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Aufsuchende Familientherapie

Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens

veröffentlicht am 16.03.2020

Abkürzung: AFT

Die Aufsuchende Familientherapie (AFT) ist eine eigenständige, atypische Form der Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Die AFT steht in einer langen Tradition
  3. 3 Die kurze Geschichte der AFT
  4. 4 Zielbestimmungen und Qualitätskriterien der AFT von fachlicher Seite
  5. 5 Die AFT im Kontext der deutschen Familientherapie/​Systemischen Therapie
  6. 6 Zur Wirksamkeit der AFT und sonstiger aufsuchender Familientherapie
  7. 7 Die Multisystemische Therapie – ein wirksames aufsuchendes Familien-Erhaltungs-Programm
  8. 8 Quellenangaben
  9. 9 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Die Aufsuchende Familientherapie als eine der jüngsten Hilfen zur Erziehung wird in den Entwicklungsprozess der Kinder- und Jugendhilfe eingeordnet, in der Tradition der Aufsuchenden Sozialarbeit verortet und in den Rahmen der Familientherapie/​Systemischen Therapie gestellt. Sie wird als Familien-Erhaltungs-Programm bewertet und mit der Multisystemischen Familientherapie verglichen.

2 Die AFT steht in einer langen Tradition

Die AFT hat eine kurze Geschichte, steht aber in der langen Tradition der Aufsuchenden Sozialarbeit. Die Entwicklungslinie reicht zurück bis zu dem Anfang des 19. Jahrhunderts im Vereinigten Königreich entwickelten System ehrenamtlicher Hausbesucherinnen, das sich hierzulande Mitte des 19. Jahrhunderts in Gestalt des „Elberfelder Systems“ zeigte und sich ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der US-amerikanischen Charity Organization Society mit ihren Friendly Visitors findet (Walter 2011; Wendt 2016a, 2016b). Am Ende dieser vorprofessionellen Traditionslinie steht Mary Richmond, die Begründerin des (Social) Case Work, die 1917 erstmals vom „Family Case Worker“ sprach und die Bedeutung des gemeinsamen Familiengesprächs in der Wohnung der Familie betonte (Richmond 1917). Alice Salomon hat in der Weimarer Republik das Konzept der (Sozialen) Einzelfallhilfe, wie es von Mary Richmond grundlegend geprägt wurde, in Deutschland bekannt gemacht (Salomon 1926).

Mitte der 1920er-Jahre hatte die – damals noch rein psychodynamisch geprägte – Psychotherapie in Wissenschaft und Gesellschaft einige Bedeutung gewonnen. In der Sozialarbeit der Weimarer Republik hat die Psychotherapie hingegen keine Spuren hinterlassen; die Gründe dafür sind bis heute ungeklärt. Jenseits des Atlantiks aber gewann psychotherapeutisches Denken schon in den 1920ern starken Einfluss auf das Social Casework (Heekerens 2016a, 2016b). Und das auch in der Form, dass sich schon 1925 an der Philadelphia Child Guidance Clinic, dem Urmodell der deutschen Erziehungsberatungsstelle, eine Arbeitsweise etabliert hatte, in der Salvador Minuchin die Anfänge der Familientherapie sah (Heekerens 2016c). Auch wenn man die Geburtsstunde der Familientherapie auf später verlegen mag, so ist doch unstrittig: Ihre Wiege stand in den USA.

Familientherapie im aufsuchenden Setting aber war selbst dort bis Anfang der 1980er-Jahre kein Thema – zumindest kein großes. Die Wende brachte 1980 der vom US-Senat verabschiedete Adoption Assistance and Child Welfare Act (hier und zum weiteren Heekerens 2016d). Es verpflichtete die Behörden, „vernünftige Anstrengungen“ zu unternehmen, um Fremdplatzierung (von Pflegeelternschaft über Kinder-/​Jugendheim bis zur Unterbringung in einer Justizvollzugsanstalt bzw. stationären Psychiatrie) zu vermeiden. Das beförderte die Entwicklung und Verbreitung zahlreicher Familien-Erhaltungs-Programme (Family Preservation Programs), von denen es drei Grundtypen gibt:

  1. Crisis Intervention-,
  2. Home-based- und
  3. Family Treatment-Modell.

3 Die kurze Geschichte der AFT

Das Crisis Intervention- und das Home-based-Modell arbeiten im aufsuchenden Setting. Zum Home-based-Modell gehören u.a. verschiedene Ansätze, die meist unter dem Überbegriff „Home-based Family Therapy“ zusammengefasst werden. Ideen und Interventionsformen der „Home-based Family Therapy“, der Familientherapie im aufsuchenden Setting, wurden hierzulande durch einige wenige Pionierinnen und Pioniere, Marie-Luise Conen aus Berlin ist besonders hervorzuheben, ab Anfang der1990er-Jahre aufgegriffen (hier und zum weiteren Conen 2015a, 2015b). Für die in Familientherapie/​Systemischer Therapie ausgebildeten Sozialarbeiter(innen), die mit den Rahmenbedingungen der Sozialpädagogischen Familienhilfe unzufrieden waren, eröffnete sich eine herausfordernde Aufgabe. Und die Jugendämter erhofften sich eine ambulante psychosoziale Interventionsform, die die weitaus teurere stationäre Unterbringung effektiv verhindert, was die SPFH nicht leisten konnte (und bis heute nicht kann).

Man kann sich eine Vorstellung davon machen, wie teuer eine Heimunterbringung ist, wenn man sich die Fallkosten unterschiedlicher Hilfen zur Erziehung (HzE) vor Augen hält, die Klaus Menne, damals noch Geschäftsführer der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) für 2005 errechnet hat. Danach lagen die Fallkosten für die SPFH bei rund 17 Tsd. Euro, die für Heimerziehung (HE) aber bei ca. 117 Tsd. (Menne 2008, S. 24), also bald siebenmal so hoch. Das aber ist nur die halbe Wahrheit, zur vollen muss man sich die entsprechenden Fallzahlen vor Augen halten. Betrüge, um ein Gedankenexperiment zu machen, die Fallzahl von HE nur ein Zehntel jener der SPFH, könnte man sich von finanziellen Erwägungen getragenen Überlegungen dazu, ob SFFH HE mindern könnte, sparen. Aber SPFH und HE stehen sich nicht im Verhältnis 9:1 gegenüber. Für 2005 sind keine Daten ermittelbar, aber die jüngsten vom Statistischen Bundesamt vorgelegten weisen die langjährige zentrale Tendenz aus: Bei den HzE von 2018 stehen sich SPFH und HE im Verhältnis 1:1,1 gegenüber; rund 126 Tsd. versus ca. 146 Tsd. Fälle (Destatis 2019).

Weder bei Klaus Menne (2008) noch bei Destatis (2019) sind Angaben zur AFT gemacht. Es liegen für sie bis heute noch nicht einmal Fallzahlen vor. Es gibt aber Angaben, die bei der Einschätzung, wie groß der Anteil der AFT am Gesamt der HzE maximal ist, helfen. Dazu kann man die Zahlen zu „Familienhilfen“ als einer von drei Gruppen „Flexibler Hilfen“ nach § 27 SGB VIII ins Auge fassen. Die jüngsten einsehbaren Fallzahlen stammen aus 2016 und wurden im Datenreport 2018 (Destatis und WZB 2018) veröffentlicht. Hier seien lediglich die Angaben zu HE, SPFH und „Familienhilfen“, in dieser Reihenfolge, in absoluten Zahlen sowie eingeklammert in Prozent aller HzE referiert: 142 Tsd. (14,8), 116 Tsd. (12,1) und 28 Tsd. (3,0) (Destatis und WZB 2018, S. 70 Abb. 2). „Familienhilfe“ im Sinne der referierten Statistik ist nicht deckungsgleich mit AFT. Selbst wenn man annehmen dürfte, dass mit „Familienhilfe“ ausschließlich solche Maßnahmen gemeint seien, die nach fachlichen Gesichtspunkten als „Familientherapie/​Systemische Therapie“ anzusprechen wären, wüssten wir noch immer nicht, in welchem Maße dies im aufsuchenden Setting geschah.

Das bei Klaus Menne (2008) zu findende Referenzjahr 2005 liegt in der Mitte des Zeitraums zwischen 1990 und 2020; die absoluten Werte sind in diesen 30 Jahren gestiegen, die Proportionen indessen dürften relativ gleich sein. Zugleich liegt 2005 nahe beim Jahr 2007, zu dessen Beginn nach Vorarbeiten von Marie-Luise Conen (1999) in Berlin eine „Rahmenleistungsbeschreibung zu den ambulanten therapeutischen Leistungen gemäß SGB VIII“ in Kraft trat, welche die (Aufsuchende) Familientherapie in klarerer und umfänglicherer Weise im Kontext von Hilfen zur Erziehung nach § 27 SGB VIII verankerte, als dies zuvor in Berlin und andernorts der Fall war (hier und im weiteren Heekerens 2016d). In der Vorbemerkung dieser Leistungsbeschreibung heißt es, sie beziehe sich auf therapeutische Leistungen, die als Hilfe zur Erziehung (HzE) von Familientherapeut(inn)en, gleich, welchen Grund- oder Zugangsberufs, erbracht werden, soweit Leistungen nach § 28 SGB VIII (Erziehungsberatung) nicht infrage kämen.

Das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) wurde 1990 als Artikel 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG/Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts von 1990) auf den Weg gebracht. Das KJHG trat am 1. Januar 1991 in den westlichen Bundesländern in Kraft und löste das bis dahin geltende Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) von 1961 ab, das noch viele obrigkeitsstaatliche Züge des zuvor geltenden Reichsjugendwohlfahrtgesetzes (RJWG) aus der Weimarer Republik trug. In den neuen Bundesländern erlangte das KJHG bereits mit dem Beitrittstermin am 3. Oktober 1990 seine Rechtsgültigkeit.

Damit vollzog die deutsche Kinder- und Jugendhilfe Anfang der 1990er-Jahre einen Paradigmenwechsel. Sie sieht sich seitdem weniger als ordnungsrechtliche Kontrollinstanz, sondern vielmehr als Dienstleister für Hilfebedürftige, denen der Status von „Klient(inn)en“, wenn nicht gar von „Kund(inn)en“ zugeschrieben wird. Zwei große Tendenzen waren im Zuge dieser Entwicklung zu verzeichnen: eine verstärkte Orientierung an der Lebenswelt der Hilfebedürftigen einerseits und andererseits eine Erweiterung des Leistungsspektrums der HzE. Diese Doppelentwicklung reagierte einerseits auf einen gestiegenen und differenzierteren Bedarf an Hilfen und andererseits auf zunehmend steigende Kosten. Im Zusammenhang der kurz skizzierten Veränderungsprozesse in der Kinder- und Jugendhilfe ist auch die Etablierung der AFT zu sehen.

Der Gesetzgeber hatte im SGB VIII die Liste der HzE bewusst nicht abgeschlossen, sondern über Bestimmungen im § 27 SGB VIII offen gehalten für Neuerungen, die ihren Ursprung in der Fachöffentlichkeit haben. Wer diese im konkreten Einzelfall sei, ist unbestimmt. Es können Einzelne sein, die vorschlagen, eine bestimmte psychosoziale oder psychopädagogische Maßnahme als eigenständische, atypische Form der HzE in die Liste aufzunehmen – und zu definieren, wie eine solche Maßnahme auszusehen habe; unlängst wurde dies für „Erlebnispädagogik“ getan (Heekerens 2018). Im Falle der AFT wurden Zielbestimmungen und Qualitätskriterien von fachlicher Seite erstellt durch die zwei Fachverbände, in denen die meisten Familientherapeut(inn)en bzw. Systemischen Therapeut(inn)en organisiert sind: der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) und der Systemischen Gesellschaft (SG).

4 Zielbestimmungen und Qualitätskriterien der AFT von fachlicher Seite

Die DGSF hat sich – und die treibende Kraft dahinter war Marie-Luise Conen – im September 2009, also zwei Jahre nach der o.g. Berliner „Rahmenleistungsbeschreibung, auf Ziele und Qualitätskriterien der AFT“ (DGSF 2009) verständigt, die 2010 von der SG verbindlich übernommen wurden (SG 2013).

Die zentralen Zielbestimmungen lauten:

„Die Aufsuchende Familientherapie (AFT) ist ein systemisch-therapeutisches Konzept. AFT soll Familien erreichen, die mit herkömmlichen therapeutischen und Jugendhilfeangeboten nicht oder nicht mehr erreichbar sind. Merkmale bei diesen Familien sind/können sein: Resignation, Motivationsmangel, beschränkte Ressourcen zur Konfliktlösung, wiederkehrende Krisen, Erfolglosigkeit bei den eigenen Bewältigungsstrategien, häufige Grenzüberschreitungen (diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, AFT kann sicherlich auch bei anderen Problemlagen sinnvoll sein). Es ist Ziel der Aufsuchenden Familientherapie, über neue/funktionale Handlungsmuster und alternative Handlungsmöglichkeiten Ressourcen freizulegen und damit der Familie die Möglichkeit für Veränderungen zu schaffen“ (DGSF 2009).

Die Liste der Qualitätskriterien umfasst folgende Punkte:

  • Aufsuchend Die Aufsuchende Familientherapie ist ein niederschwelliges therapeutisches Angebot. Dazu gehört unter anderem, dass mit der Familie zu Hause unter Einbeziehung des Umfeldes gearbeitet wird. Dieses Sich-Einlassen auf das Lebensumfeld der Familie vermittelt dieser ein Gefühl von Sicherheit, die eine Grundvoraussetzung für eine Erfolg versprechende Arbeit darstellt.
  • Co-Therapie Die Aufsuchende Familientherapie arbeitet mit zwei TherapeutInnen. Die Co-therapeutische Arbeitsweise ermöglicht das Reflecting-Team, als wichtigste Methode von AFT, und andere therapeutische Methoden zur Vermeidung von möglicher „Sogwirkung“ durch die Familie. Die kontinuierliche Co-therapeutische Arbeit und deren Absicherung (Urlaub, Krankheit) erfordert, dass ein Therapeutenpaar in einem Arbeitsteam eingebunden ist, in dem mindestens drei TherapeutInnen tätig sind.
  • Dauer der AFT AFT läuft über einen Zeitraum von 26 Wochen bis maximal 52 Wochen. Eigenverantwortung und Ressourcen der Familie werden durch die zeitliche Begrenzung erhalten und kontraproduktive Gewöhnungsprozesse werden verhindert. Die zeitliche Begrenzung schafft Verbindlichkeiten bei der Familie wie bei den TherapeutInnen.
  • Richtgröße des Zeitbudgets Zum Setting von AFT gehören 26 Familientherapiesitzungen. Eine familientherapeutische Einheit umfasst 5,5 Zeitstunden pro Fachkraft pro Woche und schließt alle notwendigen personen- und nicht personenbezogenen Tätigkeiten (z.B. Vor- und Nachbereitung, Austausch mit Co-TherapeutInnen, Supervision, notwendige Mitarbeiterbesprechungen etc.) ein. Diese Familientherapieeinheiten beinhalten keine Fahrtzeiten.
  • Qualifikation AFT-MitarbeiterInnen verfügen neben einem psychosozialen Hoch- bzw. Fachhochschulabschluss über eine mindestens 3-jährige familientherapeutische/​systemische Weiterbildung an einem DGSF- bzw. SG-anerkannten Institut. Die MitarbeiterInnen sind durch DGSF/SG zum/zur Systemischen (Familien-)TherapeutIn zertifiziert.
  • Supervision Regelmäßige Supervision ist ein unabdingbarer Bestandteil von AFT. Sie sollte im Rahmen der Familientherapieeinheit mit mindestens 5-prozentigem Zeitanteil abgedeckt sein.
  • Vergütung Die Vergütung erfolgt auf der Grundlage einer Leistungsvereinbarung, die ein wirtschaftliches Arbeiten der Träger der AFT ermöglicht. Sinnvoll ist z.B. eine Orientierung an den geltenden DBSH-Empfehlungen für Fachleistungsstunden. [DBSH: Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit]
  • Dokumentation und Evaluation Bei jedem AFT-Fall erfolgt eine Prozessdokumentation und Evaluation. Die Wirksamkeit wird in mindestens einem Katamnesegespräch überprüft“ (DGSF 2009).

Wenn man sich die oben referierten Zielbestimmungen genauer ansieht, fällt dort Unbestimmtheit in einem zentralen Punkt auf. Recht präzise wird die Zielgruppe definiert: Es sind Familien, die einerseits zu den „Hard to reach Klienten“ (Beushausen 2014) der Sozialen Arbeit zählen und andererseits mehrfach belastet sind (Multiproblemfamilien; Conen 2015a). Bei der eigentlichen Zielbestimmung aber findet sich nur die vage Angabe: „Es ist Ziel der Aufsuchenden Familientherapie, über neue/funktionale Handlungsmuster und alternative Handlungsmöglichkeiten Ressourcen freizulegen und damit der Familie die Möglichkeit für Veränderungen zu schaffen“ (DGSF 2009). Das ist kein treatmentspezifisches Ziel. Es findet sich auch bei anderen Handlungsformen Aufsuchender Sozialer Arbeit – wie etwa bei der SPFH. Was man angesichts der Vorgeschichte vermisst ist die spezifische Zielbestimmung „Vermeidung von Fremdplatzierung“.

Marie-Luise Conen hat dieses spezifische Ziel in ihrer jüngsten Publikation zur AFT (Conen 2015b) noch einmal klar, wenngleich eher implizit als explizit, benannt.

  • Da heißt es in der Textmitte: „Es wäre leicht, den Jugendämtern vorzurechnen, dass dies [AFT sei eine teure HzE] nicht zutrifft: Aufsuchende Familientherapie kostet monatlich weniger als die stationäre Unterbringung eines Kindes; die Familientherapeuten sind häufig in Familien mit mehreren Kindern tätig – und einer ihrer Arbeitsaufträge ist meist die Verhinderung einer stationären Unterbringung“ (Conen 2015b, S. 134).
  • Und im letzten Absatz ist zu lesen: „Eigentlich müssten sich die auf Kosten achtenden Controller und Leitungskräfte der Jugendhilfe mit den aufsuchenden Familientherapeuten ‚verbünden‘, denn die Aufsuchende Familientherapie stellt einen wichtigen Beitrag dar, den Kindern die Familie zu erhalten, die wieder ein Ort des Schutzes und der Zuwendung werden könnte“ (Conen 2015b, S. 168).

Nicht nur dem Anspruch nach, sondern auch in der alltäglichen Versorgungspraxis spielt Vermeidung von Fremdplatzierung eine hochbedeutsame Rolle, wie jede(r) weiß, der mit Jugendamtsentscheidungen vertraut ist. Für die letzten Jahre fehlen hierzu aber belastbare und genaue Angaben. Die jüngsten basieren auf Daten, die bald zwei Jahrzehnte alt sind und von Hartmut Epple, einem guten Kenner der AFT erhoben wurden. Seine Zusammenfassung: „Eine der zentralen ‚Eintrittskarten‘ für eine Aufsuchende Familientherapie ist die Frage, ob ein Kind oder ein Jugendlicher außerhalb der Familie leben soll. Eigene Erhebungen ergaben, dass die Frage nach Fremdunterbringung in 75 bis 95 % aller Anfragen der Jugendämter eine Rolle spielen […]“ (Epple 2018, S. 416).

5 Die AFT im Kontext der deutschen Familientherapie/​Systemischen Therapie

Um 2010 war die AFT in der Mitte der deutschen Familientherapie/​Systemischen Therapie angekommen. Davon zeugen nicht nur die oben referierten Beschlüsse von DGSF und SG, sondern auch zwei bedeutsame Publikationen aus jener Zeit. Im Frühjahr 2011 erschien im Heidelberger Carl-Auer Verlag, herausgegeben von einer Hochschullehrerin und einem Hochschullehrer der Sozialen Arbeit, ein Sammelwerk mit 30 Beiträgen unter dem Titel „Hilfe, sie kommen! Systemische Arbeitsweisen im aufsuchenden Kontext“ (Müller und Bräutigam 2011). Im selben Verlag und gleichen Jahr war in damals bereits 5. Auflage ein anderes Sammelwerk, das Buch „Wo keine Hoffnung mehr ist, muss man sie erfinden. Aufsuchende Familientherapie“, herausgegeben von Marie-Luise Conen (Conen 2011), erschienen. Der Carl-Auer Verlag ist der einschlägige Verlag für Publikationen aus dem Bereich der Familientherapie/​Systemischen Therapie und Hypnotherapie im deutschsprachigen Raum. Die (Mit-)Gründer und heute geschäftsführenden Gesellschafter Fritz B. Simon und Gunthard Weber sind in Heidelberg bei Helm Stierlin in die familientherapeutische Lehre gegangen und zeichnen für verschiedene Weiterentwicklungen des ursprünglichen Heidelberger Ansatzes verantwortlich.

Spätestens „Hilfe, sie kommen!“ kündet, darin ist Jochen Schweizer (Schweizer 2011), einem der besten Kenner der deutschen Familientherapie/​Systemischen Therapie, zuzustimmen, von einem Revival: „Mir scheint, dass man das nach der Jahrtausendwende neu erstarkte Interesse an aufsuchenden Arbeitsformen als zeitgemäßes Revival eines größeren ‚ökosystemischen‘ Ansatzes ansehen kann. Diesen ‚gab es schon einmal‘, von den 1960er- bis in die frühen 1980er-Jahre, an der Schnittstelle von Gemeinwesenarbeit und frühen familien- und sozialtherapeutischen Ansätzen“ (Schweizer 2011, S. 11). Worauf Jochen Schweizer hier anspielt, ist ein heute nur noch wenig bekannter Entwicklungsabschnitt der deutschen Familientherapie/​Systemischen Therapie, der verbunden ist mit dem Namen Horst-Eberhard Richter und dem Konzept „psychosozial“, das damals erstmals und bis heute prägend inhaltlich gefasst wurde. Ferner gab es Versuche des Gesprächs zwischen Familientherapie und Gemeindepsychologie, und Vertreter(innen) unterschiedlicher Disziplinen (Medizin, Psychologie, Sozialarbeit) rangen darum, was man – nach heutigem Sprachgebrauch – unter einem „bio-psycho-sozialen“ Konzept von Gesundheit zu verstehen habe (Heekerens 2012, 2016d).

Noch zur Jahrtausendwende war ein solches Revival schwer vorstellbar. Die deutsche familientherapeutische Bewegung war, und ist in überwiegendem Maße noch heute, bei aller gegenüber anderen psychotherapeutischen Grundorientierungen reklamierten „Modernität“ doch darin konservativ, dass sie in Settingfragen recht traditionell ist: Die auf dem gesamten Gebiet der Psychotherapie übliche „Komm-Struktur“ erschien und erscheint noch immer als das „Normale“. So hatte etwa Arist von Schlippe, damals wie heute einer der hiesigen Opinionleader der Familientherapie/​Systemischen Therapie, in einer 1983 erschienenen Arbeit zum Thema „Familientherapie mit Unterschichtsfamilien“ deklariert: „Der Hausbesuch ist eine Ausnahmesituation und sollte als solche vereinbart werden. Der Therapeut ist in der Gastrolle, die Familie ist der Gastgeber. Daher sind regelrechte therapeutische Sitzungen kaum durchzuführen und sollen m.E. auch in diesem Setting nicht konzipiert werden“ (Schlippe 1983, S. 383).

6 Zur Wirksamkeit der AFT und sonstiger aufsuchender Familientherapie

In dem o.g. Buch „Hilfe, sie kommen!“ wurde erstmals im deutschsprachigen Raum ein methodenkritisches und auch die internationale Forschung berücksichtigendes Review zur „Wirksamkeit und Kosteneffektivität aufsuchender familienbezogener Arbeitsweisen bei Problemlagen von Kindern und Jugendlichen“ (Heekerens 2011) vorgelegt. Die im vorliegenden Zusammenhang zentral interessierenden Ergebnisse sind:

  • Über die (Nicht-)Wirksamkeit der AFT (das Gleiche gilt für die SPFH) kann keine gesicherte Aussage gemacht werden, da zu keinem einzigen möglichen Erfolgskriterium Evaluationsstudien durchgeführt wurden, die den üblichen Anforderungen der Wirksamkeitsforschung entsprechen. Konkret: Es liegen keine (quasi-)experimentellen Feldstudien vor – noch nicht einmal sog. Laborstudien.
  • Diejenige Form einer aufsuchenden familienbezogenen Arbeitsweise bei Problemlagen von Kindern und Jugendlichen, deren Effektivität – auch im Punkt „Verhinderung drohender Fremdplatzierung“ – am besten belegt ist, stammt aus den USA und trägt den Namen Multisystemic Therapy (MST/Multisystemische Therapie). Die nachgewiesene Wirksamkeit betrifft auch und vor allem den Punkt „Verhinderung drohender Fremdplatzierung“.

Das galt für den Forschungsstand bis Ende 2010. Neun Jahre später hat sich in beiden angesprochenen Punkten nichts geändert. Für die AFT (das Gleiche gilt für die SPFH) ist weiterhin zu keinem einzigen möglichen Erfolgskriterium eine (quasi-)experimentelle Felduntersuchung oder auch nur Laborstudie publiziert worden. Was die MST anbelangt, so muss man die Ergebnisse zweier einschlägiger nach metaanalytischer Methodik durchgeführte Reviews, die zwischenzeitlich veröffentlicht wurden, zur Kenntnis nehmen. In beiden Reviews geht es zentral um die Frage, ob und in welchem Maße die jeweils betrachteten Interventionen drohende Fremdplatzierung verhindern. Die beiden Analysen weisen in zwei Punkten bedeutsame Unterschiede auf: Erstens nimmt die niederländische Gruppe (Al et al. 2014) lediglich 20 Studien in den Blick, das US-Team (Lee et al. 2014) hingegen 37. Zweitens wird bei der niederländischen Analyse nicht nach einzelnen Interventionen differenziert, bei der US-amerikanischen hingegen schon. Das hat Auswirkungen auf die Ergebnisdarstellungen.

Das zentrale Ergebnis der niederländischen Gruppe lautet: „Das Ergebnis dieser Metaanalyse zeigt, dass intensive Familien-Erhaltungs-Programme einen mittelstarken Positiveffekt auf die Familienfunktionen haben, aber dass sie im allgemeinen Fremdplatzierung nicht verhindern können“ (Al et al. 2014, S. 1476; Übers. d. Verf.). Von den betrachteten Familien-Erhaltungs-Programmen haben also die meisten ihr Zentralziel nicht erreicht. Welche(s) aber ausnahmsweise doch? Die MST etwa, die mit auf der Beobachtungsliste stand? Auf diese Frage wird hier keine Antwort gegeben, wohl aber in der US-Studie (Lee et al. 2014). Auch dort erreichen die meisten Familien-Erhaltungs-Programme keine Verhinderung von Fremdplatzierung. Fünf aber doch, und unter diesen ist es die MST, für die es den breitesten und solidesten Nachweis gibt.

Die MST ist hierzulande wegen ihres soliden Wirksamkeitsnachweises auch und gerade in Sachen „Vermeidung von Fremdplatzierung“ seit anderthalb Jahrzehnten einem breiteren Publikum auch außerhalb der Familientherapie/​Systemischen Therapie bekannt (Heekerens 2006a, 2006b). Innerhalb der deutschen Familientherapie/​Systemischen Therapie erfuhr die MST Beachtung dadurch, dass sie einen bedeutsamen Beitrag zur 2008 erfolgten Anerkennung der Systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren leistete; die wichtigste Grundlage zur Wirksamkeitsabschätzung war eine einschlägige Monografie (Sydow et al. 2007), in die die MST mit ihrem ganzem Gewicht einging.

Die Zielgruppe der Familien-Erhaltungs-Programme, deren Wirksamkeitsprüfung in den eben referierten Reviews zusammenfassend dargestellt wurde, waren Familien, die mit zwei Schlagworten zu kennzeichnen sind: „hard to reach“ und „Multiproblemfamilie“, also genau die Zielgruppe der AFT. Über deren Wirksamkeit wissen wir bis heute nichts. Ob man mit Verweis auf die Wirksamkeit der MST und weniger anderer Familien-Erhaltungs-Programme eine Wirksamkeit der AFT – v.a. im Punkt „Vermeidung von Fremdplatzierung“ – begründet vermuten darf, ist aus zwei Gründen fraglich. Zum einen erreichen die meisten bislang auf den Prüfstand gestellten Familien-Erhaltungs-Programme dieses Ziel eben nicht. Zum anderen wissen wir zu wenig über die routinemäßig zum Einsatz kommenden (und nicht nur postulierten) „Programm-Elemente“ der AFT, als dass wir darüber der AFT eine „strukturelle“ Ähnlichkeit zur MST zuschreiben könnten; „Programm-Elemente“ waren vom US-Team (Lee et al. 2014) identifiziert und darauf geprüft worden, ob und inwiefern sie als „wirksame Inhaltsstoffe“ anzusehen sind.

7 Die Multisystemische Therapie – ein wirksames aufsuchendes Familien-Erhaltungs-Programm

Angesichts dieser Situation scheint es sinnvoll, die MST als das beste Beispiel eines wirksamen aufsuchenden Familien-Erhaltungs-Programms darzustellen – und dies in einer Weise, dass die zu seiner Wirksamkeit beitragenden Programm-Elemente sichtbar werden. Dazu bedarf es keiner Gesamtdarstellung (die jüngste bei Rhiner 2018), vielmehr genügt eine Kurzcharakterisierung nach den Gesichtspunkten „Zielgruppe“, „beachtete Risiko- und protektive Faktoren“ sowie „strukturelle Bedingungen“.

Die Zielgruppe der MST sind „hard to reach Multiproblemfamilien“ mit Kindern/​Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren, die wegen aggressiv-dissozialen Verhaltens auffällig sind, schon mit dem Gesetz (meist wegen Drogenkonsum und/oder Gewalttätigkeit) in Konflikt geraten sind, Fremdunterbringung schon hinter bzw. eine (erneute) drohende vor sich haben und als „unmotiviert“ oder „therapieresistent“ gelten. Das ist eben die Klientel, deren Leiden von hoher Persistenz ist, von allen psychischen und Verhaltensstörungen die höchsten gesellschaftlichen Kosten verursacht, deren in Kindheit und Jugend erfahrene materielle, psychische und soziale Armut zu verstetigen droht und der auch in Deutschland weder von der Kinder- und Jugendhilfe, noch von der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie, aber auch nicht von der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wirklich wirksam geholfen wird (Baving 2006; Beelmann und Raabe 2007; Heekerens 2009; Remschmidt und Walter 2009).

Die MST wird in der Fachliteratur mitunter als sozioökologisches Interventionsmodell bezeichnet. Diese Charakterisierung geschieht mit einigem Recht, da sie in ihrer theoretischen Konzeptualisierung und ihrem praktischen Vorgehen andere relevante Kontexte (Systeme) als lediglich die Familie weitaus stärker berücksichtigt als sonstige familienbezogene Vorgehensweisen – auch solche im aufsuchenden Setting. Das Bekenntnis zu einer „multisystemischen“ Sichtweise im eben beschriebenen Sinne bleibt bei der MST nicht abstrakt. Es hat weitreichende Folgen für die wissenschaftliche Fundierung der MST und ihre Praxis. Sichtbar wird das am auffälligsten daran, dass die MST die ihr theoretisch und praktisch bedeutsam erscheinenden Risiko- und protektiven Faktoren bei aggressiv-dissozialem Verhalten, wie sie aus der sozialwissenschaftlichen und klinischen Grundlagenforschung bekannt sind, nach verschiedenen Kontexten (Systemen) ordnet (vgl. Tab. 1).

Tabelle 1: Risiko- und protektive Faktoren, die von der MST in Rechnung gestellt werden, nach „Systemen“ (Individuum bis Gemeinde)
„System“ Risikofaktoren Protektive Faktoren
Individuum
  • geringe Verbalisationsfähigkeit
  • positive Einstellung gegenüber dissozialem Verhalten
  • psychiatrische Symptomatologie
  • Neigung, Anderen feindliche Absichten zu unterstellen
  • Intelligenz
  • Erstgeborener
  • unkompliziertes Temperament
  • konventionelle Einstellung
  • Problemlösefertigkeiten
Familie
  • mangelnde elterliche Aufsicht
  • ineffektive elterliche Disziplin
  • geringe Gefühlswärme
  • hohes Konfliktpotenzial
  • Problemlagen der Eltern wie Drogenmissbrauch, psychiatrische Störungen und Kriminalität
  • Bindung zu den Eltern
  • förderliche Familienverhältnisse
  • eheliche Harmonie
Peers
  • Beziehung zu devianten Peers
  • geringe Beziehungsfähigkeiten
  • wenig/​keine Beziehung zu prosozialen Peers
  • intensive/gute Beziehung zu prosozialen Peers
Schule
  • niedriger Schulerfolg
  • Schulabbruch
  • geringe/​keine Bildungsbereitschaft
  • bestimmte negative Merkmale der Schule wie geringe Infrastruktur, chaotische Umgebung
  • hohe Bildungsbereitschaft
Nachbarschaft, Gemeinde
  • hohe Mobilität
  • geringe soziale Unterstützung durch Nachbarschaft, Gemeinde, Kirchengemeinschaft
  • starke Desorganisation
  • kriminelle Subkultur
  • hohe Beteiligung an Aktivitäten der Kirchengemeinschaft
  • starkes Unterstützungssystem im Umfeld

Die sich für die Behandlungspraxis der MST ergebenden Folgen der Orientierung an der in Tabelle 1 dargestellten Liste von Risiko- und protektiven Faktoren, sind mannigfaltig. Zwei davon seien hier kurz erwähnt, weil sie verdeutlichen, was „multisystemisch“ zu arbeiten für den bzw. im praktischen Vollzug bedeutet:

  • Die Ausbildung von MST-Praktiker(inne)n, Psycholog(inn)en und Sozialarbeiter(inne)n, ist so ausgerichtet, dass sie in der Lage sind, in ihrem praktischen Vorgehen auf allen „System“-Ebenen prinzipiell alle Risiko- und protektiven Faktoren theoretisch in Rechnung zu stellen und beim praktischen Vorgehen zu berücksichtigen.
  • Zu den im Rahmen des Assessments anfallenden Aufgaben gehört in jedem Einzelfall, das je spezifische Profil von Risiko- und protektiven Faktoren zu ermitteln, wodurch sich das professionelle Vorgehen gezielt auf den jeweiligen Einzelfall zuschneiden lässt.

Man kann der MST schwerlich den Vorwurf machen, sie sei „pathologiefixiert“ oder „defizitorientiert“ und würde mit Orientierung an „Gemeinwesen“ oder „Lebenswelt“ nichts anfangen können. Solche Anwürfe gegen für die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe entwickelten Konzepte, die auch nur einen Geruch von „(Familien-)Therapie“ an sich tragen, kommen beispielsweise von Deutschlands Fachverbänden für Erziehungshilfen (2018). Die MST stellt einen wohldurchdachten und gut ausgearbeiteten Entwurf einer Intervention dar, die das Prädikat „psychosozial“ vollauf verdient. Das ist das eine Faktorenbündel, das zu ihrem Erfolg beiträgt.

Das andere ist zu sehen in den strukturellen Bedingungen, unter denen die MST arbeitet. Die haben wenig gemeinsam mit denen einer „(Privat-)Praxis“, „(Dienst-)Stelle“ oder einer sonstigen „Einrichtung“, sondern weisen eher Merkmale einer Task Force auf. Die wesentlichen strukturellen Einzelbedingungen sind:

  • Die MST wird durchgeführt von einem drei- bis vierköpfigen Team von Professionellen mit Master-Niveau, Psycholog(inn)en oder Sozialarbeiter(inne)n, die ein Training in MST absolviert haben sowie unter laufender Supervision eines MST-Experten (Master-Level und lange Erfahrung oder promoviert) stehen.
  • Jedes Team-Mitglied, obschon jeweils nur für einen Teil (drei bis sechs) der Familien als Family Case Manager(in) zuständig, kennt jede Familie und ist umgekehrt jeder bekannt.
  • Die Arbeitszeit und vorgesehene Arbeitsbelastung eines einzelnen Teammitglieds ist so bemessen, dass jede einzelne Familie intensiv betreut werden kann; je nach Bedarf der Familie kann sie mit 2 bis 15 Betreuungsstunden pro Woche rechnen.
  • Mindestens ein Teammitglied ist für die Familien jederzeit (auch an Heiligabend!) für Zwecke der Krisenintervention (zu deren Bedeutung Conen 2015b) erreichbar. Das trägt nach empirischen Detailanalysen neben der hohen Betreuungsdichte wesentlich dazu bei, dass es der MST in hohem Maße gelingt, erstens als „unmotiviert“ und „interventionsresistent“ geltende Familien für eine Behandlung zu gewinnen und zweitens die Abbruchrate niedrig zu halten.
  • Die MST ist eine zeitlich begrenzte Maßnahme. Im Mittel beträgt die Anzahl der benötigten Sitzungen 60, was zwischen den Werten für verhaltenstherapeutische und psychodynamische Therapie liegt. Die Sitzungen sind verteilt auf einen Zeitraum von vier bis sieben Monaten, wobei Frequenz und Dauer von den Bedürfnissen der jeweiligen Familie abhängig gemacht werden.
  • Zum Eingehen auf die Familie gehört auch das Zugehen auf sie. Die Arbeiten finden nicht in einem gesonderten Therapieort, etwa einer Privatpraxis oder einer Ambulanz statt, sondern vor Ort. „Vor Ort“ meint nicht nur in der Wohnung der Familie, sondern auch in der Schule, wenn ein Eltern-Lehrkraft-Gespräch angezeigt scheint, in der Versammlung einer Kirchengemeinde, in einem Jugendtreff usw.
  • Zum Eingehen auf die Familie gehört ferner, auf deren Zeitplan Rücksicht zunehmen. Die MST arbeitet prinzipiell rund um die Uhr. Sie ist somit nicht an den engen Zeitrahmen gebunden, der viele (potenzielle) Klient(inn)en, die Hilfe bei Institutionen mit Öffnungszeiten zur „üblichen Kernarbeitszeit“ oder gar noch weniger suchen, erbost und abschreckt.

8 Quellenangaben

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Verfasst von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Zitiervorschlag
Heekerens, Hans-Peter, 2020. Aufsuchende Familientherapie [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 16.03.2020 [Zugriff am: 10.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28991

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