wohlhabenden nicht wehtun will und alles vermeidet, was diese stärker belasten würde. Daher wurden auch keinerlei Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur, etwa auf steuerpolitischem Gebiet, aus dem Bericht gezogen. Sollte die Bundesregierung laut dem ursprünglichen Entwurf wenigstens prüfen, ob und wie privater Reichtum über die Progression in der Einkommensteuer hinaus für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden könne (BMAS 2012a, S. XLII), hieß es in der Endfassung: „Die Bundesregierung prüft, wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender [Hervorh. im Original] in Deutschland für das Gemeinwohl eingeworben werden kann“ (BMAS 2013, S. XLVIII). Offenbar wollte man es Reichen und Hyperreichen selbst überlassen, ob und wie sie sich für das Gemeinwohl engagieren.
7 Verharmlosung der Armut und Verschleierung des Reichtums im 5. Bericht
Auch der 5. Armuts- und Reichtumsbericht, dessen Entwurf im Oktober 2016 vorlag, überstand die Ressortabstimmung nicht unbeschadet. Vielmehr wurden erneut zentrale Aussagen gestrichen oder abgeschwächt. Das betraf die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Armut, Reichtum und (repräsentativer) Demokratie ebenso wie das „Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit“ überschriebene Unterkapitel und das Ergebnis einer Untersuchung, wonach die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung wesentlich höher ist, wenn diese von vielen Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird. Weder teilten das Kanzleramt und das Finanzministerium, die beide CDU-geführt waren, die Einschätzung, dass sich die Interessen materiell Bessergestellter eher durchsetzen als die weniger Betuchter, noch wollten sie ausführlich dargestellt haben, dass sich Arme immer weniger an Wahlen beteiligen und man von einer Krise der politischen Repräsentation sprechen kann. Auch der Hinweis, dass extreme soziale Ungleichheit das Wirtschaftswachstum und damit den Wohlstand einer Gesellschaft beeinträchtigt, wurde im Rahmen der ersten Ressortabstimmung aus dem Ursprungsentwurf des seinerzeit von Andrea Nahles (SPD) geleiteten Arbeits- und Sozialministeriums gestrichen.
Der am 12. April 2017 mit anderthalbjähriger Verspätung vom Bundeskabinett verabschiedete 5. Armuts- und Reichtumsbericht fiel mit seinem Umfang von über 650 Seiten noch dicker als seine Vorgänger aus. Weiterhin spärlich waren die Daten im Kernbereich der absoluten, extremen bzw. existenziellen Armut, also dort, wo es um Wohnungs- bzw. Obdachlosigkeit ging. Man stützte sich auf Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe, wonach es 2014 in Deutschland wieder mehr als 335.000 Wohnungslose gab. 39.000 Menschen lebten dem Dachverband der Wohnungslosenhilfe zufolge auf der Straße. In beiden Fällen war die Tendenz stark steigend.
Noch dürftiger war der Erkenntnisstand zur (Ungleich-)Verteilung des privaten Reichtums. Man hatte zwar ein Forschungsprojekt zum Reichtum in Auftrag gegeben, ihn allerdings so diffus definiert, dass die soziale Ungleichheit im Berichtszeitraum kaum gestiegen war. „Einkommensreich“ ist nach der zugrunde gelegten Definition, wer über mehr als das Doppelte bzw. Dreifache des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens der Gesamtbevölkerung verfügt – das waren 3.452 bzw. 5.178 Euro pro Monat (2013: SOEP; BMAS 2017, S. 577). Wer einen alleinstehenden Studienrat auf dieser Basis nur aufgrund seines Gehalts für (einkommens)reich erklärt, verliert den Reichtum allerdings zwangsläufig aus dem Blick.
Während das subjektive Empfinden (Schmach, Demütigung, Erniedrigung und soziale Ausgrenzung) sowie die Meinung der Armen nur in einem Workshop mit 30 Teilnehmer:innen zur Debatte standen, wurden für den Regierungsbericht 130 „Hochvermögende“, deren Gesamtvermögen sich im Schnitt gerade mal auf 5,3 Millionen Euro belief, ausführlich interviewt (BMAS 2017, S. 136 ff.). Bei einem individuellen Nettovermögen von über 500.000 Euro, d.h. schon dann, wenn jemand in einer begehrten Groß- oder Universitätsstadt der Bundesrepublik eine Eigentumswohnung mittlerer Größe besaß, galt man als vermögensreich. Obwohl der Bericht auch ein paar relativierende Bemerkungen zu diesem Reichtumsverständnis enthielt, konnte er nicht überzeugen.
Werden „normale“ Mittelschichtangehörige, die im Wohlstand leben, wie selbstverständlich zu den Reichen gezählt, lässt sich die Tatsache, dass sich der wirkliche Reichtum in wenigen Händen konzentriert, leichter verschleiern. Ganz offenbar ging es der Bundesregierung als Berichterstatterin weniger darum, die bestehenden Eigentums-, Vermögens- und Einkommensverhältnisse möglichst präzise zu erfassen, als darum, sie zu rechtfertigen. Um eine große nationale Debatte über die Kluft zwischen Arm und Reich in Gang zu setzen und politische Gegenmaßnahmen zu ergreifen, hätte der Regierungsbericht einräumen müssen, dass die soziale Spaltung aus den Produktionsverhältnissen und Fehlentscheidungen der politisch Verantwortlichen resultierte.
Auch der 5. Armuts- und Reichtumsbericht war nicht frei von einer Verharmlosung der Finanznöte vieler Familien. Als typisch dafür kann die folgende, auf das EU-Konzept der materiellen Deprivation gestützte Feststellung in den ersten beiden Entwürfen gelten: „Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter materiellen Entbehrungen“ (BMAS 2016a, S. 250; BMAS 2016b, S. 242). In der Endfassung wurde vor den letzten beiden Wörtern noch „erheblichen“ eingefügt (BMAS 2017, S. XXI), was die Aussage korrekter, jedoch keineswegs plausibel machte. Denn über 2 Millionen Minderjährige bezogen entweder Arbeitslosengeld II oder das im Volksmund ebenfalls „Hartz IV“ genannte Sozialgeld. Lebensmitteltafeln versorgten nach eigenen Angaben regelmäßig ca. 1,5 Millionen Menschen mit Essen, von denen sich ungefähr ein Drittel im Kindesalter befanden.
Als bloßes Wahrnehmungsproblem verharmlost wurde das seit Jahren deutlich steigende Risiko der Altersarmut. Obwohl die Gruppe der Menschen ab 65 Jahren „durchschnittlich etwas seltener armutsgefährdet als die Gesamtbevölkerung“ und „die materielle Versorgung der heute Über-64-Jährigen sogar insgesamt sehr günstig“ sei (BMAS 2017, S. XXIX), hätten viele Bürgerinnen und Bürger – meist zu Unrecht, wurde unterstellt – Angst vor eigener Armut im Alter. Da sich die Zahl der Grundsicherungsbezieher:innen am Jahresende 2015 „nur leicht“ auf 536.121 Personen erhöht hatte, lag auch die Mindestsicherungsquote der Senior:innen weit unter der jüngerer Altersgruppen, wie die Bundesregierung beruhigt feststellte (BMAS 2017, S. 436).
Eine altersgruppen- und geschlechterspezifische Datenauswertung hätte zweifellos ergeben, dass die Armuts(risiko)quote und der Transferleistungsbezug seit Jahren in keiner Altersgruppe so stark wuchsen wie unter den Senior:innen. Nichts davon erfuhren die Leser:innen des Regierungsberichts. Vielmehr sprach dieser vom Risiko der „Altersarmut“ oft in Anführungszeichen, obwohl von weit mehr als einer Million Ruheständler:innen auszugehen war, die seinerzeit mit 799 Euro pro Monat oder weniger auf bzw. unter dem Hartz-IV-Niveau lebten. Mehr als 940.000 Menschen über 64 Jahren hatten am Ende des Jahres 2015 einen Minijob, mit dessen Lohn von maximal 450 Euro im Monat die meisten ihre kleine Rente aufgestockt haben dürften; über 175.000 davon waren 75 Jahre oder älter.
8 Corona, Armut und Reichtum im 6. Bericht
Wegen der Covid-19-Pandemie, die Deutschland im Februar/März 2020 erreichte, wurde die Fertigstellung des 6. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung um ein Jahr verschoben. An mehreren Stellen des Dokuments, das die Bundesregierung am 12. Mai 2021 verabschiedete, fanden sich Bemerkungen zu den Verteilungswirkungen der Pandemie, des durch sie hervorgerufenen Krisendebakels und der „Sozialschutz“-Maßnahmen von CDU, CSU und SPD. Welche langfristigen Folgen die Pandemie auf die Einkommensverteilung zeitigen wird, sei aber nicht vorhersagbar, hieß es: „Die umfangreichen Maßnahmen der Bundesregierung zur Stützung der Einkommen dürften aber negative Effekte gemindert haben“ (BMAS 2021, S. I). Simulationsrechnungen hätten eine ungleichheitsmindernde Wirkung der Maßnahmen ergeben, insbesondere hinsichtlich des Kinderbonus, d.h. der Auszahlung von 300 Euro pro Kind im September/​Oktober 2020 und von noch einmal 150 Euro im Mai 2021.
Das sozialpolitische Zwischenzeugnis, welches sich die Bundesregierung selbst ausstellte, fiel positiv aus, obwohl das Ergebnis kaum überzeugte: „Sozialschutzpakete und weitere Unterstützungsmaßnahmen haben verhindert, dass es zu sozialen Verwerfungen gekommen ist. Arbeitslosigkeit konnte mittels Kurzarbeit weitgehend verhindert werden. Die sozialen Sicherungssysteme haben ihre stabilisierenden Aufgaben erfüllt und konnten durch die enge Abstimmung mit den Sozialpartnern schnell und zielgerichtet angepasst werden“ (BMAS 2021, S. I f.). Zwar hat sich der Wohlfahrtsstaat als „systemrelevant“ erwiesen, seine Defizite, Schwachstellen und Strukturmängel sind in der pandemischen Ausnahmesituation aber gleichfalls offen zutage getreten. Dem sozioökonomischen Polarisierungseffekt, den die hauptsächlich der Wirtschaft zugutekommenden Finanzhilfen des Bundes nur geringfügig abgemildert und teilweise sogar verstärkt haben (Butterwegge 2022, S. 100 ff.), wurde im Regierungsbericht keine Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei gab es genügend Belege dafür, dass die Kluft zwischen Arm und Reich während der Pandemie nicht bloß wie unter einem Brennglas klarer erkennbar geworden ist, sondern sich auch weiter vertieft hat.
Zwar ging aus dem 6. Armuts- und Reichtumsbericht hervor, dass die Einkommen und vor allem die Vermögen in Deutschland ungleich verteilt waren. Behauptet wurde indes, die Ungleichheit (der Einkommen), die sich bis etwa zum Jahr 2005 verschärft habe, sei fortan „relativ stabil“ geblieben (BMAS 2021, S. 46). Damit übernahm man ein vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) lanciertes Narrativ, wonach die soziale Ungleichheit nur bis 2005 gestiegen ist, seither aber nicht mehr zugenommen hat. Am 1. Januar des genannten Jahres ist Hartz IV in Kraft getreten und der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer mit 42 Prozent auf seinen niedrigsten Stand seit 1949 gesunken; zudem übernahmen CDU und CSU am 22. November 2005 in der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel wieder die Regierungsführung.
An die Stelle der Betrachtung von bisher im Zentrum der Armuts- und Reichtumsberichte stehenden Lebensphasen, die soziale Ungleichheit auf der Ebene biografischer Stationen (Kindheit, Jugend, Erwerbsphase und Ruhestand) erfasste, wodurch man das Problem individualisierte und Alterseffekte verabsolutierte, war diesmal eine mehrdimensionale Längsschnittbetrachtung in Fünfjahresschritten getreten, welche soziale bzw. Lebenslagen in den Mittelpunkt rückte. Auf der Basis eines Forschungsprojekts der Universität Bremen wurde eine Typologie der sozialen Lagen gebildet, die Einkommen, Vermögen, Erwerbsintegration und Wohnraumversorgung als Dimensionen umfassen. In eine Rangordnung gebracht ergaben sich acht Soziallagen, von „Armut“ und „Prekarität“ am unteren Ende über „Armut – Mitte“, „Untere Mitte“, „Mitte“, „Wohlhabenheit – Mitte“ bis zu „Wohlstand“ und „Wohlhabenheit“ an der Spitze. Mit den beiden zuletzt genannten Kategorien traf man allerdings nicht bloß eine gekünstelt wirkende und sprachlich wenig überzeugende Unterscheidung, sondern ließ auch den Begriff „Reichtum“ – zusammen mit der Armut eigentlich Kern der Berichterstattung – gänzlich verschwinden.
Begründet wurde die Wahl der Bezeichnung „Wohlhabenheit“ damit, dass Reichtum zwar das Pendant zu Armut darstelle, die genannte Soziallage allerdings die Bereiche des wirklichen Reichtums, der durch sehr hohe Vermögen geprägt sei, kaum umfasse. Trotzdem bilden die Prozentanteile der Bevölkerung, die man den acht Soziallagen zurechnete, in der Summe genau 100 Prozent. Für den Reichtum bleiben nicht einmal 0,1 Prozent der Bevölkerung übrig, denen laut DIW über ein Fünftel des Nettogesamtvermögens gehören. Diese mächtige Gruppe der Hyperreichen war aufgrund der zweifelhaften Kategorienbildung im 6. Armuts- und Reichtumsbericht für die Bundesregierung offenbar gar nicht mehr existent.
Weil die soziale Aufwärtsmobilität zuletzt nachgelassen hatte, wie das Regierungsdokument bestätigte, drang die Armut immer stärker zur Mitte der Gesellschaft vor und verfestigte sich, was aber nicht weiter skandalisiert wurde, wenn es hieß: „In den oberen sozialen Lagen herrscht große Stabilität, Personen aus den mittleren Lagen gelingt es vielfach weiterhin, aufzusteigen, für Personen aus den unteren sozialen Lagen sind die Aufstiegschancen seit den 1980er Jahren kontinuierlich gesunken. Im Fall der Zugehörigkeit zu der im Forschungsvorhaben als ‚Armut‘ bezeichneten Lage ist die Wahrscheinlichkeit, ihr auch in der nächsten Fünfjahresperiode noch anzugehören, seit Ende der 1980er Jahre von 40 Prozent auf 70 Prozent angestiegen“ (BMAS 2021, S. XVIII).
Hier lag wohl das größte Manko des 6. Armuts- und Reichtumsberichts wie aller seiner Vorgänger: Er blieb rein deskriptiv und ließ analytische Tiefenschärfe vermissen. Nach den sozioökonomischen und politischen Entstehungsursachen der ausführlich beschriebenen Verteilungsschieflage wurde erneut nicht gefragt. Die gesellschaftlichen Determinanten sozialer Auf- und Abstiege blieben im Dunkeln, weil die bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen nicht hinterfragt wurden.
Armuts- und Reichtumsberichte könnten eine gute Basis für die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Bundesregierung sein, wenn sie die „Lebenslagen in Deutschland“ kritisch analysieren, die gesellschaftlichen Ursachen für wachsende Ungleichheit ergründen und daraus entsprechende Handlungsempfehlungen ableiten würden. Stattdessen wird die gesellschaftliche Realität verdrängt, die Armut eher verharmlost und die Konzentration des Reichtums weitgehend verschleiert. Obwohl der 6. Armuts- und Reichtumsbericht nicht ganz so blauäugig ausfiel wie frühere Dokumente seiner Art und der Reichtum weniger stiefmütterlich als in den Vorgängerberichten behandelt wurde, wuchs das Problem der sozioökonomischen Ungleichheit, ohne dass die Bundesregierung hieraus Konsequenzen gezogen hätte. Resümierend kann man ihr ins Stammbuch schreiben: Es fehlt schon längst nicht mehr an statistischen Daten, aber immer noch an politischen Taten.
9 Quellenangaben
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Verfasst von
Prof. Dr. Christoph Butterwegge
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Zitiervorschlag
Butterwegge, Christoph,
2023.
Armuts- und Reichtumsbericht [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 16.03.2023 [Zugriff am: 10.11.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3558
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