Aufsuchende Sozialarbeit
FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller
veröffentlicht am 28.06.2019
Aufsuchende oder Nachgehende Sozialarbeit bedeutet, die Zielgruppen wie z.B. Familiensysteme, Klient*innen in betreuten Wohnformen, Subkulturen, Cliquen, Peergroups, etc. dort aufzusuchen, wo sie sich aufhalten bzw. wo sie zu Hause sind. Geht es um Stadtteile, Gemeinwesen und Sozialräume, so werden diese begangen, analysiert und kontextualisiert.
Statt der üblichen „Kommstruktur“ von Angeboten – Klient*innen sollen zum Angebot, z.B. zur Beratungsstelle, Anlaufstelle, Jugendamt etc., kommen – geht es bei der aufsuchenden Sozialarbeit um eine „Gehstruktur“: Die Sozialarbeiter*innen gehen mit ihrem Angebot dorthin, wo sich die jeweilige Zielgruppe oder Klient*in aufhält und bewegen sich in deren sozialen Räumen. Zusätzlich stehen in der Regel „Kommstrukturen“ zur Verfügung: Anlauf- oder Kontaktstellen und Ambulanzen, Begegnungs- und Beratungsräume können bei Bedarf und funktionierender Arbeitsbeziehung genutzt werden, um die aufsuchende Arbeit zu ergänzen bzw. zu vertiefen.
Überblick
- 1 Geschichte
- 2 Feldkompetenz
- 3 Besondere Herausforderung an die Profession
- 4 Ethische Grundlage
- 5 Quellenangaben
- 6 Literaturhinweise
1 Geschichte
Zum ersten Mal wurde aufsuchende Sozialarbeit von Mary Ellen Richmond in ihrem Fachbuch „Friendly Visiting among the Poor“ (1899) formuliert. Richmond ging es dabei in erste Linie um einen Diagnoseprozess, in dessen Verlauf bei Hausbesuchen der tatsächliche Hilfebedarf erhoben werden sollte.
In den 1970er Jahren begannen Konzepte von Streetcornerwork, Streetwork und Gassenarbeit Aufsuchende Sozialarbeit als Arbeitsansatz in der sozialstaatlichen Angebotslandschaft zu verankern. Die Konzepte richteten sich an benachteiligte und/oder ausgegrenzte Personen bzw. Personengruppen, die nur aufsuchend erreichbar sind, sogenannte „Hard-to-reach“ Zielgruppen.
In der Folge entwickelten sich in der Kinder- und Jugendhilfe aufsuchende Hilfeformen, die in Familiensystemen wirken sollen und unter dem Motto „ambulant vor stationär“ immer noch einen wachsenden Bereich der Sozialen Arbeit darstellen. Ausgehend vom Konzept der Gemeinwesenarbeit entstand in diesem Zusammenhang eine sozialräumliche Arbeitsweise, die fallübergreifend und fallunspezifisch wirken soll. „Outreach“, d.h. das Aufsuchen von Menschen in Ihrem Lebensumfeld, von Einrichtungen offener Jugendarbeit, Parkbetreuungen und Stadtteilprojekten wurde so theoretisch gerahmt.
2 Feldkompetenz
Aufsuchende Sozialarbeit ist Ausdruck eines Alleinstellungsmerkmals im Bereich psychosozialer Unterstützung. Im Unterschied zu anderen Professionen kann die Soziale Arbeit durch aufsuchendes Arbeiten den einengenden Rahmen der Laborsituation von Institutionen verlassen und ihre Zielgruppen in Realsituationen erreichen. Feldkompetenz bedeutet dann nicht nur, gesichertes Wissen über die Lebenswelten der Zielgruppen zu haben und anzuwenden, sondern auch im realen Austausch, in der Begegnung vor Ort zu erfahren, was die Themen, Herausforderungen und Ressourcen der Zielgruppen sind.
3 Besondere Herausforderung an die Profession
Die Feldkompetenz stellt eine besondere Herausforderung für die Soziale Arbeit dar: Neben dem Wissen um psychosoziale, sozioökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen, dem Beherrschen von Fertigkeiten der Kontaktaufnahme, der Kontaktentwicklung und des Beziehungsaufbaus sind die Haltungen der Unvoreingenommenheit, der Kultursensibilität und des Respekts vor den Lebenswelten der Zielgruppen notwendig.
4 Ethische Grundlage
Die Menschenrechte als ethische Grundlage ermöglichen es der Aufsuchenden Sozialarbeit, den Kontrollaspekt jeder professionellen Begegnung so einzuordnen, dass er nicht als Kontrollauftrag mitläuft, sondern als soziale Kontrolle wie in jeder menschlichen Begegnung fungiert. Die Akzeptanz in den Lebenswelten der Zielgruppen ist keine Selbstverständlichkeit und lässt sich nicht verordnen. Zielgruppen, die sich dem Kontakt mit den traditionellen Hilfeformen eines Sozialstaates entziehen oder von diesen nicht erreicht werden, akzeptieren nur, wer sie akzeptiert. Aufsuchende Sozialarbeit ist Gast in den aufgesuchten Lebenswelten, auch wenn sich diese hauptsächlich in öffentlichen Räumen abspielen. Außer den professionell begründeten Grundregeln zwischenmenschlicher Begegnung hat sich Aufsuchende Sozialarbeit an die kulturellen Regeln der jeweiligen Lebenswelten zu halten.
5 Quellenangaben
Richmond, Mary Ellen, 1899. Friendly Visiting among the Poor. A Handbook for Charity Workers. New York: MacMillian
6 Literaturhinweise
Becker, Gerd und Titus Simon, Hrsg., 1995. Handbuch Aufsuchende Jugend- und Sozialarbeit. Theoretische Grundlagen, Arbeitsfelder, Praxishilfen. Weinheim: Juventa. ISBN 978-3-7799-0805-0
Bräutigam, Barbara, Matthias Müller und Sarah Lüngen, 2011. Die Kunst, sich einzulassen und dennoch ein anderer zu bleiben – einleitende Gedanken zur aufsuchenden Arbeit. In: Matthias Müller und Barbara Bräutigam, Hrsg. Hilfe, sie kommen! Systemische Arbeitsweisen im aufsuchenden Kontext. Heidelberg: Carl-Auer-Verlag, S. 20–27. ISBN 978-3-89670-782-6 [Rezension bei socialnet]
Gerull, Susanne, 2016. Hausbesuche in der Wohnungslosenhilfe. In: Stefan Gillich und Rolf Keicher, Hrsg. Suppe, Beratung, Politik: Anforderungen an eine moderne Wohnungsnotfallhilfe. Wiesbaden: Springer VS, S. 85–94. ISBN 978-3-658-12271-3 [Rezension bei socialnet]
Gillich, Stefan, Hrsg., 2006. Professionelles Handeln auf der Straße. Gelnhausen: TRIGA. ISBN 978-3-89774-467-7 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Hubert Höllmüller.
Zitiervorschlag
Höllmüller, Hubert,
2019.
Aufsuchende Sozialarbeit [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 28.06.2019 [Zugriff am: 16.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/280
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