Armutsforschung
Prof. Dr. Jan Bertram
veröffentlicht am 18.09.2018
Ziel von Armutsforschung ist die Identifikation gesellschaftlicher Gruppen, die in besonderem Maße von sozialem oder materiellem Ausschluss betroffen oder davon bedroht sind. Zugleich analysiert sie die dem zugrunde liegenden sozialen Prozesse. Sie kann damit einen wichtigen Beitrag leisten zu einer wissenschaftlich fundierten Politik zur Armutsüberwindung. Armutsforschung bedient sich unterschiedlicher Indikatoren und Maße zur Darstellung von sozialer und materieller Deprivation. Diese Indikatoren können eine breite Varianz aufweisen und unterscheiden sich im Kern darin, wie umfassend und damit multidimensional der Armutsbegriff gefasst werden soll. Die Bestimmung von Armut bzw. Armutsgrenzen basiert auf normativen Setzungen, sodass es voneinander abweichende Definitionen und Ergebnisse gibt. Aus diesem Grund ist die Berechnungsgrundlage von Armut innerhalb dieser Gesellschaft mit ihrer Vielzahl unterschiedlicher Interessen notwendigerweise umstritten.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Einleitung
- 3 Das Maß der Armut
- 4 Die Empirie der Armut
- 5 Sozialberichterstattung als Ressource für Politik
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Armut und soziale Ausgrenzung unterliegen in Deutschland einer kontinuierlichen und intensiven Messung. Dies wird nicht zuletzt durch den seit 2001 in regelmäßigen Abständen von der Bundesregierung vorgelegten Armuts- und Reichtumsbericht deutlich. In diesem wird anhand von verschiedenen Indikatoren wie etwa der Armutsrisikoquote, der Überschuldungsquote oder dem Ausmaß materieller Deprivation ein Bild der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Menschen in Deutschland gezeichnet. Armut ist jedoch kein eindeutig bestimmbarer Begriff, sondern ihm liegt eine politische oder wissenschaftliche Definition zugrunde. Variationen etwa bei der Bestimmung des Existenzminimums, unter dem jemand als arm gilt, sind gleichwohl nicht zufällig, sondern sie sind den unterschiedlichen Interessen innerhalb der Gesellschaft geschuldet. Die politisch gültige Auffassung darüber, wer in Deutschland als arm gilt und wer nicht, ist maßgeblich für die materiellen Verteilungsergebnisse innerhalb der Gesellschaft. Entsprechend umstritten sind die einschlägigen Indikatoren im Diskurs zwischen politischen und sozialen InteressensträgerInnen in Staat und Zivilgesellschaft. Unbestritten ist hingegen, dass die letztgültige Deutungshoheit beim Staat liegt. Die staatliche Definition materieller wie immaterieller Problemlagen innerhalb der Gesellschaft ist am Ende ausschlaggebend; an ihr haben die sozialstaatlichen Institutionen ihr Handeln auszurichten.
2 Einleitung
Der Staat ist auf eine umfangreiche Messung von Armut und sozialer Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft angewiesen, um soziale Problemlagen überhaupt als solche identifizieren und bei Bedarf angemessen darauf reagieren zu können. Dies ist die zentrale Aufgabe der Armutsforschung: Wissenschaftlich gestützt soll untersucht werden, welche gesellschaftlichen Gruppen in welchem Ausmaß von sozialer oder materieller Deprivation betroffen sind. Auch sollen der Politik Wege aufgezeigt werden, wie durch sozialstaatliche Interventionen auf die identifizierten Problemlagen eingewirkt werden kann. Armutsforschung kann insbesondere einen Beitrag dazu leisten, organisationsschwache gesellschaftliche Interessen für den demokratischen Diskurs sichtbar zu machen und auf diese Weise auch Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess zu nehmen.
Armutsforschung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Gründen für Armut. Eine Erklärung, warum auch in den wirtschaftlichen Metropolen Armut ein Massenphänomen bleibt, liefert sie nicht. Strukturelle Gründe für Armut spielen in der Armutsforschung in aller Regel eine untergeordnete Rolle. Es werden vielmehr materielle und soziale Verteilungsstrukturen innerhalb der Gesellschaft sichtbar gemacht.
3 Das Maß der Armut
3.1 Absolute und relative Armut
Zunächst wird in der Armutsforschung grundsätzlich zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden. Absolute Armut meint, dass das physische Überleben eines Individuums konkret bedroht ist. Diese Bedrohung entsteht durch einen fundamentalen Mangel an den zur Befriedigung der Grundbedürfnisse wie etwa Kleidung, Nahrung, medizinische Versorgung oder Wohnraum notwendigen Mitteln. Laut der weit verbreiteten Definition der Weltbank gelten Menschen dann als absolut arm, wenn sie von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag leben müssen. Absolute Armut nach dieser Definition ist insbesondere vorherrschend in Subsahara-Afrika, in Teilen Asiens und auch Südamerikas. In Europa und insbesondere in Deutschland hingegen gilt absolute Armut durch die sozialstaatlichen Hilfesysteme als überwunden. Allerdings können auch in Deutschland Phänomene wie Obdachlosigkeit, fehlender Krankenversicherungsschutz und Tod durch Erfrieren beobachtet werden.
Der Maßstab absoluter Armut, wie er etwa von der Weltbank postuliert wird, abstrahiert vom konkreten Individuum und der geographischen und sozialen Lage, in der es sich befindet. So mag der Zugang zu überlebensnotwendiger medizinischer Versorgung in dem einen Land möglich sein, während in einem anderen eine deutlich umfassendere Ressourcenausstattung notwendig ist, zumal auch keine individuellen Merkmale wie etwa Alter oder Behinderung berücksichtigt werden.
Die maßgebliche Kennziffer für eine sozialstaatliche Intervention in Deutschland und in den entwickelten Wohlfahrtsstaaten überhaupt ist jedoch nicht die absolute sondern die relative Armut. Relative Armut kennzeichnet im Ausgangspunkt ebenfalls eine Unterversorgung mit materiellen Gütern. Die Notlagen stehen jedoch nicht im Verhältnis zur Fähigkeit, die physische Existenz aufrechtzuerhalten, sondern sie werden in ein Verhältnis gesetzt zum allgemeinen Wohlstand innerhalb einer konkreten Gesellschaft. Der Begriff der relativen Armut fragt also nicht danach, über wie viele materielle Ressourcen jemand verfügt; stattdessen bewertet er die (Ungleich-)Verteilung dieser Ressourcen in der Gesellschaft. Als arm gilt demnach, dessen Ressourcenausstattung so weit unterhalb des gesellschaftlichen Standards liegt, dass eine gesellschaftliche Teilhabe in hohem Maße eingeschränkt ist. Die definitorische Grenze, ab welcher eine Person als relativ arm gilt, wird auch als das soziokulturelle Existenzminimum bezeichnet. Weil es sich um ein relatives Armutsmaß handelt, können Personen mit gleicher Mittelausstattung in unterschiedlichen sozialen und geographischen Kontexten jeweils als arm bzw. als nicht arm gelten.
3.2 Ressourcenbegriff der Armut
Die Ausstattung mit den entsprechenden Mitteln wird gemeinhin mit dem verfügbaren Einkommen und Vermögen gleichgesetzt, d.h. Armut wird als die Abwesenheit von ökonomischen Mitteln (Einkommensarmut) betrachtet. Einkommensarmut liegt dann vor, wenn das verfügbare Einkommen unterhalb einer fest definierten Grenze des gesellschaftlichen Durchschnitts liegt. Ein solcher Armutsindikator lässt sich in einer modernen Gesellschaft ohne erheblichen Verwaltungsaufwand und mit einer hinreichenden Genauigkeit erheben, sodass die Politik auf statistischer Grundlage sozialpolitisch intervenieren kann. Eine solche Intervention zeigt sich in Deutschland etwa durch die Einführung des Mindestlohns oder der Gewährung aufstockender Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II im Fall von Armut trotz Erwerbsarbeit (Grundsicherung für Arbeitssuchende – SGB II). Diese auf das Einkommen reduzierte Betrachtungsweise prägt den sogenannten Ressourcenbegriff der Armut. Dieser geht von weitestgehend homogenen Individuen mit ähnlichen Bedürfnissen aus. In der Realität sind die konkreten Bedürfnisse jedoch individuell und entspringen den faktischen Lebensumständen. Keine Berücksichtigung finden damit bei dieser Betrachtungsweise etwa Sonderbedarfe für pflegebedürftige Menschen oder Menschen mit Behinderungen (Hauser 2018, S. 156 f.).
3.3 Lebenslagenansatz
Neben diesem Ressourcenbegriff existieren weitere Konzepte zur Darstellung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt. Besonderen Einfluss auf die Armutsforschung hat in diesem Zusammenhang der Lebenslagenansatz genommen, der von Otto Neurath, Kurt Grelling, Gerhard Weisser und Ingeborg Nahnsen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurde. Im Gegensatz zum Ressourcenansatz konzentriert sich dieser nicht nur auf verfügbares Einkommen und Vermögen, sondern geht weit darüber hinaus. So fragt der Lebenslagenansatz nach den Gestaltungsspielräumen im Wechselspiel von Wohnsituation, Ernährung, Bekleidung, Gesundheit und dem Maß an kultureller und politischer Teilhabe (Glatzer und Hübinger 1990, S. 34 ff.).
Der Lebenslagenansatz findet in der Armutsforschung zunehmende Verbreitung, wenngleich meist in vereinfachter Anwendung. So basiert etwa die seit dem Jahr 2005 europaweit durchgeführte freiwillige Haushaltebefragung „EU Statistics on Income and Living Conditions“ (EU-SILC) auf einem daran angelegten Modell und erfasst verschiedene Dimensionen der Lebensführung. Zum einen werden im Rahmen der Studie Querschnittsdaten über Einkommen und Armut erfasst, darüber hinaus allerdings auch Daten hinsichtlich sozialer Ausgrenzung, persönlicher Lebenssituation, Gesundheitszustand, Bildung, körperlicher Aktivität sowie Ernährung. Auf diese Weise sollen statistische Daten auch unter Berücksichtigung der individuellen Lebensverhältnisse europaweit vergleichbar gemacht werden. Für die politisch Verantwortlichen ermöglicht ein solcher Forschungsansatz ein deutlich differenzierteres Bild der Lebenslagen in der Bevölkerung. Andererseits beruhen viele der erfassten Indikatoren auf der individuellen Einschätzung des Befragten, d.h. für eine vollständige Erfassung der Lebensumstände wäre bei jedem Indikator die Unterscheidung zwischen einer objektiven Sicht einer fachmännischen BeobachterIn und der subjektiven Sicht des Betroffenen notwendig (Hauser 2018, S. 154).
3.4 Befähigungsansatz
In der aktuellen Diskussion hat insbesondere der Befähigungsansatz (Capability Approach) von Amartya Sen an Bedeutung gewonnen. Im Zentrum dieses Konzepts stehen die individuelle Freiheit des Individuums und seine Fähigkeit, die Dinge zu tun, denen es eine hohe Bedeutung zumisst. Relative Armut ist nach Sen ein Mangel an Verwirklichungschancen. Damit unterscheidet sich dieser Ansatz von der allgemeinen Messung relativer Armut, die Armut bzw. Wohlstand an dem jeweils vorherrschenden Lebensstandard misst. Entscheidend ist nach Sen die eigene Wirksamkeit im Hinblick auf die Führung eines guten Lebens. Wie ein solches Leben definiert wird, ist selbstverständlich hoch individuell und lässt sich nicht von einem allgemeinen Vergleichsmaßstab wie etwa der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt ableiten (Senn 2005; Hauser 2018, S. 153). Der Befähigungsansatz bildet die Grundlage für den „Human Development Index“, den die Vereinten Nationen jährlich herausgeben. Diese Studie beschränkt sich in ihrem weltweiten Länderranking nicht auf das reine Pro-Kopf-Einkommen, sondern versucht die Mehrdimensionalität individueller Wohlfahrt zu berücksichtigen. Vergleichsindikatoren sind etwa Gesundheit, Bildung, politische, ökonomische und soziale Chancen, Schutz gegen Kriminalität sowie das Vorhandensein von Informationsmöglichkeiten.
Sowohl beim Ressourcenansatz als auch beim Lebenslagenansatz sowie beim Befähigungsansatz müssen von Politik oder Wissenschaft bestimmte Grenzwerte definiert werden, um eine Unterscheidung in arm oder nicht arm überhaupt vornehmen zu können. Umso komplexer die Ansätze sind, d.h. umso umfassender diese versuchen ein präzises Bild der individuellen Wohlfahrt zu zeichnen, desto größer ist die Herausforderung für Politik und Wissenschaft derart komplexe Indikatoren überhaupt messbar und damit operationalisierbar zu machen. Aus den in der Einleitung dargelegten Gründen sind nicht nur die zu messenden Indikatoren, sondern auch die Definitionen von Grenzwerten für jeden Indikator notwendigerweise innerhalb der Gesellschaft umstritten.
3.5 Standards für die Berechnung der Mindestsicherung
Die Festlegung solcher Mindeststandards etwa beim Einkommen aber auch bei Bildung, Gesundheit usw. kann zum einen durch WissenschaftlerInnen oder andere ExpertInnen vorgenommen werden. In diesem Fall wird von sogenannten Expertenstandards gesprochen. Legen hingegen demokratisch legitimierte politische Organe diese Standards fest, so handelt es dabei um politische Standards. Da die politischen Standards letztlich maßgeblich zur Verteilung gesellschaftlicher Wohlfahrt sind, konkurrieren innerhalb der öffentlichen Debatte häufig verschiedene Expertenstandards um politische Anerkennung (Hauser 2018, S. 160). Beispiele für Expertenstandards sind etwa das Warenkorbmodell sowie das Statistikmodell. Dabei handelt es sich um zwei alternative Methoden, mit denen beispielsweise Mindestbedarfe in der Grundsicherung errechnet werden sollen. Das Warenkorbmodell errechnet einen Mindeststandard wie etwa das soziokulturelle Existenzminimum anhand eines Pools von notwendigen Gütern und Dienstleistungen, indem die entsprechenden Preise ermittelt und daraus die Gesamtsumme errechnet werden. Bei der Berechnung des Warenkorbes findet automatisch auch die Inflationsrate Berücksichtigung, indem der Preis der Waren ständig angeglichen wird. Eine entscheidende Frage lässt sich jedoch auch mit diesem Modell nicht eindeutig klären: Was sind die tatsächlich notwendigen Güter und Dienstleistungen, die ein Mensch zum Überleben und zur gesellschaftlichen Teilhabe benötigt? Welche Anzahl und Qualität von Lebensmitteln ist angemessen? Wie viel Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben steht einem Menschen zu? Diese Fragen werden von ExpertInnen verschiedener Fachdisziplinen beantwortet und letztlich der Politik zur Entscheidung vorgelegt. Auch hier lässt sich also kein „objektiver Bedarf“ bestimmen. Welche Mittel am Ende jedem einzelnen zustehen, wird von den politischen EntscheidungsträgerInnen und damit von deren Kalkulationen bestimmt. Gleiches gilt auch für das sogenannte Statistikmodell; allerdings liegt den Mindeststandards hier eine andere Berechnung zugrunde. Das soziokulturelle Existenzminimum wird in diesem Modell auf Grundlage einer umfangreichen sozialstatistischen Stichprobe errechnet, die das Einkommen und die sonstige Lebenssituation von Haushalten vergleicht und einen Grenzwert festlegt, der die Armutsschwelle markieren soll.
Bis zum Ende der 1980er Jahre war das Warenkorbmodell der politische Standard zur Berechnung von Mindestsicherungsleistungen in Deutschland. In den 1990er Jahren hat sich letztlich das Statistikmodell als neuer Standard durchgesetzt. Dieses Modell ist im Diskurs zwischen politischen und sozialen InteressensträgerInnen in Staat und Zivilgesellschaft nach wie vor umstritten. Im Jahr 2010 befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Rechtmäßigkeit des Statistikmodells zur Berechnung der Regelsätze in der Mindestsicherung. Das Gericht bestätigte die Anwendung des Statistikmodells, verpflichtete jedoch die Bundesregierung dazu, den Bedarf von Bezugspersonen realitätsgerecht und transparent herzuleiten (BVerfGE 2010).
3.6 Dynamische Armutsforschung
Seit den 1990er Jahren hat sich neben der klassischen Forschung anhand von statistischen Kennziffern die sogenannte dynamische Armutsforschung entwickelt. Dieser Forschungsansatz betrachtet nicht nur den Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern Armut wird dynamisch erfasst, d.h. es wird das Absinken in Armut und das Aufsteigen aus der Armut über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet. Dies geschieht anhand von Längsschnittanalysen innerhalb deren dieselben Daten zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben und die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungswellen miteinander verglichen werden. Diese Sichtweise ermöglicht ein deutlich detaillierteres Bild der Armut. So lässt sich beispielsweise nachzeichnen, wie lange Armutsperioden und Perioden oberhalb der Armutsgrenze durchschnittlich andauern. Die dynamische Armutsforschung konnte die Sichtweise auf Armut- und Ausgrenzungsprozesse nachhaltig verändern. Es hat sich insbesondere gezeigt, dass Armutslagen beweglicher, d.h. von kürzerer Dauer sind, als dies gemeinhin angenommen wurde. Andererseits bedeutet dies jedoch nicht, dass die biographischen Auswirkungen dadurch zwangsläufig abgemildert werden, viele Menschen geraten wiederholt in die Armutszone, d.h. in ihren Lebensläufen wechseln sich Phasen in der Armut mit Phasen knapp oberhalb der Armutsgrenze ab (Leisering und Buhr 2012, S. 147 ff.).
4 Die Empirie der Armut
Im Folgenden soll ein kleiner Einblick gegeben werden in die empirischen Ergebnisse der Armutsforschung in Deutschland. Zu den wichtigsten Leistungen der Mindestsicherung zählen
- die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II,
- die allgemeine Sozialhilfe mit den besonderen Schwerpunkten einer Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter voller Erwerbsminderung nach dem SGB XII,
- die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für geflüchtete Personen und
- besondere Leistungen nach dem Bundesversorgungs- und Opferentschädigungsgesetz.
Das steuerlich finanzierte Mindestsicherungssystem in Deutschland deckt damit – zumindest seinem Anspruch nach – die gesamte Bevölkerung im Fall von Hilfsbedürftigkeit ab. Obgleich der Staat durch diese Leistungen ein „soziokulturelles Existenzminimum“ garantiert, lebt jedoch auch in Deutschland ein bedeutender Teil der Bevölkerung unterhalb der wissenschaftlich definierten Armutsgrenze bzw. ist von Armut bedroht.

(Quelle: eigene Darstellung nach Hauser 2012, S. 171 sowie Aktualisierung der entsprechenden Quellen)
So gelten etwa nach den Daten von EU-SILC im Jahr 2016 16,5 % der deutschen Bevölkerung als von Armut bedroht. Abbildung 1 zu entnehmen ist außerdem, unabhängig von der Varianz der einzelnen Datenquellen, ein eindeutiger Trend hin zu einer Ausweitung des Armutsrisikos in Deutschland. Die sogenannte Armutsrisikoschwelle wurde von der Europäischen Union als Standard gewählt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei den Werten um relative und nicht um absolute Armut handelt. Mittlerweise wurde dieses Vorgehen von den meisten größeren sozialstatistischen Modellen adaptiert. Allerdings differieren die einzelnen Datensätze bei ihren Erhebungsgrundlagen (etwa bei der Bewertung einzelner Einkommensquellen und der Haushaltszusammensetzung), sodass es zu Abweichungen bei den Werten zur Armutsrisikoquote kommt. Wenngleich die Datenquellen variieren, basieren sie im Kern doch auf derselben Berechnungsgrundlage. Nach dieser Definition gelten Menschen dann als arm, wenn ihnen weniger als 60 Prozent des nach Haushaltsgröße gewichteten Median-Einkommens (Nettoäquivalenzeinkommen) des jeweiligen Landes zur Verfügung stehen. Der Median-Wert gibt in Abgrenzung zum arithmetischen Mittel nicht den statistischen Durchschnitt aller Einkommen der Stichprobe an, sondern es handelt sich um den mittleren Wert, welcher die obere Hälfte der Einkommen von der unteren trennt. Als Nettoäquivalenzeinkommen gilt das Pro-Kopf Einkommen, das je nach Haushaltsgröße unterschiedlich gewichtet wird. Dieser Berechnung liegt die Vorstellung zugrunde, dass mit steigender Mitgliederzahl im Haushalt Einspareffekte entstehen und aus diesem Grund das erforderliche Gesamteinkommen gesenkt werden kann.
An der dargestellten Berechnung der Armutsrisikoquote wird erneut deutlich, dass der Definition von Armut eine normativ gesetzte Bestimmung zugrunde liegt. Zunächst findet eine Gewichtung durch die Grenzziehung von 60 Prozent des Medianeinkommens statt. Darüber hinaus ist auch die jeweilige Gewichtung der Haushaltsmittglieder keine objektive Größe, sondern staatlicherseits festgeschrieben. In den 1980er und 1990er Jahren orientierte sich die Berechnung an der „alten OECD Skala“, in der Haushaltsmitglieder über 14 Jahre noch mit 0,7 und Haushaltsmitglieder unter 14 Jahren mit 0,5 gewichtet wurden. Die Folge dieser Modifizierung ist eine Verlagerung bei den besonders von Armut bedrohten gesellschaftlichen Gruppen. Dem aktuellen Berechnungsmodell des Haushaltäquivalenzeinkommens liegt die „modifizierte OECD Skala“ zugrunde, mit der dargelegten Gewichtung der Haushaltsmitglieder. So entfällt auf das erste Haushaltsmitglied ein Bedarfsgewicht von 1,0 (Haushaltsvorstand), für jedes weitere Haushaltsmitglied über 14 Jahre ein Bedarfsgewicht von 0,5 sowie für Haushaltsmitglieder unter 14 Jahren ein Bedarfsgewicht von 0,3.
Vergleicht man die Werte der alten mit der modifizierten OECD Skala, so wird deutlich, dass die alte OECD-Skala höhere Quoten bei den Kindern ausweist, während die neue Skala dagegen zu höheren Quoten bei Ein-Personen-Haushalten führt, kurz gesagt: Nach der alten OECD-Skala gab es mehr Kinderarmut, nach der modifizierten verstärkt Altersarmut (Hauser 2012, S. 143). Dass eine veränderte Berechnungsgrundlage in der Armutsforschung zu differierenden Ergebnissen kommt, mag eine mathematische Banalität sein, gleichwohl wird anhand des Beispiels deutlich, welchen Einfluss die Wahl der Äquivalenzskala auf den aus der Armutsforschung folgenden politischen Auftrag hat. So hat sich bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Voraussetzungen eindeutig der Fokus auf die Gefährdung von Alleinerziehenden und weg von Paarhaushalten verschoben.
Ob die Mindestsicherungsleistungen in Deutschland tatsächlich vor einem Leben in Armut schützen, wird innerhalb der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Insbesondere aus Sicht der Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften sind die aktuellen Regelsätze zu gering. Vielfach wird in diesem Zusammenhang auf die Armutsrisikoquote der Europäischen Union verwiesen (Abbildung 1) nach welcher beinahe jeder sechste in Deutschland von Armut bedroht ist.
5 Sozialberichterstattung als Ressource für Politik
Sozialberichte mit dem Ziel, die Erkenntnisse der Armutsforschung zu bündeln und für Politik und Zivilgesellschaft aufzubereiten, sind heute umfangreich vorhanden. Allein der Armuts- und Reichtumsbericht der Bunderegierung leistet in regelmäßigen Abständen eine umfassende sozialstatistische Analyse der Lebenslagen in Deutschland. Armut wird in den aktuellen Forschungsansätzen überwiegend an Defiziten an multidimensionalen Ressourcen festgemacht, d.h. die defizitäre Mittelausstattung des Individuums in verschiedenen Dimensionen seines Lebens steht im Mittelpunkt.
Vor dem Hintergrund einer derart extensiven Sozialberichterstattung kann nicht davon ausgegangen werden, dass die nach wie vor vorhandene – und in Teilen zunehmende – Armut erheblicher Bevölkerungsteile darauf zurückzuführen sei, dass diese nicht ausreichend bekannt sei. So ist etwa die viel diskutierte Zunahme der Alters- und Kinderarmut im letzten Jahrzehnt auch kein Versäumnis der Politik aufgrund mangelhafter empirischer Erkenntnisse gewesen, sondern diese Formen der Armut sind insbesondere Folge einer Umgestaltung des Arbeitsmarktes kurz nach der Jahrtausendwende. Diese wurde unter dem Begriff der Hartz-Reformen von der damaligen rot-grünen Bundesregierung vorgenommen. Unter den Schlagworten „Fördern und Fordern“ sollte die „Eigenverantwortung“ gestärkt werden. Dies geschah durch die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien bei der Arbeitsaufnahme sowie der Ausweitung von Sanktionen bei Verweigerung, dem drohenden Fall auf das sozioökonomische Existenzminimum bereits nach einem Jahr der Arbeitslosigkeit, der Lockerung des Kündigungsschutzes sowie einer generellen Ausweitung von prekären Beschäftigungsformen. Dass die damit einhergehende allgemeine Lohnsenkung sowie die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors keine ungewollten Begleiterscheinungen, sondern Intentionen der Hartz-Reformen waren, hat nicht zuletzt ihr Initiator Gerhard Schröder öffentlich klargestellt (Schröder 2005).
An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich das Verhältnis zwischen Armutsforschung und Politik nicht darin erschöpft, dass die Wissenschaft politische EntscheidungsträgerInnen mit den notwenigen empirischen Daten versorgt, auf deren Grundlage diese dann entsprechend handeln. Diese Vorstellung würde unterstellen, dass beide Seiten ein und dieselbe Problemdefinition von Armut haben. Das Beispiel der Hartz-Reformen verdeutlicht, dass die Politik der Armutsentwicklung auch eine nützliche Seite abgewinnen kann, etwa wenn es darum geht, den Wirtschaftsstandort Deutschland durch eine Absenkung des allgemeinen Lohniveaus in einer globalisierten Welt besser aufzustellen. Die Ausbreitung etwa der Kinderarmut – und zukünftig auch vermehrt der Altersarmut – ist eine unmittelbare Folge dieser Politik.
Die von der Sozialforschung bereitgestellten Daten können der Politik dienlich sein als Grundlage für eine präzise sozialstaatliche Intervention. Ob und wie diese erfolgt, hängt jedoch ganz an der jeweiligen Problemdefinition der politisch Verantwortlichen. Armutsforschung kann Missstände innerhalb der Gesellschaft aufdecken und als Folge dessen einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs anstoßen. Andererseits steht Armut aber auch immer im Bezug zu nationalen und internationalen Interessen. Armut fragt nicht nur danach, wer unter ihr leidet, sondern immer auch nach dem cui bono, also wem sie nützt (Best et al. 2018, S. 55).
6 Quellenangaben
Best, Normann, Jürgen Boeckh und Ernst-Ulrich Huster, 2018. Armutsforschung: Entwicklungen, Ansätze und Erkenntnisgewinne. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 27–57. ISBN 978-3-658-19076-7 [Rezension bei socialnet]
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil des Ersten Senats vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 - Rn. (1-220), BVerfGE 125, 175–260. Verfügbar unter http://www.bverfg.de/e/ls20100209_1bvl000109.html
Glatzer, Wolfgang und Werner Hübinger, 1990. Lebenslagen und Armut. In: Diether Döring, Walter Hanesch und Ernst-Ulrich Huster, Hrsg. Armut im Wohlstand. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31–55. ISBN 978-3-518-11595-4
Hauser, Richard, 2018. Das Maß der Armut. Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext – Der sozialstaatliche Diskurs. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 149–178. ISBN 978-3-658-19076-7 [Rezension bei socialnet]
Hauser, Richard, 2012. Das Maß der Armut. Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext – Der sozialstaatliche Diskurs. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 122–146. ISBN 978-3-531-19256-7
Huster, Ernst-Ulrich, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg., 2018. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-19076-7 [Rezension bei socialnet]
Leisering, Lutz und Petra Buhr, 2012. Dynamik von Armut. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS, S. 147–163. ISBN 978-3-531-19256-7
Schröder, Gerhard, 2005. Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem World Economic Forum am 28. Januar 2005 in Davos [online]. Bulletin der Bundesregierung Nr. 08–2. Berlin: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 28.01.2005 [Zugriff am 29.06.2018].Verfügbar unter: https://archiv.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/2001_2007/2005/08-2_Schr%C3%B6der.html
Sen, Armatya, 2005. Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München: Dt. Taschenbuch-Verl. ISBN 978-3-423-36264-1 [Rezension bei socialnet]
7 Literaturhinweise
Faik, Jürgen, 2015. Verteilung und Umverteilung von Wohlstand. Tübingen: Mohr Siebeck. ISBN 978-3-16-153713-4
Der Band bietet eine straffe, gleichwohl gründliche Zusammenfassung wichtiger Grundlagen der Verteilungsprozesse und -strukturen sowie deren Ergebnisse. Er bietet eine sehr gute Einführung in zentrale Begrifflichkeiten, zugleich werden Bewertungskriterien transparent diskutiert.
Huster, Ernst-Ulrich, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg., 2018. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-19076-7 [Rezension bei socialnet]
Dieser sehr umfangreiche Band erfasst den aktuellen Wissenstand auf dem Gebiet der Armutsforschung. Insbesondere die Beiträge von Best, Boeckh und Huster, von Hauser und von Strengmann-Kuhn, Hauser.
Verfasst von
Prof. Dr. Jan Bertram
Professor für Sozialpolitik und Sozialökonomie an der Katholischen Hochschule Mainz
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