Armutssensibilität
Prof. Dr. Stephan Otto
veröffentlicht am 14.11.2023
Unter Armutssensibilität wird ein empathischer und respektvoller Umgang mit von Armut betroffenen Menschen verstanden, da diese vielfältigen gesellschaftlichen Benachteiligungen ausgesetzt sind. Dadurch soll den Auswirkungen armutsbedingter Benachteiligung auf die Chancengleichheit im Bildungssystem entgegengewirkt werden.
Überblick
- 1 Definition zentraler Konzepte
- 2 Gesellschaftliche Verankerung von Armutssensibilität
- 3 Quellenangaben
1 Definition zentraler Konzepte
1.1 Armut als gesellschaftliche Herausforderung
Armut ist ein grundsätzlicher Bestandteil moderner Gesellschaften „die auf Erwerbsarbeit beruhen und sich durch ein mittels Geldbeziehungen organisiertes Marktgeschehen“ (Holz 2021, S. 7) auszeichnen. Zugleich gilt Armut als eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung, da diese einen unmittelbaren Einfluss auf die Lebensbedingungen von Menschen hat.
Differenzieren lässt sich der Armutsbegriff weitergehend in eine absolute und eine relative Armut.
- Absolute Armut meint einen Mangel an Zugang zu überlebensnotwendigen Ressourcen wie Nahrung, Wasser und Kleidung, was letztlich das physische Überleben gefährdet.
- Relative Armut hingegen meint einen mangelhaften Zugang zu materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen, welcher im Vergleich zu einer Referenzgruppe, in dem Land, in dem man lebt, als Minimum hinnehmbar ist (Huster et al. 2018).
In Deutschland wird üblicherweise mit dem Begriff der relativen Einkommensarmut gearbeitet. Menschen gelten als arm bzw. armutsgefährdet, sofern ihr Einkommen unterhalb einer bestimmten Schwelle liegt. Diese liegt EU-weit bei 60 % des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens. Konkret bedeutet dies, dass im Jahr 2021 ein Haushalt von zwei Erwachsenen mit zwei Kindern als armutsgefährdet galt, wenn dieser über ein maximales Nettoeinkommen von 2405 € verfügte (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2022).
Problematisch ist Armut insbesondere deshalb, da mit ihr im Regelfall ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe sowie ein unmittelbarer Einfluss auf Gesundheit und die persönliche Entwicklung (Sprache, kognitive und psychomotorische Leistungsfähigkeit) einhergehen (Huster et al. 2018). So weisen etwa Kinder, die in sozioökonomisch schwachen Familien aufwachsen, im Vergleich zu sozioökonomisch besser gestellten Kindern bereits in den ersten Jahren Entwicklungsverzögerungen auf, die dann bei Eintritt ins Bildungssystem nicht angeglichen werden können, sondern sich sogar noch verschärfen (Volf et al. 2023). Armutsbedingte Defizite können also nicht einfach kompensiert werden, sodass gleiche Bildungschancen für alle Menschen bestehen. Vielmehr verschärfen sich soziale Ungleichheiten hierdurch.
1.2 Armutssensibilität
Armutssensibilität ist ein Ansatz, durch den armutsbedingten Chancenungleichheiten entgegengewirkt werden soll. Armutssensibles Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass versucht wird, Barrieren abzubauen, Stigmatisierungen aufgrund von Armut aufzudecken und Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status eine bestmögliche gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Laut Holz (2021) zeichnet sich Armutssensibilität durch folgende vier Aspekte aus:
„Armutssensibilität
- ist als Empathie/Einfühlungsvermögen, Wertschätzung und Respekt gegenüber armutsbetroffenen Menschen – ihrer Lebenslage, ihren Bedürfnissen und Bedarfen, ihren Ressourcen und ihrem/​ihren Bewältigungshandeln/​-strategien – zu verstehen.
- ist ein pädagogisch ausgerichteter Anspruch an Fach-/​Leistungskräfte und Institutionen sowie ein sozialpolitischer Anspruch an Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger.
- zeigt sich (a) im persönlichen Handeln (Haltung, Wissen, Selbstreflexion), in der (b) institutionellen Organisation (Konzept, Verfahrensreglungen, Vorschriften) und (c) in den Strukturen (Gestaltung von Zugang und Teilhabe, Ressourcenausstattung, Kooperation und Vernetzung).
- wird getragen von persönlichen und gesellschaftlichen Werten wie Solidarität, Chancengerechtigkeit, soziale Inklusion und Miteinander in Gemeinschaft. Zudem befördert sie diese immer wieder von neuem“ (Holz 2021, S. 7).
2 Gesellschaftliche Verankerung von Armutssensibilität
Die verschiedenen Facetten von Armutssensibilität verdeutlichen, dass für umfassende Veränderungen armutsbezogener Benachteiligungen sämtliche Ebenen des Bildungssystems zu berücksichtigen sind. So nimmt Armutssensibilität die Ebene der Fachkräfte (Mikroebene), die der Bildungsinstitutionen (Mesoebene) und die der grundsätzlichen gesellschaftlichen Strukturen (Makroebene) in den Blick. Nur durch einen solchen umfassenden Ansatz können Folgen von Armut abgemildert und auch der Entstehung von armutsbedingter Ungleichheit entgegengewirkt werden.
2.1 Mikroebene (Fachkräfte)
Eine zentrale Ebene zur armutssensiblen Arbeit ist die der pädagogischen Fachkräfte (z.B. Lehrkräfte, Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen, Kindheitspädagogg:innen), die mit Armut in den Institutionen, in denen sie tätig sind, konfrontiert sind. Hierfür ist zunächst umfassendes Fachwissen der Fachkräfte über die Entstehung, die Folgen und die Erscheinungsformen von Armut notwendig. Ausgehend von diesem Fachwissen ist ein Umgang im Sinne einer selbstreflexiven pädagogischen Professionalität notwendig (AGJ 2017, S. 17), die sich durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung und eigenen Erfahrungen mit Armut auszeichnet. So können eigene Verallgemeinerungen und ggf. stereotype Zuschreibungen aufgedeckt werden. Die kritische Reflexion der eigenen Erfahrungen kann dann eine pädagogische Haltung ermöglichen, die keine Klischees reproduziert, Armut übersieht oder zu weiterer Ausgrenzung führt (Holz 2021, S. 7). Die Fachkräfte werden somit zu zentralen Instanzen, die armutsbetroffenen Zielgruppen Angebote für Lern- und Entwicklungsprozesse bereitstellen können, die ihnen ansonsten nicht zugänglich wären, um ihnen letztlich mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Um den Aufbau reflexiver Professionalität zur Stärkung der Armutssensibilität zu ermöglichen, bedarf es der systematischen Verankerung der Themenbereiche Armut, soziale Ungleichheit, Chancengerechtigkeit sowie Armutsprävention in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte (Holz 2021, S. 7).
Zusammengefasst müssen die Fachkräfte über folgende Wissensbestände und Kompetenzen verfügen, um armutssensibel agieren zu können:
- Fundierte Wissensbasis über Ursachen, Symptome und gesellschaftliche Folgen von Armut
- Aufbau einer selbstreflexiven Professionalität
- Bewusstmachung der eigenen Vorurteile und Zuschreibungen
- Erkennen von gesellschaftlichen Etikettierungen sowie Ausgrenzung aufgrund von Armut
- Empathischer und ressourcenorientierter Umgang mit Betroffenen (Keßel 2020, o.S.).
2.2 Mesoebene (Bildungsinstitutionen)
Um Armutssensibilität tatsächlich wirksam im Bildungssystem verankern zu können, muss über die Ebene der Fachkräfte hinaus auch eine institutionelle Weiterentwicklung etwa in Kindergärten, Schulen und Einrichtungen der Sozialen Arbeit angestoßen werden. In pädagogischen Einrichtungen sollten hierfür spezifische Strukturen und Maßnahmen etabliert werden, die ein armutssensibles Handeln erlauben (Volf et al. 2023). Hierfür gilt es Bildungsinstitutionen kritisch-reflexiv in den Blick zu nehmen und Strukturen abzubauen, die sonst sogar dazu beitragen können, armutsbedingte Unterschiede sogar noch zu verstärken. Konkret können hierzu etwa die folgenden Maßnahmen auf der Mesoebene ergriffen werden.
- Aufnahme von Armutssensibilität in das Konzept der Einrichtung
- Feste Etablierung von Bildungsangeboten, die armutsbelasteten Kindern zusätzliche Lern- und Erfahrungsräumen eröffnen
- Auf- und Ausbau der Elternarbeit: Etablierung einer Zusammenarbeit mit armutsbelasteten Eltern, um durch diese Beziehungsarbeit eine bessere Förderung der Kinder zu ermöglichen
- Vernetzung im Sozialraum mit anderen Institutionen (Sportvereine, Schulen, Jugendzentren), um ein breites Förderangebot bereitstellen zu können
- Etablierung einer multiprofessionellen Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Fachkräften innerhalb der Einrichtung und im Sozialraum (Erzieher:innen, Lehrkräften, Sozialarbeiter:innen), um gemeinsam Maßnahmen gegen armutsbedingte Benachteiligungen ergreifen zu können (Holz 2021, S. 9).
2.3 Makroebene (Gesellschaft)
Die Makroebene umfasst schließlich gesamtgesellschaftliche Strukturen wie Politik und Verwaltung, aber auch Normen, Werte und Vorstellungen in der Gesellschaft, die ein armutssensibles Handeln befördern oder behindern können. Insbesondere politische Entscheidungsträger:innen nehmen hier eine Schlüsselfunktion ein, da durch die Auseinandersetzung mit Armut und Folgeerscheinungen auf höherer politischer Ebene ein grundsätzliches Bewusstsein hierfür auf den anderen Ebenen geschaffen werden kann (Holz 2021, S. 10). Konkrete Leitlinien des politischen Handelns können hierbei sein:
- Wahrnehmung von Armut als eine zentrale Herausforderung staatlichen Handelns
- Armutsprävention und Begrenzung von Armutsfolgen gilt als Aufgabe der Entscheidungsträger:innen
- Bereitstellung von personellen, finanziellen und materiellen Ressourcen zur Präventions- bzw. Kompensationsarbeit gegen Armut
- Etablierung eines umfassenden Angebots gegen Armut, welches alle Betroffenen (Eltern und Kinder) sowie die gesamte Bildungsbiografie umfasst
- Förderung und Etablierung der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften zum Themenkomplex Armut.
3 Quellenangaben
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), 2017. Armut nicht vererben – Bildungschancen verwirklichen – soziale Ungleichheit abbauen! Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht: Konsequenzen und Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe [online]. Berlin: AGJ, 18.07.2017 [Zugriff am: 20.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.agj.de/fileadmin/​files/​positionen/2017/Armut_nicht_vererben.pdf
Holz, Gerda, 2021. Stärkung von Armutssensibilität: Ein Basiselement individueller und struktureller Armutsprävention für junge Menschen. Paderborn: Bonifatius GmbH, Druck-Buch-Verlag
Huster, Ernst-Ulrich, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn, Hrsg., 2018. Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden: Springer. ISBN 978-3-531-19256-7 [Rezension bei socialnet]
Keßel, Peter, 2020. Was bedeutet armutssensibles Handeln? [online]. Osnabrück: Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung, 24.02.2020 [Zugriff am: 20.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.nifbe.de/component/​themensammlung?view=item&id=903:was-bedeutet-armutssensibles-handeln&catid=48
Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2022. A.7 Mediane und Armutsgefährdungsschwellen [online]. Stuttgart: Statistische Ämter des Bundes und der Länder [Zugriff am: 20.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/​einkommen-armutsgefaehrdung-und-soziale-lebensbedingungen/​armutsgefaehrdung-und-9
Volf, Irina., Hannah Schipperges, Simone Habel, Claudia Laubstein und Anita Kalustian, 2023. Armutssensibles Handeln in der Kita: Evaluation des Modellversuchs „Zukunft früh sichern!“. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-7455-0 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. Stephan Otto
Professor für Kindheitspädagogik
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https://orcid.org/0000-0002-1313-8768
Es gibt 1 Lexikonartikel von Stephan Otto.
Zitiervorschlag
Otto, Stephan,
2023.
Armutssensibilität [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 14.11.2023 [Zugriff am: 11.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29947
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Armutssensibilitaet
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