Behindertengleichstellungsgesetz
Prof. Dr. Mirko Eikötter
veröffentlicht am 24.03.2022
Ziel des Behindertengleichstellungsgesetzes ist es, die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern sowie ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Dabei wird ihren besonderen Bedürfnissen Rechnung getragen (§ 1 Abs. 1 BGG).
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Stand der aktuellen Fassung
- 3 Geltungsbereich
- 4 Begriffsdefinitionen
- 5 Regelungsbereiche des BGG
- 6 Instrumente
- 7 Entstehungsgeschichte
- 8 Wirkungsgeschichte
- 9 Quellenangaben
- 10 Literaturhinweise
- 11 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Das am 1. Mai 2002 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) verfolgt als Bundesgesetz das Ziel, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft und eine selbstbestimmte Lebensführung zu sichern und Benachteiligungen zu beseitigen und zu verhindern (§ 1 Abs. 1 BGG). Dies geschieht u.a. durch ein die Träger öffentlicher Gewalt bindendes Benachteiligungsverbot und die Herstellung von Barrierefreiheit durch z.B. Berücksichtigung der Belange von Menschen mit Behinderungen bei Bauvorhaben und im öffentlichen Personenverkehr, durch ein Recht auf Nutzung der Gebärdensprache oder der leichten Sprache im Kontakt mit Behörden, sowie das Recht auf Begleitung durch Assistenzhunde (§§ 7, 8, 9, 11 und §§ 12e ff. BGG). Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern soll gefördert werden. Dabei sind insbesondere Benachteiligungen von Frauen mit Behinderung aus einem oder wegen mehrerer Gründe zu beseitigen (§ 2 BGG).
Neben dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes sind in allen Bundesländern Landesgleichstellungsgesetze verabschiedet worden. Durch das BGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) soll das Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung im GG umgesetzt werden: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) (Ritz et al. in FRR 2021, Vorbemerkung zur Kommentierung des BGG Rn. 2).
2 Stand der aktuellen Fassung
Das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ist seit seinem Inkrafttreten mehrfach geändert worden, zuletzt durch Art. 9 des Teilhabestärkungsgesetzes v. 2. Juni 2021(BGBl. I S. 1387). Der Titel des Gesetzes wurde zum 27. Juli 2016 neu gefasst (BGBl. I S. 1757).
3 Geltungsbereich
Unmittelbare Pflichten aus dem BGG treffen die Träger der öffentlichen Gewalt bei der Umsetzung von Bundesrecht. Dazu gehören u.a. die Dienststellen der Bundesverwaltung, Beliehene unter Aufsicht des Bundes und die Landesverwaltungen, soweit sie Bundesrecht ausführen (z.B. Sozialämter) (§ 1 Abs. 1a, Abs. 2 BGG). Das BGG gilt auch für öffentlich-rechtliche Stiftungen, Anstalten und Körperschaften des Bundes (z.B. Deutsche Rentenversicherung Bund, Bundesagentur für Arbeit). Pflichten für die Bundesländer entstehen aufgrund der Landesgleichstellungsgesetze. Unmittelbare Pflichten für Personen im Privatrecht bestehen grundsätzlich nicht. Der Bund muss aber bei einer Beteiligung an juristischen Personen des Privatrechtes auf eine Umsetzung der Ziele des BGG hinwirken und im Falle von Zuwendungen an Personen des Privatrechtes durch Nebenbestimmungen in Zuwendungsbescheiden oder durch vertragliche Vereinbarungen sicherstellen, dass die Regelungen des BGG beachtet werden (Dau et al. in LPK-SGB IX 2022, § 1 Rn. 4).
4 Begriffsdefinitionen
4.1 Behinderung
Der Behinderungsbegriff im BGG entspricht weitgehend der Bestimmung in § 2 SGB IX, welche an die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) angepasst wurde. Laut § 3 BGG sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Dabei ist ein Zeitraum langfristig, der mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert (§ 3 S. 2 BGG). Eine Unterscheidung in eine einfache oder eine Schwerbehinderung wird nicht gefordert. Allerdings dürfte es für einen Menschen mit Behinderung ohne eine offizielle Feststellung einer Behinderung nach § 152 Abs. 1 SGB IX schwierig sein, Rechte nach dem BGG in einem Verwaltungsverfahren oder gerichtlichen Verfahren durchzusetzen (Dau et al. in LPK-SGB IX 2022, § 3 Rn. 2).
4.2 Barrierefreiheit
Ein zentraler Begriff des BGG ist die Barrierefreiheit. § 4 BGG definiert den Begriff folgendermaßen:
„Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“
Der Begriff Barrierefreiheit ist hier in einem weiten Sinn zu verstehen und umfasst nicht nur die räumlich-örtliche Gestaltung (z.B. Stufen, Türen ohne Automatik, Zugang zum ÖPNV), sondern schlichtweg alle gestalteten Lebensbereiche (also z.B. auch Internetseiten, Kommunikation) (Dau et al. in LPK-SGB IX 2022, § 3 Rn. 3)
4.3 Kommunikation
Nach § 6 BGG sind Menschen mit Hörbehinderungen gehörlose, ertaubte und schwerhörige Menschen. Die Gesetzesmaterialien beziehen aber auch weitere Personengruppen ein, so „taubblinde“ Menschen, Menschen mit Stimmstörungen (z.B. Stottern oder stark unartikulierte Sprache) oder Menschen mit Einschränkungen in der Kommunikation aufgrund von Autismus (Dau et al. in LPK-SGB IX 2022, § 6 Rn. 3 ff.). Menschen mit Hörbehinderungen und Menschen mit Sprachbehinderungen haben das Recht, die Deutsche Gebärdensprache, lautsprachbegleitende Gebärden oder andere geeignete Kommunikationshilfen im Umgang mit Behörden zu verwenden (§ 6 Abs. 3 BGG).
4.4 Benachteiligungsverbot
§ 7 BGG konkretisiert das verfassungsrechtliche Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) (Lutz und Werner 2017, S. 250). Die Träger öffentlicher Gewalt dürfen Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligen. Die Definition der Benachteiligung ist in § 7 Abs. 1 BGG geregelt:
„Eine Benachteiligung liegt vor, wenn Menschen mit und ohne Behinderungen ohne zwingenden Grund unterschiedlich behandelt werden und dadurch Menschen mit Behinderungen in der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigt werden“ (§ 7 Abs. 1 S. 2 BGG).
Es wird vermutet, dass eine Benachteiligung vorliegt, wenn ein Verstoß gegen eine Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit gegeben ist (§ 7 Abs. 1 S. 4 BGG). Zudem wird die Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen als Benachteiligung im Sinne des BGG betrachtet. In Anlehnung an die UN-BRK sind angemessene Vorkehrungen „Maßnahmen, die im Einzelfall geeignet und erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass ein Mensch mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen alle Rechte genießen und ausüben kann, und sie die Träger öffentlicher Gewalt nicht unverhältnismäßig oder unbillig belasten“ (§ 7 Abs. 2 S. 2 BGG). Angemessene Vorkehrungen sind z.B. barrierefreie Dokumente, die von Behörden und Gerichten zur Verfügung zu stellen sind, damit Menschen mit Behinderung diese zur Kenntnis nehmen können (Hlava 2017, S. 4).
5 Regelungsbereiche des BGG
5.1 Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr
In § 8 BGG geht es um die Schaffung von Barrierefreiheit in Gebäuden des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen sowie um die barrierefreie Gestaltung von Verkehrswegen und des öffentlichen Personenverkehrs. Zunächst sollen zivile Neu-, Um- und Erweiterungsbauten barrierefrei gestaltet werden (§ 8 Abs. 1 BGG), dies gilt grundsätzlich auch für Gebäudeteile bei Umbauten, die vom Umbau nicht unmittelbar betroffen sind (§ 8 Abs. 2 BGG). Beim Anmieten von Gebäuden durch den Bund soll Barrierefreiheit in den Gebäuden vorhanden sein oder hergestellt werden können (§ 8 Abs. 4 BGG). Das Gesetz lässt aber Ausnahmen zu (§ 8 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 BGG). Zudem sollen u.a. Wege, Plätze und Straßen sowie Beförderungsmittel im öffentlichen Personenverkehr barrierefrei gestaltet werden (§ 8 Abs. 5 BGG).
5.2 Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen
Menschen mit Hörbehinderungen und Menschen mit Sprachbehinderungen haben gem. § 9 BGG das Recht, im Verwaltungsverfahren in Deutscher Gebärdensprache oder über andere geeignete Kommunikationshilfen zu kommunizieren. Auf Wunsch sind die Träger der öffentlichen Gewalt verpflichtet, Kommunikationshilfen kostenfrei zur Verfügung zu stellen oder die notwendigen Aufwendungen zu tragen. Es handelt sich um einen Anspruch von Menschen mit Behinderung, die eigene Rechte im Verwaltungsverfahren wahrnehmen (z.B. Anträge stellen oder Widerspruch einlegen). Details zu u.a. Anlass, Umfang, Art und angemessener Vergütung von Kommunikationshilfen regelt die vom BMAS erlassene „Verordnung zur Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationsformen – Kommunikationshilfeverordnung (KHV)“ vom 17. Juli 2002 (Dau in LPK-SGB I, 2022, § 9 Rn. 4).
5.3 Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken
Verwaltungsakte, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke müssen so gestaltet sein, dass Behinderungen berücksichtigt werden (Berücksichtigungsgebot). Blinde und sehbehinderte Menschen können – ohne weitere Kosten – verlangen (Anspruch), dass ihnen Bescheide und Vordrucke in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden (§ 10 Abs. 1 BGG). Detaillierte Regelungen über die Zugänglichkeit von Dokumenten für Blinde und sehbehinderte Menschen enthält die vom BMAS erlassene „Verordnung zur Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz – Verordnung über barrierefreie Dokumente in der Bundesverwaltung (VBD)“ vom 17. Juli 2002 (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 10 Rn. 2 ff.).
5.4 Verständlichkeit und leichte Sprache
Die Regelung in § 11 BGG sieht vor, dass „Behördendeutsch“ von Mitarbeitenden bei den Trägern öffentlicher Gewalt für Menschen mit einer geistigen und/oder seelischen Behinderung in eine verständliche Form „übersetzt“ werden soll. Dabei unterscheidet der Gesetzestext zwischen einfacher Sprache und leichter Sprache. Zunächst soll der Inhalt von Behördenentscheidungen (Verwaltungsakte, Allgemeinverfügungen), öffentlich-rechtlichen Verträgen oder Formularen einfach und verständlich erläutert werden (einfache Sprache). Reicht dies nicht aus, soll eine Erläuterung in leichter Sprache stattfinden (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 11 Rn. 2 ff.). Der genannte Personenkreis hat auf die verständliche Erläuterung einen Regelrechtsanspruch (Soll-Vorschrift), von dem die Behörden nur ausnahmsweise (in atypischen Fällen) abweichen dürfen (Ritz et al. in FRR 2021, § 11 Rn. 4).
5.5 Barrierefreie Informationstechnik
In den §§ 12 bis 12d BGG sind einige Regelungen über die barrierefreie Informationstechnik öffentlicher Stellen des Bundes zu finden. Im Kern geht es um die barrierefreie Gestaltung von u.a. Websites der Behörden im Internet, mobilen Anwendungen, Intranet für Mitarbeitende sowie die elektronische Aktenführung ( § 12a Abs. 1 BGG). Bei Neuanschaffungen, sowie bei der Überarbeitung der technischen Systeme ist die barrierefreie Gestaltung zu berücksichtigen (§ 12a Abs. 3 BGG). Es gibt aber einige Ausnahmen (dazu u.a. § 12a Abs. 5 und Abs. 6 BGG). Details sind in der „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung 2.0 (BITV 2.0)“ vom 12. September 2011 zu finden (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 12d Rn. 2).
5.6 Assistenzhunde
Die §§ 12e bis 12l BGG enthalten seit Juli 2021 Regelungen für Menschen mit Behinderung, die durch einen Assistenzhund begleitet werden. Dadurch erhalten die Betroffenen grundsätzlich das Recht, gegenüber Trägern öffentlicher Gewalt, Anlagen und Einrichtungen in Begleitung ihres Assistenzhundes betreten zu dürfen (§ 12e Abs. 1 BGG). Eine Weigerung der Verwaltung stellt eine Benachteiligung der Menschen mit Behinderung dar (§ 12e Abs. 2 BGG). Das Zutrittsrecht gilt auch gegenüber Personen und Personenvereinigungen des Privatrechtes (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 12l Rn. 4). Die Anlagen und Einrichtungen müssen dem allgemeinen Publikums- und Benutzungsverkehr offenstehen (z.B. Verwaltungsgebäude, Freizeiteinrichtungen, Busse und Bahnen, Gastronomie, Bibliotheken, Kinos, Friseure), wobei Ausnahmen bestehen (etwa Intensiv- und Isolierstationen in Krankhäusern usw.) (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 12l Rn. 4). Es gibt allerdings kein Recht des Menschen mit Behinderung, sich von jedwedem Hund begleiten zu lassen. Vielmehr muss es sich um einen Assistenzhund handeln, der entsprechend ausgebildet wurde und gekennzeichnet ist. § 12e Abs. 3 BGG regelt detailliert, auf welche Hunde dies zutrifft, u.a.:
„Ein Assistenzhund ist ein unter Beachtung des Tierschutzes und des individuellen Bedarfs eines Menschen mit Behinderungen speziell ausgebildeter Hund, der aufgrund seiner Fähigkeiten und erlernten Assistenzleistungen dazu bestimmt ist, diesem Menschen die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, zu erleichtern oder behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen“.
Weitere Regelungen umfassen u.a. die Ausbildung, artgerechte Haltung und fachliche Prüfung von Assistenzhunden (§§ 12f-12j BGG).
6 Instrumente
6.1 Zielvereinbarungen
Zur Umsetzung des BGG können Verbände von Menschen mit Behinderung und einzelne Unternehmen oder Unternehmensverbände Zielvereinbarungen zur Herstellung von Barrierefreiheit abschließen (§ 5 Abs. 1 BGG). Folgende Regelungsbereiche solcher Zielvereinbarungen nennt § 5 Abs. 2 BGG in einer nicht abschließenden Aufzählung:
- Bestimmung der Vertragspartner sowie Regelungen zum Geltungsbereich und zur Geltungsdauer
- Festlegung von Mindestbedingungen darüber, wie gestaltete Lebensbereiche (z.B. technische Gebrauchsgegenstände, bauliche Anlagen oder Informationssysteme) künftig zu verändern sind, um dem Anspruch von Menschen mit Behinderungen auf Auffindbarkeit, Zugang und Nutzung zu genügen
- Terminierung der Erfüllung der festgelegten Mindestbedingungen
Verbände von Menschen mit Behinderungen können Unternehmen oder Unternehmensverbände grundsätzlich dazu zwingen Verhandlungen aufzunehmen (Verhandlungszwang; zu Ausnahmen s. § 5 Abs. 4 BGG) (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 5 Rn. 2). Eine Pflicht zum Abschluss einer Vereinbarung besteht allerdings nicht. Wird eine Zielvereinbarung geschlossen, so handelt es sich um einen zivilrechtlichen Vertrag (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 5 Rn. 3 f.). Das Verfahren zur Herbeiführung einer Zielvereinbarung sieht vor, dass ein Verband von Menschen mit Behinderungen, welcher die Aufnahme von Verhandlungen verlangt, dies dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) anzeigen muss. Das BMAS gibt die Anzeige auf seiner Internetseite bekannt. Nun haben andere Verbände von Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, den Verhandlungen beizutreten und eine gemeinsame Verhandlungskommission zu bilden (zu weiteren Einzelheiten § 5 Abs. 3 BGG). Bereits abgeschlossene Zielvereinbarungen werden in einem Zielvereinbarungsregister beim BMAS erfasst (§ 5 Abs. 5 BGG). Ein Mustertext für Zielvereinbarungen nach § 5 BGG des Deutschen Behindertenrates ist im Internet auf den Seiten des Sozialverbandes VdK zu finden (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 5 Rn. 10).
6.2 Bundesfachstelle für Barrierefreiheit
Als Anlaufstelle zu Fragen der Barrierefreiheit ist für die Träger öffentlicher Gewalt, aber auch für Wirtschaft, Verbände und Zivilgesellschaft bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See eine Bundesfachstelle für Barrierefreiheit errichtet worden (§ 13 BGG). Zu den Aufgaben gehören (§ 13 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 bis 6 BGG):
- Anlaufstelle und Erstberatung
- Bereitstellung, Bündelung und Weiterentwicklung von unterstützenden Informationen zur Herstellung von Barrierefreiheit
- Unterstützung bei Zielvereinbarungen
- Aufbau eines Netzwerkes
- Forschungsvorhaben
- Öffentlichkeitsarbeit
Darüber hinaus ist bei der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit eine Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik gebildet worden, die u.a. überwacht, ob Websites und mobile Anwendungen öffentlicher Stellen des Bundes barrierefrei gestaltet sind und des Weiteren Prüfungen und Berichte unterstützt (§ 13 Abs. 3 BGG).
6.3 Verbandsklagerecht
Das Verbandsklagerecht bietet anerkannten Verbänden von Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, ohne in eigenen Rechten verletzt zu sein, stellvertretend Klage vor Gerichten der Verwaltungs- oder Sozialgerichtsbarkeit zu erheben. Damit können Verbände bei Verstößen gegen z.B. das Benachteiligungsverbot oder die Verpflichtung des Bundes zur Herstellung von Barrierefreiheit im BGG, Feststellungsklage erheben. Der Verband muss aber in seinem Aufgabenbereich berührt sein, der wiederum durch seine Satzung festgelegt ist. Weiterhin muss es sich um einen Fall von allgemeiner Bedeutung handeln (z.B. bei einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle) ( § 15 BGG). Das Verbandsklagerecht ist auf Feststellungsklagen beschränkt, wobei Gegner der Klagen im Sinne von § 15 BGG nur Träger der öffentlichen Gewalt sein können. Für welche Bereiche eine Verbandsklage möglich ist, wird abschließend in § 15 Abs. 1 BGG festgelegt (Dau in LPK-SGB IX 2022, § 15 Rn. 2 ff.). Vor Verbandsklagen muss zwingend ein Schlichtungsverfahren erfolglos durchgeführt worden sein (§ 15 Abs. 2 S. 5 BGG) (Lutz und Werner 2017, S. 253). Unabhängig vom Verbandsklagerecht lässt sich feststellen, dass es in der Vergangenheit vor Gerichten kaum Verfahren zum BGG gab (Dittmann 2018, S. 7).
6.4 Schlichtungsstelle und Verfahren
Gem. § 16 Abs. 1 BGG wird bei dem oder der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen eine mit neutralen Personen besetzte Schlichtungsstelle eingerichtet. Sie hat die Aufgabe außergerichtlich Streitigkeiten beizulegen. Personen, die der Ansicht sind in ihren Rechten nach dem BGG verletzt worden zu sein, können einen Antrag auf Eröffnung des Schlichtungsverfahrens stellen. Es sind Fristen zu beachten (z.B. § 16 Abs. 2 BGG). Stellt die Einzelperson im Zusammenhang mit einem Verwaltungsakt während der Widerspruchsfrist den Antrag auf Schlichtung, dann beginnt die Widerspruchsfrist erst mit Beendigung des Schlichtungsverfahrens (§ 16 Abs. 2 S. 3 BGG) (Lutz und Werner 2017, S. 253). In bestimmten Angelegenheiten (z.B. Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot) können anerkannte Verbände von Menschen mit Behinderung ebenfalls den Antrag auf Einleitung eines Schlichtungsverfahrens stellen (§ 16 Abs. 3 BGG). Ziel des Schlichtungsverfahrens ist eine gütliche Einigung, wobei auch Mediation als Verfahren eingesetzt werden kann (§ 16 Abs. 5 BGG). Das Schlichtungsverfahren ist für die Beteiligten kostenlos (§ 16 Abs. 6 BGG). Weitere Einzelheiten sind in § 16 BGG und der „Behindertengleichstellungsschlichtungsverordnung – BgleisSV“ geregelt (Lutz und Werner 2017, S. 249 ff.)
6.5 Amt des Beauftragten oder der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
Für den Zeitraum einer Legislaturperiode bestellt die Bundesregierung eine Beauftragte oder einen Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderungen (§ 17 BGG). Die Aufgabe der oder des Beauftragten wird im Gesetz wie folgt beschrieben:
„Aufgabe der beauftragten Person ist es, darauf hinzuwirken, dass die Verantwortung des Bundes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird. Sie setzt sich bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe dafür ein, dass unterschiedliche Lebensbedingungen von Frauen mit Behinderungen und Männern mit Behinderungen berücksichtigt und geschlechtsspezifische Benachteiligungen beseitigt werden“ (§ 18 Abs. 1 BGG).
7 Entstehungsgeschichte
Die Beratungen zum BGG und die Erstellung des Gesetzentwurfes erfolgten im zeitlichen Zusammenhang zur Schaffung des SGB IX ab Ende der 1990er-Jahre. Daran beteiligt waren verschiedene Ministerien (Arbeit; Innen; Justiz; Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen), Verbände von Menschen mit Behinderungen, das „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“, Bundesländer und Kommunen. Der Gesetzentwurf wurde von der Bundesregierung eingebracht und in erster Lesung am 15.11.2001 im Bundestag behandelt. Das BGG wurde mit einigen Änderungen nach zweiter und dritter Lesung am 28.02.2002 beschlossen und ist nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens am 01.05.2002 in Kraft getreten (Maaß in Kossens et al. 2015, Rn. 82–85; Frehe 2013, S. 2 f.).
8 Wirkungsgeschichte
Das Instrument der Zielvereinbarung ist hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Laut Zielvereinbarungsregister wurden bisher (Stand 31. Januar 2022) erst 56 Zielvereinbarungsverhandlungen abgeschlossen und beendet (BMAS o.J.; Dau in LPK-SGB IX 2022, § 5 Rn. 10).
Das BGG wurde von Welti u.a. im Auftrag des BMAS evaluiert (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2014). Die sozialwissenschaftliche als auch rechtswissenschaftliche Untersuchung des BGG hat zusammenfassend folgende Ergebnisse gebracht: Es hat sich gezeigt, dass die Regelungen des BGG noch nicht ausreichend in der Verwaltung und bei Verbänden von Menschen mit Behinderungen zum Erhebungszeitpunkt bekannt waren und mutmaßlich deshalb die Instrumente und Regelungen des BGG noch nicht ausreichend umgesetzt wurden. Das BGG werde positiv bewertet. Es fehlten aber die zeitlichen, rechtlichen und sachlichen Ressourcen zur Umsetzung. Zum Erhebungszeitpunkt war der Behinderungsbegriff im BGG noch nicht dem Verständnis der UN-BRK angepasst, was sich in der Untersuchung in einem unterschiedlichen Begriffsverständnis bei Verbänden und Behörden gezeigt hat. Zudem wurden damals die Bedürfnisse und Belange von Menschen mit einer geistigen Behinderung, seelischen Behinderung und Menschen mit einer Hör- und Sprachbehinderung noch nicht ausreichend im BGG und den verwandten Rechtsverordnungen berücksichtigt (z.B. leichte Sprache oder neben Gebärdendolmetschern andere Kommunikationshilfen). Die Befragungen haben zudem gezeigt, dass die Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen und Mehrfachdiskriminierungen (z.B. Sprache, Herkunft, Geschlecht) unzureichend geregelt war. Die Untersuchung von Welti u.a. bestätigt die bereits angesprochene Bedeutungslosigkeit der Zielvereinbarung und den fehlenden Bekanntheitsgrad dieser Regelung sowie des Verhandlungszwanges. Als weiteres Ergebnis konnte in der Untersuchung festgestellt werden, dass Klagen von Verbänden nach § 15 BGG zwar bekannter sind als Zielvereinbarungen. Dennoch sind diese in der Praxis weitgehend bedeutungslos geblieben, da die Erfolgsaussichten als gering bewertet wurden. Zudem konnte erfragt werden, dass die Schwerbehindertenvertretungen in Behörden neben anderen Akteuren Verantwortung für die Umsetzung des BGG übernehmen, es fehle aber eine klare Zuständigkeit für die NutzerInnen der Behörde tätig zu werden und an entsprechenden Mitteln (BMAS, Abschlussbericht BGG 2014, S. 496 ff.). Der Abschlussbericht hat dazu geführt, dass das BGG im Jahr 2016 novelliert wurde (Ritz et al. in FRR 2021, Vorbemerkung zur Kommentierung des BGG Rn. 4)
9 Quellenangaben
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2014. Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes, Abschlussbericht [online]. Mannheim: GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim [Zugriff am: 04.02.2022]. Verfügbar unter: https://www.ssoar.info/ssoar/​handle/​document/​47635
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, [ohne Jahr]. Zielvereinbarungsregister [online]. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales [Zugriff am: 14.03.2022]. Verfügbar unter: https://www.bmas.de/DE/Soziales/​Teilhabe-und-Inklusion/​Barrierefreie-Gestaltung-der-Arbeit/​Zielvereinbarungsregister/​zielvereinbarungsregister.html
Dau, Dirk H., Franz Josef Düwell, Jacob Joussen und Steffen Luik, Hrsg., 2022. Sozialgesetzbuch IX. Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Lehr- und Praxiskommentar. 6. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-6360-3 [Rezension bei socialnet]
Dittmann, René, 2018. Das Behindertengleichstellungsgesetz in Recht und Praxis – Teil II. Beitrag D33-2018 [online]. Praktische Erfahrungen mit dem BGG – Bericht zur Fachveranstaltung der Schlichtungsstelle BGG und der Bundesfachstelle Barrierefreiheit [Zugriff am: 14.03.2022]. Verfügbar unter:www.reha-recht.de; 30.08.2018
Frehe, Horst, 2013. Behindertengleichstellungsgesetze: Entstehung und Konzeption. In: Diskussions Forum Rehabilitations- und Teilhaberecht [online]. Diskussionsbeitrag Nr. 23/2013 [Zugriff am: 14.03.2022]. Deutsche Vereinigung für Rehabilitation. Verfügbar unter: https://www.reha-recht.de/fileadmin/​download/​foren/d/2013/D23-2013_Behindertengleichstellungsgesetze.pdf?msclkid=6af0acafa38e11ecab0398cb044922d0
Hlava, Daniel; 2017. Barrierefreie Zugänglichmachung von Bescheiden und Urteilen. In: Diskussions Forum Rehabilitations- und Teilhaberecht [online]. Beitrag A2-2017 [Zugriff am: 24.02.2017]. Deutsche Vereinigung für Rehabilitation. Verfügbar unter: www.reha-recht.de
Jung, Karl, Horst Cramer, Harry Fuchs, Hans-Günther Ritz und Roland Rosenow, Hrsg., 2021. SGB IX – Kommentar zum Recht behinderter Menschen mit Erläuterungen zum AGG und BGG. 7. Auflage. München: Verlag Franz Vahlen. ISBN 978-3-8006-4979-2 [Rezension bei socialnet] (zit. als FRR)
Kossens, Michael; Dirk von der Heide und Michael Maaß, Hrsg., 2015. SGB IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen mit Behindertengleichstellungsgesetz. Kommentar. 4. Auflage. München: C.H. Beck ISBN 978-3-406-66802-9
Lutz, Katrin und Rica Werner, 2017. Die neue Schlichtungsstelle nach dem Behindertengleichstellungsgesetz: Ihre Aufgaben, ihre Zuständigkeiten und eine Halbjahresbilanz. In: NDV-Nachrichtendienst. S. 249–254. ISSN 0940-6565
10 Literaturhinweise
Dittmann, René, 2018. Das Behindertengleichstellungsgesetz in Recht und Praxis – Teil II. Beitrag D33-2018 [online]. Praktische Erfahrungen mit dem BGG – Bericht zur Fachveranstaltung der Schlichtungsstelle BGG und der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Heidelberg: Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e.V. [Zugriff am: 14.03.2022]. Verfügbar unter: www.reha-recht.de
Zumbansen, Annika, 2016. Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes – bringt es die angekündigte Weiterentwicklung? In: Rechtsdienst der Lebenshilfe 2016(1), S. 6–7. ISSN 0944-5579
11 Informationen im Internet
Übersicht mit wenigen Änderungen entnommen aus: Ritz et al., FRR 2021, Einleitung I. 4.
- Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
- Bundesfachstelle Barrierefreiheit
- BIK – barrierefrei informieren und kommunizieren
- Deutsches Institut für Menschenrechte
- Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht
- einfach machen – Gemeinsam die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen
- einfach teilhaben – Ihr Wegweiser zum Thema Leben mit Behinderung
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Zielvereinbarungen
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales – Behindertengleichstellungsgesetz
Verfasst von
Prof. Dr. Mirko Eikötter
Professur für das Lehrgebiet „Rechtliche Grundlagen in der Sozialen Arbeit“ an der TH Rosenheim, Fakultät für Sozialwissenschaften, Mühldorf am Inn
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Mirko Eikötter.
Zitiervorschlag
Eikötter, Mirko,
2022.
Behindertengleichstellungsgesetz [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 24.03.2022 [Zugriff am: 16.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3595
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Behindertengleichstellungsgesetz
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