Assimilation (Soziologie)
Prof. Dr. Oliver Dimbath
veröffentlicht am 11.03.2025
Der Begriff „Assimilation“ bezeichnet in den Sozialwissenschaften den Prozess der Angleichung oder Anpassung eines minoritären Individuums oder Kollektivs an die Ordnungsvorstellungen eines majoritären Kollektivs.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffsbestimmung und Geschichte
- 3 Assimilationsbereitschaft: sich einleben wollen
- 4 Assimilationsforderung: sich eingliedern sollen oder eingegliedert werden
- 5 Verschmelzung statt Assimilation
- 6 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Der Begriff „Assimilation“ wird in verschiedenen Zusammenhängen mithin recht unterschiedlich verwendet. So ist das medizinisch-biologische Verständnis ein völlig anderes als das psychologische oder pädagogische und diese unterscheiden sich wiederum von soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Lesarten. Um letztere geht es im folgenden Abschnitt, der das Thema Assimilation in enger Verbindung mit dem Diskurs um Wanderung und Migration behandelt. Dabei sind auch immer wieder Fragen impliziter Wertung in den Blick zu nehmen, die die Verwendung des Assimilationskonzepts begleiten. Es ist, wie sich zeigen wird, also nicht ausgemacht, ob Assimilation sich als analytischer Terminus eignet oder ob er nicht vielmehr stets als politischer Begriff zu begreifen und damit als wissenschaftliches Instrument mit Vorsicht zu gebrauchen ist.
2 Begriffsbestimmung und Geschichte
Der sozialwissenschaftliche Fachausdruck „Assimilation“ geht auf eine Lehnwortbildung aus dem Lateinischen „assimilatio“ zurück, was sich mit „Ähnlichmachung“ übersetzen und in dieser Form seit dem 18. Jahrhundert nachweisen lässt (Duden 1989, S. 48).
Ein Blick in das Bedeutungswörterbuch (Duden 2002, S. 117) legt sogleich eine Doppelbedeutung offen, die für die Begriffsverwendung bezeichnend ist. So sind dem Wort zwei Perspektiven eigen: Auf der einen Seite geht es um die Erwartung einer Angleichung oder Anpassung an, einer Einfügung in bis hin zu einer Unterordnung unter bereits vorhandene und vorgefundene Verhältnisse aus der Sicht derer, die diese Verhältnisse repräsentieren. Auf der anderen Seite gibt es das Verständnis einer bereitwilligen Eingewöhnung sowie eines sich Einlebens in absichtsvoll aufgesuchte fremde Verhältnisse. Diese Blickwinkel können unterschiedlich ausgeprägt sein zwischen einer niedrigen oder hohen Assimilationserwartung der aufnehmenden Gruppe und einer niedrigen oder hohen Assimilationsbereitschaft von Individuen oder Gruppen mit vom Aufnahmekollektiv abweichenden kulturellen Herkünften. Ungeklärt bleibt dabei bisher, wer die Erwartungen der aufnehmenden und wer die Bereitschaft der ankommenden Kultur repräsentiert.
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist der Begriff der Assimilation der Migrationsforschung zuzuordnen, in der er – wie die „verwandten“ Konzepte der „Akkulturation“ oder der „Integration“ – die Folgen von Wanderungsbewegungen bezeichnet. In diesem Zusammenhang lassen sich bereits im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert sozialtheoretische Überlegungen finden, die hier als „Geschichte“ des Assimilationskonzepts nur skizziert werden können.
In Deutschland widmet sich Georg Simmel (1999 [1908]) dem Thema in seinem Exkurs über den Fremden, der, im Gegensatz zum Gast, heute kommt und morgen bleibt. Später entfaltet Leopold von Wiese (Bernsdorf und Bülow 1955) vier Prozesse der Anpassung:
- Annäherung im Sinne von Duldung und Kompromiss
- Anpassung als Zusammengehen unter Anerkennung der Verschiedenheit
- Angleichung im Bemühen, Verschiedenheit zu überwinden und schließlich
- Vereinigung in der Vollendung der Anpassung.
Aus der Sicht des Einwanderungslandes USA beschreibt H. G. Duncan ein Generationenmodell, nach dem sich die erste Einwanderungsgeneration nur teilweise anpasst und sich zugleich segregiert, um die emotionale Sicherheit ihrer Herkunftskultur zu bewahren. Die zweite Generation gliedert sich unter Beibehaltung der elterlichen Herkunftskultur innerhalb der Familie weiter ein. Erst die dritte Generation assimiliert sich vollständig, indem sie die migrantische Kultur der Großeltern und Eltern aufgibt (Han 2016).
Auf Robert E. Park geht das Phasenmodell eines Race-Relation-Cycle zurück. Es sieht vier Phasen vor:
- die friedlichen, klärenden Kontakte
- den Wettbewerb um knappe Ressourcen (z.B. Arbeit und Wohnraum)
- die Akkommodation, in der jede Einwanderungsgruppe ihre Nische findet und schließlich
- die Assimilation im Sinne der Vermischung und der Entstehung einer neuen Gesamtgruppe (Lyman 1968).
Ebenfalls Phasenmodelle der Migration wurden von Shmuel N. Eisenstadt, welcher Assimilation als Eingliederung bis zur vollständigen Absorption begreift, Milton Gordon (kulturelle, strukturelle, martiale, identifikative, attitüdenübernehmende, verhaltensübernehmende und zivile Assimilation) und Ronald Taft (monistische, pluralistische und interaktionistische Assimilation) vorgelegt, wobei letzteres durch Hartmut Esser in die deutsche Migrationsforschung eingeführt wurde (Han 2016).
3 Assimilationsbereitschaft: sich einleben wollen
Ein verbreitetes Verständnis von Einwanderung besteht darin, dass Individuen oder Kollektive ihren ursprünglichen Aufenthaltsort sowie ihre Herkunftskultur verlassen, um an einem anderen Ort und in einer anderen Kultur um Aufnahme zu ersuchen. Wenn es eine Rückkehrperspektive – wie etwa bei Tourismus, „Gastarbeit“ oder Asyl und Flucht – nicht gibt, kann davon ausgegangen werden, dass eine grundsätzliche Bereitschaft besteht, sich in der neuen Umgebung einzuleben und einzugliedern. Es ist bemerkenswert, dass dieser Blickwinkel bereitwilliger Assimilation in der Migrationsforschung deutlich seltener zur Sprache kommt. Dies mag darin begründet liegen, dass hier auf den ersten Blick weniger Probleme entstehen. Aber auch die proaktiv-freiwillige Assimilation geht nicht ohne Schwierigkeiten vor sich. So zeigen Studien über die Zurückweisung von Eingliederungsbemühungen aufseiten der Etablierten ebenso wie Untersuchungen über die Probleme von Einwandernden, in der Aufnahmekultur nicht mehr als Fremde aufzufallen, dass selbst der gute Wille Distinktionsmomente aufgrund von Herkunft nicht leicht überwinden kann. Eine Arbeit, die dieses Problem adressiert, ist der Aufsatz über den Fremden von Alfred Schütz (1972), in dem er darüber nachdenkt, was für Emigrant:innen zu tun ist, wenn sie die Kultur der aufnehmenden Gesellschaft vollends verstehen wollen.
4 Assimilationsforderung: sich eingliedern sollen oder eingegliedert werden
Auch wenn der oft mit Assimilation in Verbindung gebrachte Begriff der Anpassung auch selbstreflexiv im Sinne von „sich anpassen“ verstanden werden kann, legt er gemäß einem evolutionstheoretischen Verständnis die notwendige Anpassung eines Organismus an seine Umwelt nahe. Das Erfordernis der Anpassung geht dabei von der Umwelt aus – und das gilt vielfach auch für die Erwartung einer Aufnahmegesellschaft gegenüber denen, die Aufnahme begehren oder begehrt haben. Grundlegend hierfür ist der geradezu universell erscheinende Primat der zuerst Dagewesenen gegenüber den neu Hinzugekommenen. Dass diese Form der Legitimation von Vorrechten, auf denen eine Anpassungserwartung gründet, durch den Einsatz von Machtmitteln auch außer Kraft gesetzt werden kann, hat sich in der Kolonisationsgeschichte vielfach gezeigt. Offenkundig obliegt es der Willkür von sich als vorherrschend begreifenden und somit hegemonial-elitären gesellschaftlichen Teilgruppen, an welche anderen Gruppen sie Assimilierungserwartungen herantragen und welchen Gruppen sie jede Chance auf Assimilierung verweigern – etwa, weil sie sie identitätspolitisch für Abgrenzungen der je eigenen Kollektividentitätsvorstellungen instrumentalisieren.
Die so entstehende Gemengelage wird mitunter als Assimilationsideologie – zum Beispiel mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika – beschrieben (Han 2016): Die herrschende Elite erwartet von bestimmten Zuwanderungsgruppen eine Assimilation um den Preis der kulturellen Selbstaufgabe (Absorption), sofern diese bereit und in der Lage sind, sich an das weiß, angelsächsisch und protestantisch geprägte Kulturmodell anzupassen. Individuen und Gruppen, denen dies nicht gelingt oder nicht gelingen kann, werden ethnisch und rassistisch diskriminiert. Entsprechend ist gemäß der Idee des Melting Pot lediglich eine Eingliederung von beziehungsweise Verschmelzung mit ähnlichen Gruppen möglich (ebd.). Dies bedeutet, dass auch bei fortgeschrittenen Verschmelzungsprozessen, welche durch Heiraten zwischen den ehemals unterschiedlichen Gruppen ein Ziel und Ende finden könnten, aufgrund von essentialistischen Vorstellungen die segregierende Idee des idealtypisch Reinen fortbestehen kann.
So wird nachvollziehbar, dass über die Konstruktion von Reinheitsidealen gerade besonders radikale Essentialisierungen als eine Nebenfolge multiethnischer Verschmelzungen auftreten. Assimilationsprozesse führen unter den Bedingungen der mitunter von ihnen selbst reflexiv hervorgebrachten gesellschaftlichen Fliehkräften zur Außerkraftsetzung jeder Assimilationserwartung (Bauman 1991).
Als politisches Projekt zeigt sich Assimilation im Sinne von Eingliederung mitunter als Folge von Eroberungskriegen, wenn das neue Regime die Spuren kultureller Identität der Unterworfenen zu beseitigen trachtet. Solches findet mithilfe von Instrumenten wie ethnischer „Säuberung“, Siedlungspolitik und Zwangsumsiedelung, neuer Beschulungssysteme beziehungsweise Umerziehung oder durch das Verbot der bisher genutzten Sprache statt. Der Erfolg erzwungener Assimilation steht allerdings in Zweifel, da restriktive Maßnahmen der Eingliederung Widerstand und Separatismus hervorbringen können.
Die schließlich nur idealtypisch zu verstehende totale Assimilation im Sinne vollständiger Absorption in vergleichsweise kurzer Zeit ist historisch kaum nachzuweisen und eher Gegenstand fiktionaler Erzählungen der gewaltsamen und insbesondere körperlichen Umwandlung – in den Science-Fiction-Filmen der Star-Trek-Serie steht das außerirdische Kollektiv der „Borg“ für eine solche assimilierende Kultur (Schoppe 2018).
5 Verschmelzung statt Assimilation
Abseits der Vorstellungen einer Assimilation durch freiwilliges Einleben oder unfreiwillige Eingliederung in Verbindung mit der letztlich unerfüllbaren Erwartung totaler Anpassung geht die Idee des Multikulturalismus von einer friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Kulturen aus. Unter den Bedingungen eines kulturellen Pluralismus, der von Essentialisierungen und auf ihnen beruhenden Identitätspolitiken einzelner Gruppen absieht, erweist sich jede Assimilationserwartung als problematisch. Kulturelle Durchdringung und wechselseitige Toleranz erscheinen vor diesem Hintergrund als wünschenswert; Mehrfachintegrationen werden denkbar. In einer globalisierten und kosmopolitischen Welt kann das politische Ziel kulturell-ethnischer Assimilation ohnehin als überkommen angesehen werden. Umgekehrt gilt aber auch, dass mit dem Aufkommen neuer Essentialisierungen neue Gruppenidentitäten entstehen, die neue Konfliktlagen aufrufen und das Rad der Geschichte wieder zu einem Ideal segmentär-segregierter Gemeinschaften zurückdrehen.
6 Quellenangaben
Bauman, Zygmunt, 1996. Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt am Main: Fischer. ISBN 978-3-596-12688-0
Bernsdorf, Wilhelm und Friedrich Bülow, 1955. Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Enke
Duden, 1989. Das Herkunftswörterbuch. Mannheim: Dudenverlag. ISBN 978-3-436-01438-4
Duden, 2002. Das Bedeutungswörterbuch. Mannheim: Dudenverlag. ISBN 978-3-411-04103-9
Han, Petrus, 2016. Soziologie der Migration. 4. Auflage. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. ISBN 978-3-8252-4685-3
Lyman, Standford M., 1968. The Race Relation Cycle of Robert E. Park. In: The Pacific Sociological Review. 11(1), S. 16–22. ISSN 2330-0736
Schoppe, Sebastian, 2018. Aus dem Chaos in die Ordnung – die Schaffung politisch-sozialer Strukturen in Star Trek. In: Michael C. Bauer, Hrsg. Neue Welten. Star Trek als humanistische Utopie? Wiesbaden: Springer. S. 165–204. ISBN 978-3-662-57448-5
Schütz, Alfred, 1972. Gesammelte Aufsätze II: Studien zur soziologischen Theorie. Den Haag: Martinus Nijhoff. ISBN 978-90-247-1498-8
Simmel, Georg, 1999. Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28411-7
Verfasst von
Prof. Dr. Oliver Dimbath
Universität Koblenz
FB 1: Bildungswissenschaften
Institut für Soziologie
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