Asperger, Hans
Manfred Berger
veröffentlicht am 06.12.2023

Der zeitlebens hochgeachtete Kinderarzt und Heilpädagoge Hans Asperger gehört zu den (inzwischen umstrittenen) Großen der Heilpädagogik im deutschsprachigen Raum. Er hat die Heilpädagogik als wissenschaftliche Disziplin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebend beeinflusst.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Biografische Eckdaten und berufliches Wirken
- 3 Aspergers außerklinische Tätigkeiten
- 4 Aspergers wegweisende Publikationen
- 5 Kritik und Würdigung
- 6 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Hans Asperger hat Wesentliches zur Entwicklung und Anerkennung der Heilpädagogik als wissenschaftliche Disziplin beigetragen. Das von ihm detailliert beschriebene Zustandsbild psychopathischer Kinder wird heute in der medizinischen Fachsprache weltweit als „Asperger-Syndrom“ bezeichnet und als Meilenstein in der Entstehungsgeschichte des Autismus-Konzeptes betrachtet. Ebenso setzte er mit seiner 1952 erstmals erschienen Monografie „Heilpädagogik“ wegweisende Impulse, die Heilpädagogik als interdisziplinäres Fachgebiet zu etablieren.
Doch das über Jahrzehnte positiv gezeichnete Bild des Pädiaters und Heilpädagogen bekam Risse. Ihm wird vorgeworfen, dass er als Leiter der Heilpädagogischen Station der Wiener Universitäts-Kinderklinik, die er durch drei politische Systeme führte, während der Nazi-Diktatur im Rahmen der „Euthanasie“-Morde Kinder in die Heil- und Pflegeanstalt „Am Spiegelgrund“ (seit März 1942 „Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien Am Spiegelgrund“) überwiesen habe. Somit sei er zum Kompagnon innerhalb der Tötungsmaschinerie des NS-Regimes geworden. Die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, insbesondere von dem österreichischen Medizinhistoriker Herwig Czech (2011, S. 23 ff.; 2015, S. 24 ff.; 2018, S. 2 ff.; 2021, S. 78 ff; 2024), der Zeithistorikerin Ina Friedmann (2015, S. 309 ff.; 2022) sowie der US-amerikanischen Historikerin Edith Sheffer (2018) riefen bei Wegbegleiter:innen Aspergers heftige Dementis hervor (Groh et al. 2020, S. 214 ff.; Maleczek et al. 2020, S. 176 ff.; Tatzer 2020, S. 204 ff.; Waldhauser et al. 2020, S. 188 ff.).
In jüngster Zeit kam ein weiterer Vorwurf hinzu: Ein ehemaliger Patient Aspergers beklagte retrospektiv, wie wenig sich an Charakter und Geist in den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur in der Universitäts-Kinderklinik geändert hatte (Reinthaller 2022, S. 9 f.).
2 Biografische Eckdaten und berufliches Wirken
2.1 Kindheit, Jugend und Studium
Johann (Hans) Friedrich Karl erblickte das Licht der Welt in Wien – und nicht wie an verschiedenen Stellen angegeben in Hausbrunn (z.B. Berger 2007, S. 30; Stemmer o.J.). Sieben Tage nach seiner Geburt wurde er in der Altlerchenfelder Pfarrkirche römisch-katholisch getauft (ICARUS o.J.).
Der Vater, Johann Asperger, war selbstständiger Buchhalter, die Mutter, Sofie Asperger (geb. Messinger), zeichnete für den Haushalt und die Erziehung der Kinder verantwortlich. Hans hatte noch zwei jüngere Brüder, einer davon verstarb bald nach der Geburt. Der 1909 geborene Bruder Karl fiel mit 32 Jahren in der Sowjetunion.
In einem Radiointerview des Jahres 1974 konstatierte Asperger über sein Elternhaus und seine Kindheit:
„Wie bin ich erzogen worden? Mit viel Liebe, ja Selbstentäußerung von meiner Mutter, mit großer Strenge von meinem Vater. Mein Vater hat immer daran gelitten, dass ihm eine höhere Bildung versagt war, und nun musste sein Sohn erreichen, was er nicht erreichen konnte. Es war also in dieser Familie selbstverständlich, dass der älteste Sohn lauter Einser haben musste“ (Sousek 2015. S. 17).
Schon während der Mittelschulzeit schloss sich Asperger der Jugendbewegung an. Er fühlte sich insbesondere den im April 1923 gegründeten „Fahrenden Scholaren“, einer Gruppe des „Bund Neuland“ verbunden (Czech 2020, S. 164; Maleczek et al. 2020, S. 176 f.). Der körperlich ungeschickte Jüngling war begeistert von den wochenlangen Wanderungen mit Lagerfeuer, Laienspiel und Liedgesang, den Bergfahrten, vom Erleben der Gemeinschaft, der Natur und Kunst (Asperger Felder 2008, S. 100).
Nach Beendigung der Schulzeit folgte der frisch gebackene Abiturient seiner bereits in der zweiten Klasse des Gymnasiums getroffenen Berufswahl und nahm im Jahr 1925 das Studium der Medizin an der Universität Wien auf. Dort wurde er am 26. März 1931 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert.
2.2 Die Jahre bis 1945
Unmittelbar nach dem Rigorosum erhielt der junge Mediziner eine Anstellung als Hilfsarzt an der Universitäts-Kinderklinik Wien, geleitet von Franz Hamburger. Der Klinikleiter war ein überzeugter Nationalsozialist (Castell et al. 2003, S. 279; Sheffer 2018, S. 44), der u.a. zu den Gründungsmitgliedern der 1924 in Graz ins Leben gerufenen „Gesellschaft für Rassenhygiene“ gehörte und ab 1934 in der in Österreich verbotenen NSDAP tätig war. Das Bewerbungsgespräch sei, „gar keine strenge Prüfung, sondern ein fast vertrauliches Gespräch zwischen einem Älteren und Jüngeren, das mir großen Spaß gemacht hat“ (Sheffer 2018, S. 47), gewesen, erinnerte sich Asperger in dem bereits erwähnten Radiointerview an seinen Mentor. Nach Maria Asperger Felder soll Hamburger ihren Vater zweimal vor der drohenden Verhaftung durch die Gestapo „gerettet“ haben (Asperger 2006, S. 5) – eine Information, die allein von Hans Asperger stammt und für die bisher jeder dokumentarische Beleg fehlt (Czech 2020, S. 167; Donvan und Zucker 2016, S. 333 f.).
Im Herbst 1932 hatte Hamburger den 26-jährigen Mediziner der Heilpädagogischen Station der Universitäts-Kinderklinik zugewiesen, dessen Leitung er drei Jahre später übernahm. Ina Friedmann vermutet, dass des Klinikleiters „generelle Sympathie für Asperger, zusammen mit dem von ihm wesentlich geförderten antisemitistischen Klima an der Kinderklinik, ihn in jedem Fall dem jüdischen Abteilungsarzt Georg Frankel, der bereits seit Mitte der 1920 [in der Klinik tätig war], vorziehen ließ“ (Friedmann 2022, S. 129).
Im Jahr 1934 verbrachte Asperger einen Studienaufenthalt in Leipzig. Diesbezüglich hielt er am 10. April d.J. in seinem Reisetagebuch mit einer Mischung aus Verwunderung und zugleich Faszination fest:
„Wie da ein ganzes Volk in eine Richtung geht, fanatisch, mit eingeengtem Gesichtsfeld, gewiss, aber mit einer Begeisterung und Hingabe, in ungeheurer Zucht und Disziplin, mit einer furchtbaren Schlagkraft. Nurmehr Soldaten, soldatisches Denken – Ethos – germanisches Heldentum“ (Friedmann 2022, S. 103).
Der junge Mediziner schien bei den Kindern beliebt gewesen zu sein, wie aus Zeilen eines Mädchens an ihre Eltern, „allerdings in einem nicht zurückbehaltenen, sondern für die Ablage verfassten Brief [hervorgeht]: Vorige Woche hat Herr Doktor sein Gram[m]ophon mitgebrach[t] und da habe ich mit dem Herr[n] Doktor getanzt es war sehr schön“ (Friedmann 2022, S. 273). Doch auch Klagen über die Heilpädagogische Station wurden laut „über schlechtes und unzureichendes Essen sowie einen Erzieher ‚von Dachau‘, die Behauptung, dass die Patient:innen mit ‚Gummiknütteln [unklar] und Schaufeln ins Gesicht [ge]haut‘ würden sowie die Angabe, dass ‚hier ein Konsistrationslager [sic] wird‘, sind besonders dahingehend interessant, als sie sehr deutlich zeigen, wie verbreitet das Wissen um Konzentrationslager während der NS-Zeit in der Bevölkerung war“ (a.a.O., S. 275).
1935 heiratete Asperger Johanna (Hanna) Kalmon aus Hiddingsel (im westlichen Münsterland). Aus der als glücklich geltenden Ehe gingen vier Töchter und ein Sohn hervor.

Asperger wurde ob seiner politischen Zuverlässigkeit mindestens zweimal (5.1.1939 und 1.11.1940) überprüft. Dabei wurde dem „zutiefst humanistisch und katholisch geprägten Menschen“ (Waldhauser et al. 2020, S. 188) attestiert, in „Fragen der Rassen- und Sterilisierungsgesetzgebung […] mit den nat. soz. Ideen konform“ zu gehen (Berger 2019; Czech 2020, S. 166).
Am 10. März 1943 erwarb Hans Asperger die Venia legendi. Seine Habilitationsschrift hatte das Thema: „Die ‚Autistischen Psychopathen‘ im Kindesalter“ (Asperger 1944, S. 76 ff.). Die öffentliche Lehrprobe zur Erlangung der Lehrbefugnis für Kinderheilkunde an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien fand am 22. Juni 1943 statt.
Unmittelbar nach Fertigstellung der Habilitation wurde der Oberarzt am 25. März 1943 zur Wehrmacht einberufen (Bundesarchiv Berlin, Sign. BArch R. 9347), zunächst zu einer Sanitätskompanie, dann im Januar 1944 zur Bekämpfung von Partisanen im nördlichen Kroatien. In seinem Kriegstagebuch hielt der Soldat fest: „Es ist gut, dass ein Mann weiß, wie er sich in Lebensgefahr, wenn die Kugeln pfeifen, benimmt, es ist auch ein Feld der Bewährung und auch ein Feld, wo man für andere zu sorgen hat“ (Asperger 2006, S. 7).
2.3 Die Jahre nach 1945 und letzter Lebensabschnitt
Nach 1945 konnte Asperger, weil unbelastet, d.h. er gehörte nicht der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) an, seine Arbeit an der Heilpädagogischen Station der bombengeschädigten Wiener Universitäts-Kinderklinik ungehindert wieder aufnehmen. Die 1943 erteilte Lehrbefugnis wurde im Februar 1946 bestätigt und u.a. auch die Arbeit am Jugendgericht wieder aufgenommen. 1946 übernahm er für drei Jahre die interimistische Leitung der Universitäts-Kinderklinik. Am 30. Mai 1953 wurde ihm der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen.
Asperger bemühte sich, die ihm unterstehende Heilpädagogische Abteilung zu verselbstständigen sowie um die Errichtung eines Extraordinariats für Heilpädagogik. Dazu kam es jedoch nicht. Das Professorenkollegium, das die Heilpädagogik nicht als medizinische Disziplin betrachtete, erteilte die nötige Zustimmung nicht (Brezinka 2000, S. 782 ff.).
Am 11. Februar 1957 wurde Asperger, obwohl von der Berufungskommission „tertio loco“ (an letzter Stelle) gesetzt, zum ordentlichen Professor der Kinderheilkunde und Vorstand der Universitäts-Kinderklinik Innsbruck ernannt (Lechner 2020, S. 199).
Nach fünf Jahren Aufbauarbeit kehrte Asperger nach Wien zurück. Am 26. Juni 1962 berief man ihn zum ordentlichen Professor für Kinderheilkunde sowie zum Vorstand der Wiener Universitäts-Kinderklinik. Das unter seiner Führung erworbene internationale Renommee der Universitäts-Kinderklinik „bezog sich vor allem auf die Heilpädagogik und die Autismusforschung, nicht so sehr auf die naturwissenschaftliche Medizin“ (o.V. 2011, S. 71).
Zusammen mit Hermann Gmeiner errichtete Asperger im Sommer 1963 im SOS-Kinderdorf Hinterbühl eine Heilpädagogische Station. Ihre Aufgabe bestand darin: a) „diagnostisch zu klären, ob Kinder ‚kinderdorffähig‘ waren und aufgenommen werden konnten“; b) „schwer gestörte“ Kinderdorfkinder „auf der therapeutischen Ebene (wieder) ‚kinderdorffähig‘ zu machen“ (Schreiber 2014, S. 121 ff.).
Mit Wirksamkeit vom 28. Februar 1977 wurde Asperger emeritiert, hielt aber noch bis Herbst 1980 seine seit Jahrzehnten abgehaltene einstündige Vorlesung „Heilpädagogik. Wege zur Menschenkenntnis“ – später mit dem Zusatz „für Mediziner und Psychologen“ (Brezinka 2000, S. 788). In seinen letzten Lebensjahren war der Emeritus, wie seine Tochter berichtet,
„ein oft schweigsamer Mensch, der die Gesellschaft der Anderen nicht brauchte, um sich wohl zu fühlen. Er zog sich zurück, nutzte seine Zeit für Eigenes, war dadurch immer wieder, auch für uns Kinder, unerreichbar und unnahbar“ (Asperger Felder 2015, S. 41).
Asperger hat nach 1945 nie klar und deutlich zu seinem beruflichen Wirken in den Jahren 1938 bis 1945 Stellung genommen. Diesbezüglich berichtete er 1971: „Die Inhumanität des Nationalsozialismus schickte sich an, die Welt zu erobern. Einzelne hellhörige Menschen ahnten schon, bis zu welchen schrecklichen Konsequenzen die Zeit fortschreiten würde, Folgerungen, die jegliche Hilfe für die Behinderten als sinnlos erscheinen lassen mußten“ (Asperger 1971, S. 50).
Der österreichische Heilpädagoge starb nach kurzer Krankheit am 21. Oktober 1980 mit 74 Jahren in Wien.

3 Aspergers außerklinische Tätigkeiten
Asperger war neben seiner beruflichen Tätigkeit im klinischen Bereich noch anderweitig engagiert. Neben seiner lebenslangen Zugehörigkeit im „Bund Neuland“ war er seit Mai 1934 Mitglied in der ein Jahr vorher unter Engelbert Dollfuß gegründeten „Vaterländischen Front“ (Sheffer 2018, S. 50). Die politische Organisation „hatte ideologische Gemeinsamkeiten mit den deutschen Nationalsozialisten, pochte jedoch auf die Unabhängigkeit Österreichs und lehnte einen Zusammenschluss mit Deutschland ab“ (ebd.).
Er war „auch Mitglied im ‚Verein Deutscher Ärzte in Österreich‘ […] Zum Zeitpunkt von Aspergers Beitritt 1934 verließen viele der ursprünglich zahlreichen konservativen Mitglieder den Verein; dieser wurde zu einem Sammelbecken illegaler Nationalsozialisten“ (Czech 2020, S. 164). Des Weiteren war er in
„den Schuljahren 1934/35 und 1935/36 als Schularzt in der ‚Bundeserziehungsanstalt Wien XVII‘ […] tätig und ab November 1936 als Jugendarzt für die neueingerichtete Mütterberatungsstelle im Familienasyl des Bezirksjugendamtes für den 20. Bezirk angestellt […] 1938 folgte die Bestellung zum Sachverständigen für das Wiener Jugendgericht […] 1940 schließlich wurde er […] für zwölf Wochenstunden im Referat Schulkinderfürsorge im Wiener Hauptgesundheitsamt als ‚Facharzt für die Wahrnehmung der heilpädagogischen und kinderpsychiatrischen Belange in den Wiener Hilfsschulen‘ angestellt“ (Friedmann 2022, S. 132 ff.).
Darüber hinaus war Asperger ab April 1938 Mitglied in der „Deutschen Arbeitsfront“, ab Mai d.J. in der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“, für die er „gutachtend tätig war“ (Friedmann 2022, S. 133), und ab Juni d.J. war er Anwärter im „Nationalsozialistischen Ärztebund“, einer „ideologische Speerspitze der NSDAP“ (Czech 2015, S. 25). Außerdem gehörte er als Mitglied dem „Deutschen Schulverein Südmark“ (Friedmann 2022, S. 139) an, der 1939 in den „Verein für das Deutschtum im Ausland“ eingegliedert wurde, sowie der „St.-Lukas-Gilde“, einer Vereinigung katholischer Ärzt:innen (Maleczek et al. 2020, S. 178 f.).
In einer Fragebogenerhebung, datiert auf 7. Juli 1940, gab Asperger zu Protokoll, dass eine Mitarbeit seinerseits in der HJ vorgesehen war (Czech 2015, S. 25). Seine Beitritte zu voranstehenden NS-Organisationen waren, wie Herwig Czech expliziert, wohl Karrieregründen geschuldet (Czech 2020, S. 66 f.). Anzumerken ist, dass Asperger, der 1935 zum Assistenzarzt und 1941 zum Oberarzt arrivierte, kein Mitglied der NSDAP war und auch nicht versuchte eines zu werden. Ebenso trat er nicht agitierend für irgendeine NS-Gruppierung in Erscheinung. Er scheint den Nationalsozialismus nicht gewünscht, aber sich mit den Gegebenheiten arrangiert zu haben. Vermutlich ist er einen Mittelweg gegangen, „zwischen Distanz zum neuen Regime und gewissen Anpassungsleistungen, die auch im Zusammenhang mit dem stark nationalsozialistischen Umfeld an der Kinderklinik zu sehen sind“ (ebd.).
Nach 1945 war Asperger Mitbegründer und Präsident (bis zu seinem Tod) der 1948 ins Leben gerufenen „Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Heilpädagogik“, die sich seit 1994 „Heilpädagogische Gesellschaft Österreich“ nennt. In Verbund mit der Arbeitsgemeinschaft für Heilpädagogik war er 1949 in hohem Maße an der Gründung der ersten „child guidance clinic“ in Wien involviert (Tatzer 2020, S. 211). Ab 1950 war er Vizepräsident der „Österreichischen Gesellschaft für psychische Hygiene“ und 1962 an der Gründung der „Österreichischen Gesellschaft für Kinderheilkunde“ beteiligt. Maßgebend beteiligte er sich 1950 an der Mitbegründung, der „Internationalen Pädagogischen Werktage“ in Salzburg.
Für die „Internationalen Kongresse für Heilpädagogik“ betätigte er sich als Referent und Organisator. In den Jahren 1954 und 1969 war er für die Organisation und Durchführung des dritten und vierten „Internationalen Kongresses für Heilpädagogik“ verantwortlich, die in Wien stattfanden. Eine weitere Veranstaltung, „an der Asperger jedes Jahr teilnahm, waren die Pädiatrischen Fortbildungskurse in Obergurgl. Dort hielt er regelmäßig literarische Abende. Im Februar 1980, wenige Monate vor seinem Tod, lautete das Thema: ‚Der Tod in der Literatur‘ Zufall?“ (Asperger Felder 2008, S. 110). Für die Fachzeitschrift „Heilpädagogik“, welche seit 1958 als Beiblatt des Periodikums „Erziehung und Unterricht“ erschien, zeichnete er vom 1. Jahrgang bis zu seinem Tod als Schriftleiter verantwortlich.

4 Aspergers wegweisende Publikationen
Bisher konnten über 350 wissenschaftliche Schriften des Kinderarztes und Heilpädagogen gefunden werden, die nur zum Teil an Fachkräfte und überwiegend an Nichtmediziner:innen gerichtet waren. Sie zeichnen sich summa summarum durch einen „stark phänomenologischen Ansatz“ aus und orientieren sich „wenig an klassisch naturwissenschaftlichen Forschungsstandards und einer empirischen Begründung“ (Sousek 2015, S. 20).
4.1 Autistischer Psychopath/​Asperger-Syndrom
Innerhalb der Forschungsarbeiten zum Autismus wurde lange angenommen, dass der austro-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner 1943 in der Fachzeitschrift „Nervous Child“, unter der Rubrik „Pathology“, die ersten Beschreibungen eines eigenständigen Syndroms aus dem Kontinuum autistischer Störungen vorgenommen hätte (Kanner 1943, S. 177 ff.). Diese Annahme muss revidiert und für Asperger vordatiert werden, da dieser bereits erstmals 1938 und erneut 1941 die Charakteristika der „autistischen Psychopathen“ beschrieb (Asperger 1938, S. 1314 ff.; Asperger 1941, S. 244 ff.; Asperger Felder 2008, S. 105 ff.; Poustka 2015, S. 1 ff.; Schirmer 2002, S. 450 ff.).
Damit wird Aspergers „Bedeutung als Pionier der Autismusforschung, als der er immer im Schatten Leo Kanners stand, deutlich erhöht. Leo Kanner, der im Jahre 1924 in die USA ausgewandert war, hatte seinen Aufsatz in englischer Sprache geschrieben und wurde damit international bald bekannt. Hans Aspergers in deutscher Sprache publizierte Schriften hingegen wurden zunächst wenig beachtet“ (Schirmer 2002, S. 451). Erst als die Psychiaterin Lorna Wing, Mutter einer autistischen Tochter, 1981 Aspergers Habilitationsschrift ins Englische übersetzte und seine Forschungen fortsetzte, fand die wissenschaftliche Arbeit des Österreichers internationale Beachtung. Die Britin war es auch, die den Begriff „autistische Psychopathie“ durch die Notation „Asperger-Syndrom“ ersetzte (Wing 1981, S. 115 ff.). Das „Asperger-Syndrom“, das 1991 Eingang in das Internationale Klassifikationssystem der WHO fand, ist ein Teil des autistischen Spektrums und entspricht im Prinzip dem, was auch „High-Functioning-Autism“ genannt wird.
Asperger bezeichnete eine bestimmte Gruppe „abnormer Kinder“ als „autistische Psychopathen“. Freilich gäbe es darunter „recht verschiedene, auch recht verschieden zu bewertende Menschen“ (Asperger 1938, S. 1316). In der Begriffsbestimmung bezog er sich teilweise auf den Schweizer Psychiater Eugen Bleuer, der den Ausdruck 1912 für die schweren Veränderungen des Kontaktes mit der Wirklichkeit bei erwachsenen Schizophrenen eingeführt hatte (Asperger 1944, S. 84). Wesentlich für das Zustandsbild des „autistischen Psychopathen“ sei
„die Kontaktstörung, wodurch diese sonderlinghaften, einzelgängerischen, ‚auf ihr eigenes Selbst eingeengten‘, instinktgestörten Kinder aus jeder Gemeinschaft herausfallen. Oft von überdurchschnittlicher intellektueller Begabung, aber von unkindlichen, manchmal schon abwegigen Sonderinteressen erfüllt, leben sie ihr eigenes Leben, ohne Gefühlsbeziehungen zur Umwelt, darum auch auf die Anforderungen der Umwelt ganz abnorm reagierend“ (Asperger 1941, S. 244).
Bei richtiger „erzieherischer Therapie“ würden diese „Sonderlinge“ lernen, mit den an sie gestellten „Lebensanforderungen fertig zu werden, und finden auch den Weg in die Volksgemeinschaft, meist in recht ‚seltenen‘ Berufen, z. b. als Forscher auf irgendeinem weitabliegenden Sondergebiet, auf diesem aber vermöge ihres Sonderinteresses Besonders leistend“ (a.a.O., S. 245 f.). Asperger betonte, dass es in erster Linie nur die Erziehung vermöge,
„die menschliche Persönlichkeit wirklich zum Besseren zu verändern, darum auch abartige Persönlichkeiten therapeutisch zu beeinflussen. Gewiß ist das Individuum durch seine Anlagen bestimmt. Aber fast immer lassen diese Anlagen mehrere Möglichkeiten offen. ‚Anlage ist nicht Schicksal, sondern Schicksalsmöglichkeit‘. Dadurch, daß die Erziehung unter diesen Möglichkeiten die erwünschten auswählt, erwünschte Gewohnheiten schafft, bestimmte Erlebnisse darbietet, kann sie tatsächlich – in Grenzen natürlich – eine Änderung der Persönlichkeit erreichen“ (Asperger 1941, S. 240).
In seiner 1943 eingereichten, jedoch erst ein Jahr später veröffentlichten Habilitationsschrift stellte Asperger vier männliche „autistische Psychopathen“ – mehr oder weniger ausführlich – vor, die er in seiner ärztlichen Tätigkeit auf der Heilpädagogischen Station der Universitäts-Kinderklinik behandelte. Seine Diagnose:
„Eine einheitliche Grundstörung, die sich ganz typisch im Körperlichen, in den Ausdruckserscheinungen, im gesamten Verhalten äußert, bedingt beträchtliche, sehr charakteristische Einordnungsschwierigkeiten; steht auch in vielen Fällen das Versagen an der Gemeinschaft im Vordergrund, so wird es doch wieder in anderen Fällen kompensiert durch besondere Originalität des Denkens und Erlebens, die oft auch zu besonderen Leistungen im späteren Leben führen“ (Asperger 1944, S. 84).
Die erbbiologische Variante berücksichtigend, stellte der Habilitand fest, dass es sich bei den mehr als 200 beobachteten autistischen Kindern im Hinblick auf ihr Geschlecht ausschließlich um Jungen handelte. Asperger beobachtete auch bei Mädchen Kontaktstörungen,
„die in manchen Zügen an die Autistischen Psychopathen gemahnten, wir fanden auch Mädchen, bei denen wir eine vorausgegangene Encephalitis als Ursache des Zustandes annehmen mußten […], wir fanden aber bei Mädchen kein voll ausgeprägtes Bild […] Wie ist das zu erklären? Handelt es sich hier um eine geschlechtsgebundene oder zumindest geschlechtsbegrenzte Vererbung? Es ist etwas von der Art. Der autistische Psychopath ist eine Extremvariante der männlichen Intelligenz, des männlichen Charakters. Schon innerhalb der normalen Variationsbreite finden sich typische Unterschiede zwischen Knaben- und Mädchenintelligenz: die Mädchen sind im allgemeinen die besseren Lerner, ihnen liegt das Konkrete, das Anschauliche, das Praktische, das saubere eifrige Arbeiten, dagegen liegt das Logische, die Fähigkeit zur Abstraktion, das präzise Denken und Formulieren, das eigenständige Forschen viel mehr in den Möglichkeiten der Knaben“ (Asperger 1944, S. 129).
Später ergänzte Asperger in seinem Lehrbuch „Heilpädagogik“, dass es sich bei Mädchen, die über ein logisch-abstraktes Denkvermögen verfügen „meist um ins Maskuline gehende Typen […] handelt“ (Asperger 1968, S. 199). Bei den auf der Kinderstation beobachteten Fällen beobachtete Asperger, dass die
„Autistischen Psychopathen in einem… weit überdurchschnittlichen Maße einzige Kinder sind […] Wenn man solche Kinder von ganz klein auf aufwachsen sieht, wenn man beobachten kann, wie ihr Wesen vom frühesten Kindesalter in der beschriebenen Richtung festgelegt ist, wenn man ferner weiß, daß sich autistische Kinder, die unter Geschwistern aufwachsen, in der ganz derselben Weise entwickeln wie einzige Kinder, dann muß eine Erklärung aus exogener Verursachung absurd erscheinen. Nein, daß diese Kinder autistisch sind, liegt nicht in den ungünstigen Erziehungseinflüssen, denen ein geschwisterloses Kind ausgesetzt ist, sondern ist in den von den ebenfalls autistischen Eltern ererbten Anlagen begründet“ (Asperger 1944, S. 130).
Die „soziale Wertigkeit“ betreffend, plädierte Asperger eindringlich dafür, dass die „autistischen Psychopathen“ ihren Platz in der sozialen Gemeinschaft haben sollten und diesen auch voll ausfüllen, sicher
„manche vielleicht in einer Weise, wie das sonst niemand könnte – und das waren oft Kinder, die ihren Erziehern die größten Schwierigkeiten und die größten Sorgen bereitet haben. Gerade bei solchen Charakteren zeigt sich, wie entwicklungs- und anpassungsfähig auch abartige Persönlichkeiten sein können, wie so oft Möglichkeiten einer sozialen Einordnung im Laufe der Entwicklung auftauchen, die man früher in den Menschen nicht vermutet hätte. Diese Tatsache bestimmt denn auch unsere Einstellung und unser Werturteil gegenüber schwierigen Menschen dieser und anderer Art und gibt uns das Recht und die Pflicht, uns für sie mit unserer ganzen Persönlichkeit einzusetzen, denn wir glauben, daß nur der volle Einsatz des liebenden Erziehers bei so schwierigen Menschen Erfolge erzielen kann“ (Asperger 1944, S. 135).
4.2 Heilpädagogik – ein organisches Ganzes
Mit dem 1952 erschienen Fach- und Lehrbuch „Heilpädagogik. Einführung in die Psychopathologie des Kindes für Ärzte, Lehrer, Psychologen, Richter und Fürsorgerinnen“ ist dem Verfasser ein „entscheidender Schritt in der wissenschaftlichen Laufbahn… gelungen“ (Schmuttermeier 2006, S. 11). In der Gesamtheit „gilt die von ihm gewählte Systematik auch heute noch, wobei natürlich Ausdrücke, wie ‚Psychopath‘, ‚Neuropath‘ u.Ä. aus dem Vokabular verschwunden sind“ (Tatzer 2020, S. 209). Die Publikation, die sich an „alle, welche mit problematischen Kindern und Jugendlichen zu tun haben“ (Asperger 1968, S. I) wandte, hatte schnell internationale Beachtung gefunden. Dem Standardwerk ist mit zu verdanken, dass sich die Heilpädagogik nach dem Zusammenbruch der NS-Gewaltherrschaft zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin entwickelte. Das Buch wurde mehrfach aufgelegt, zuletzt 1968 in 5. Auflage und in alle wichtigen Sprachen übersetzt.
Asperger geht in seiner Monografie „von einer ganzheitlichen Betrachtung körperlicher und seelischer Gegebenheiten und Vorgänge aus und will den Leser zu einer solchen führen“ (Castell et al. 2003, S. 300). Er betrachtete die Disziplin Heilpädagogik als ein organisches Ganzes, als eine Wissenschaft, „welche, auf biologisch fundierter Kenntnis abnormer Persönlichkeiten aufbauend, vornehmlich pädagogische Wege zur Behandlung intellektueller und Sinnesdefekte, nervöser und seelischer Störungen des Kindes- und Jugendalters sucht“ (Asperger 1968, S. 1).
Die fünf Quellströme der heilpädagogischen Lehre werden ihm zufolge gebildet aus zwei ärztlichen Sondergebieten, der Pädiatrie sowie Psychiatrie, dann der Psychologie, der Sozialwissenschaft und der Pädagogik. Dabei erschöpfe keine der genannten Wissenschaften das Wesen der Heilpädagogik vollständig:
„Diese gehört also weder der Psychiatrie noch der Pädagogik noch der Jugendpsychologie zu, sie ist auch nicht eklektizistisch als Teilwissen dieser Gebiete zusammengesetzt, sondern ein eigenständiges, organisch aus seinen besonderen Bedingungen gewachsenes Fach. Sie ist den oben genannten Wissenschaften, was den Inhalt ihrer Lehre betrifft, tief verpflichtet, vermag diesen aber andererseits für ihre eigene Arbeit wesentliche Anregungen zurückgeben“ (Asperger 1968, S. 1).
Wenn die Pädagogik als letzter Quellstrom heilpädagogischen Wissens und Wirkens genannt werde, so bedeute dies nicht, sie stünde in einer Wertescala an letzter Stelle,
„sondern wohl an erster Stelle. Das drückt sich schon im Namen Heilpädagogik aus […] Es liegt darin das Bekenntnis, daß nur das Pädagogische, im weitesten Sinne freilich, imstande ist, einen Menschen wirklich zum Besseren zu verändern, aus den verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes durch überlegene Menschenführung die besten auszuwählen“ (Asperger 1968, S. 5).
Ein beachtlicher Teil des Standardwerkes ist den „Autistischen Psychopathen“ gewidmet, wobei sich Asperger stark an seiner Habilitationsschrift orientierte und daraus einzelne Passagen wortwörtlich übernahm. Intensiver befasste er sich in seiner „Heilpädagogik“ mit der „pädagogischen Therapie“, d.h. mit dem besonderen pädagogischen Weg, um das besondere Wesen der „autistischen Psychopathen“ zu erreichen. Dazu ein längeres Zitat:
„Normalerweise erzieht man Kinder, vor allem kleine Kinder, nicht so, daß man ihnen die pädagogischen Notwendigkeiten verstandesmäßig nahebringt, daß man erklärt und begründet […] Es ist vielmehr in erster Linie der Gefühlsausdruck, der aus seinen Worten und aus seinem ganzen Verhalten sprechende Affekt des Erziehers, was das Kind zum Gehorchen bringt, dasselbe aber versteht der Autistische infolge seiner affektiven Störung nicht richtig oder reagiert darauf in paradoxer Weise, mit Negativismus, mit Bosheiten oder Aggressionen, sowohl auf Liebe und Schmeicheleien wie auf Zorn und Ärger. Diese Kinder suchen Zärtlichkeiten nicht durch besonders braves Verhalten herbeizuführen, sondern empfinden sie als unangenehm und irritierend; sie lassen sich durch Zorn und Drohen nicht zum Gehorchen zwingen, sondern genießen diesen Affekt als erwünschte Sensation und suchen ihn zu provozieren!“ (Asperger 1968, S. 194).
Asperger rät, den autistischen Kindern alle pädagogisch verordneten Maßnahmen „mit abgestelltem Affekt“ (Castell et al. 2003, S. 194) vorzutragen. Keinesfalls dürfen die erzieherisch Verantwortlichen „zornig werden oder sich ärgern, auch nicht ‚lieb‘ oder ‚kindertümlich‘ sein wollen. Es genügt dabei nicht, nur nach außen hin ruhig zu scheinen, während man innerlich kocht, sondern der Erzieher muß wirklich auch innerlich vollkommen ruhig, beherrscht und gesammelt bleiben. Ohne sich dem Kind persönlich aufzudrängen, hat er sachlich seine Anweisungen zu geben“ (ebd.). Es liege die Gefahr nahe, dass man infolge der verbalen Negativismen der Autisten sich in ein unendliches Debattieren verstricke,
„ihnen beweisen will, daß sie unrecht haben, sie zur rechten Einsicht bringen will. Dergleichen führt nie zum Ziel. Es gelingt aber meist, solche negativistischen Redereien mit ‚sachlichen‘ Anforderungen einfach abzuschneiden, etwa so: ‚Nein, du brauchst nicht zu rechnen (und in denselben Tonfall fortfahrend), wieviel ist – –.‘ Überhaupt muß betont werden: so sehr das ein diametraler Gegensatz zu schein scheint – diese Kinder sind sowohl negativistisch als auch besonders suggestibel, ja es finden sich oft Züge von Befehlsautomatie“ (Asperger 1968, S. 194).

5 Kritik und Würdigung
In der Fachwelt wird Asperger, neben Ernst von Düring, Heinrich Hanselmann, Theodor Heller, August Homburger, Karl Ferdinand Klein, Paul Moor, um nur einige der vielen zu nennen, als ein „Klassiker der Heilpädagogik“ betrachtet (Berger 2007, S. 30; Klein und Neuhäuser 2006, S. 36 ff.). Ina Friedmann bezeichnet ihn als den „bedeutendsten österreichischen Heilpädagogen“ (Friedmann 2022, S. 15). Mit seinen Forschungen zum Autismus und dem Lehr- und Fachbuch „Heilpädagogik“ setzte er seinerzeit wegweisende und durchaus innovative Impulse. Ob seines Wirkens wurde er vielfältig gewürdigt:
- 1973: Ehrenmitglied der „Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde“
- 1965: Goldene Medaille der Stadt Wien
- 1967: Mitglied der „Ehrwürdigen Akademie der Naturforscher Leopoldina“ in Halle
- 1968: Großes Ehrenzeichen des Österreichischen Bundeslandes Burgenland
- 1972: Ehrendoktorat der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität München
- 1975: „Kardinal-Innitzer-Preis“ für sein wissenschaftliches Lebenswerk (Brückner und Baum 2016).
Trotz aller Ehrungen blieb Aspergers Wirken nicht kritiklos. Heftig und kontrovers wurde und wird noch immer darüber diskutiert, ob bzw. wie viel Kenntnis der Mediziner über die „Euthanasie“-Tötungen in Wien hatte. Gehörte er oder gehörte er nicht zu den „hellhörigen Menschen“, die seinerzeit um die „Inhumanität des Nationalsozialismus“ (Asperger 1971, S. 50) wussten? Dazu zwei Beispiele aus der unüberschaubaren Flut gegensätzlicher Meinungen.
Nach Czech hatte Asperger, der an äußerst verantwortlicher Position tätig war, „kaum nicht“ von den Euthanasie-Morden gewusst, zumal das Wissen um diese Form der Selektierung „zu dieser Zeit in der Bevölkerung und umso mehr in den beruflich betroffenen Kreisen bereits weit verbreitet […] war“ (Czech 2020, S. 173). Demgegenüber ist nachzulesen, dass Asperger „verdeckten Widerstand“ leistete, er kein „Handlanger der NS-Kindermörder vom ‚Spiegelgrund‘ [war] […] Die Praxis einer ‚Euthanasie‘ von Kindern war für ihn eigentlich denkunmöglich“ (Maleczek et al. 2020, S. 176 ff.).
In einem Fall ist unzweifelhaft dokumentiert, dass Asperger persönlich die Überstellung eines Kindes auf den Spiegelgrund veranlasste (Czech 2021, S. 81 f.; Häupl 2006, S. 496). Hierbei handelte es sich „um ein knapp dreijähriges Mädchen, das am 27. Juni 1941 von ihm untersucht wurde und in dessen Fall er offenbar keine Besserung mehr erwartete“ (Czech 2015, S. 28). Er vermerkte: „Schwere Persönlichkeitsstörung […] Dauernde Unterbringung auf dem Spiegelgrund erscheint unbedingt nötig“ (Czech 2012, S. 81). Das Mädchen wurde in der Folge an die Tötungsgutachter in Berlin, dem sogenannten „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ (Tropp 2004, S. 17 ff.) – eine Tarnorganisation, die das „Kindereuthanasie“- Programm koordinierte – gemeldet. Die kleine Herta Schreiber wurde am 2. September 1941. ermordet: Todesursache Lungenentzündung (Häupl 2006, S. 496).

Ein Vorwurf aus jüngster Zeit wirft einen weiteren Schatten auf das Bild des Mediziners und Heilpädagogen sowie auf die von ihm geleitete Universitäts-Kinderklinik mit ihrer Heilpädagogischen Abteilung. Der Schauspieler Ulrich Reinthaller, der im Jahr 1975 für fünf Wochen Patient auf der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik, klagte an, dass er völlig isoliert von der Außenwelt und Familie war und „unter schwer traumatisierten Umständen festgehalten“ (Reinthaller 2022, S. 9) wurde. Zu Asperger, dem er während seines Aufenthaltes insgesamt fünf- oder sechsmal begegnete, äußerte er sich wie folgt:
„Er war ein hagerer Mensch mit kantigen schmalen Gesichtszügen, stets in weißem Kittel. Er war sozusagen der Spitzenmanager dieser Anstalt, der alles befehligte, der manchmal prüfend die Gänge abschritt, eine unheimlich ‚graue Eminenz‘. Ich empfand sein Auftauchen immer wie einen eisigen Lufthauch. Am Gang hat er mir im Vorbeigehen oft den Kopf getätschelt, als ob ich ein Pinscher wäre, und ‚Na, Burschi?‘ gefragt. Was hätte ich darauf antworten, welches Gespräch hätte sich daraus ergeben sollen? Ich habe ‚ich möchte nach Hause‘ geflüstert. Und er, ohne auf mich einzugehen: ‚Burschi … das wird schon wieder!‘ Diese unempathisch kalte Art, dieses verharmlosende Belächeln von oben, das steckt mir bis heute in den Knochen“ (Reinthaller 2020, S. 220 f.).
Ernst Tatzer, Asperger-Schüler und vehementer Verteidiger der gegen seinen Lehrer vorgebrachten Beschuldigungen, räumt ein, dass der Vorwurf einer „grauen“ Pädagogik auf der Heilpädagogischen Station in manchen Aspekten nachvollziehbar sei. So duldete Asperger die alten Strukturen und Regeln, bspw.,
„dass die Kinder während des stationären Aufenthaltes ihre Eltern nicht sehen und nur über Briefwechsel mit ihnen in Kontakt treten konnten, das Tragen einheitlicher Stationskleidung der Kinder, die immer versperrte Stationstür und das rigide Regime des stationsführenden Oberarztes, das eigenen Initiativen keinen Raum ließ […] Er ließ es zu, dass auf sein humanistisches Menschenbild in der praktischen Arbeit damals z.T. nicht entsprechend ausreichend eingegangen wurde“ (Tatzer 2020, S. 207 f.).
6 Quellenangaben
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Archive
Bundesarchiv Berlin, Signatur BArch R 9347 (Reichsarztregister)
Ida-Seele-Archiv, Sign. ISA H.A. 1.2
Archiv der Universität Wien, Sign. 106.I.1054
Verfasst von
Manfred Berger
Mitbegründer (1993) und Leiter des „Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens“
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