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Behindertenpädagogik

Prof. Dr. Gwendolin Bartz

veröffentlicht am 17.02.2022

Ähnliche Begriffe: Heilpädagogik; Inklusionspädagogik; Rehabilitationspädagogik; Sonderpädagogik

Englisch: disability education; special education; inclusive education (im inklusiven Kontext)

Behindertenpädagogik ist einer von mehreren Begriffen für einen Teilbereich der Pädagogik, der sich mit Menschen mit Behinderungen beschäftigt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Behinderung und Behindertenpädagogik
  3. 3 Themen der Behindertenpädagogik
  4. 4 Methoden und Bezugsdisziplinen
  5. 5 Bedeutung des Begriffs Behindertenpädagogik und seiner Synonyma
  6. 6 Kritische Betrachtung des Begriffs Behindertenpädagogik
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturhinweise
  9. 9 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Behindertenpädagogik ist einer von mehreren Begriffen für einen Teilbereich der Pädagogik. Aus der Sicht der BefürworterInnen des Begriffs, wie etwa den GesamtherausgeberInnen der Enzyklopädie der Behindertenpädagogik, sind dem Begriff der Behindertenpädagogik zentrale Eigenschaften inhärent, die für die anderen synonym verwendeten Termini (etwa Heilpädagogik, Sonderpädagogik u.a.) nicht gelten können. Nach Beck, Jantzen, Feuser und Wachtel (2009) verweist Behindertenpädagogik bereits begrifflich auf das zentrale Momentum der Behinderung, das als Behindert-Sein, aber auch als Behindert-Werden gefasst werden kann. Der Begriff beinhaltet den WissenschaftlerInnen zufolge eine Berücksichtigung der Aspekte des Behindert-Seins und Behindert-Werdens über die Lebensspanne hinweg und berücksichtigt pädagogisches Handeln nicht nur im schulischen Zusammenhang, sondern ebenfalls bezogen auf alle Lebensalter.

2 Behinderung und Behindertenpädagogik

Behinderung ist nach Dederich (2009, S. 15) ein Begriff, der wie seine Vorläufer (Hemmnis, Erschwernis, Hürde u.a.) auf eine negative Abweichung, ein Nicht-Vorhandensein bestimmter Fähigkeiten, auf Unvollständiges und Unerwünschtes hinweist. Eingeführt wurde er in den 1960er-Jahren sowohl in der Gesetzgebung als auch im wissenschaftlichen Diskurs.

Die Behindertenpädagogik rekurriert auf Behinderung. Der Begriff Behindertenpädagogik hatte eine Zeit lang eine große Verbreitung jenseits seiner sozialrechtlichen Bedeutung erfahren. So gibt es beispielsweise die Zeitschrift Behindertenpädagogik (mittlerweile mit dem Untertitel Vierteljahresschrift für Praxis, Forschung und Lehre; Psychosozial-Verlag o.J.). Sie wird vom Landesverband Hessen e.V. im Verband Deutscher Sonderschulen, Fachverband für Behindertenpädagogik herausgegeben. Zu den Themen der Zeitschrift schreibt der Verband:

„Die Zeitschrift Behindertenpädagogik befasst sich mit behindertenpädagogischen Problemen der Erziehung, der Bildung und des Unterrichts im Vorschulbereich, an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen, Hochschulen und Fachhochschulen sowie mit der Erwachsenenbildung“ (Psychosozial-Verlag o.J.).

Die Beiträge der Zeitschrift sind damit Berichte aus der Forschung, der Lehre und den verschiedenen Praxisbereichen und beziehen sich auf die gesamte Lebensspanne, einschließlich pränataler Themen und Fragen des Todes und des Sterbens. Auch hier wird das zugrunde liegende Verständnis von Behinderung als Behindert-Sein und Behindert-Werden und die Bedeutung einer Pädagogik abgebildet, die sich nicht auf das schulische Lernen allein bezieht.

Zentrale Personen des wissenschaftlichen Diskurses zu Behinderung sowie der Theorie und Praxis von Pädagogik in diesem Feld wie Wolfgang Jantzen (verstorben 2020) oder Ulrich Bleidick bezogen bzw. beziehen sich auf den Begriff der Behindertenpädagogik. Jantzen etwa in seiner „Allgemeinen Behindertenpädagogik“ (1987) oder seiner „Einführung in die Behindertenpädagogik“ (2016). Bleidick beispielsweise in „Allgemeine Behindertenpädagogik“ (1999) oder zusammen mit Antor im „Handlexikon der Behindertenpädagogik: Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis“ (2001).

Mittlerweile ist die Universität Hamburg die einzige deutsche Studienstätte, an der ein Masterstudiengang Behindertenpädagogik angeboten wird (Universität Hamburg o.J.). Andere Hochschulen bieten zwar noch das Studium der einzelnen Förderschwerpunkte an, die Bezeichnungen orientieren sich dabei aber weniger am Oberbegriff der Behinderung und folgen auch nicht der u.a. von Beck dargelegten Argumente, dem Begriff der Behindertenpädagogik den Vorzug zu geben. Im Gegenteil, die Fachrichtungen sind meistens dem Förderschulsystem und seinen Ausdifferenzierungen entsprungen und daher eher dem Oberbegriff der Sonderpädagogik zuzuordnen. Die einzelnen Teildisziplinen sind etwa für Nordrhein-Westfalen folgendermaßen differenziert:

  • Sehen (Blinden- und Sehbehindertenpädagogik),
  • Hören und Kommunikation (Hörgeschädigten- und Gehörlosenpädagogik),
  • Sprache (Sprachbehindertenpädagogik),
  • geistige Entwicklung (Geistigbehindertenpädagogik),
  • körperliche und motorische Entwicklung (Körperbehindertenpädagogik),
  • Lernen (Lernbehindertenpädagogik) sowie
  • emotionale und soziale Entwicklung (Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Erziehungshilfe) (stellvertretend für NRW: MSW 2016).

Der Begriff Behindertenpädagogik ist im Laufe der Zeit in seiner Verwendung von anderen teils synonym verwendeten Begriffen wie Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Rehabilitationspädagogik und dann Integrationspädagogik im Diskurs deutlich an den Rand gedrängt worden. Insbesondere die Inklusionspädagogik hat den wissenschaftlichen Diskurs auch in Hinblick auf die disziplinären Begriffe verändert. So ist der Begriff der Inklusionspädagogik als disziplinäre Einordnung und Bezeichnung der Studiengänge mittlerweile an zahlreichen Hochschulen zu finden.

3 Themen der Behindertenpädagogik

Dennoch ist die Behindertenpädagogik im Diskurs nach wie vor verhaftet bzw. die VertreterInnen, die diesen disziplinären Begriff wählen, gestalten den Diskurs maßgeblich mit. Themen, mit denen sich die Behindertenpädagogik aktuell beschäftigt, sind pädagogische Fragestellungen im Kontext von Behinderung, wie etwa die inklusive Beschulung oder Inklusion und Erwachsenenbildung (Burtscher et al. 2013), aber auch Bildung und Erziehung bei komplexer Behinderung (Fornefeld 2008), grundsätzliche Fragen wie die nach den „Risse[n] in der Landschaft der Inklusionsforschung“ (Boger 2022, S. 43–58), oder die Umsetzung der UN-BRK und damit in Zusammenhang stehende gesellschaftliche Entwicklungen, ethische Fragestellungen oder Fragen zum Begriff der Behinderung als solchem. In der Neuauflage des Handlexikons der Behindertenpädagogik (Dederich et al. 2016) werden unter dem Begriff des „Schlüsselbegriffs“ wesentliche Themen behandelt, die sich in die „Zugehörigkeit einer behindertenpädagogischen Fragestellung zur Erziehungswissenschaft“ (Dederich et al. 2016, S. 12) einordnen lassen. Diese sind: „Beurteilung, Bildung, Bildungswesen, Didaktik, Differenzierung Erziehung, Hilfe, Helfen, Selbsthilfe, Historiographie, Lebenslauf und pädagogische Begleitung, Lehrer, Lehrerin, Lehrerbildung, Lehrplan, Bildungsplan, Lehr- und Lernplanung, Lernen, Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Professionalisierung, Sozialisation, Soziokulturelle Bedingungen kindlicher Entwicklung, Vielfalt, Differenz, Heterogenität“ (Dederich et al. 2016, S. 7).

4 Methoden und Bezugsdisziplinen

Die Schlüsselbegriffe verweisen in ihrer erziehungswissenschaftlichen Zuordnung bereits auf die zentralen Methoden der Behindertenpädagogik. Aus dem pädagogischen Verständnis heraus geht es zunächst um Bildung und Erziehung. Die einzelnen Methoden unterscheiden sich dabei je nach Handlungsfeld. Diese Handlungsfelder sind deutlich breiter zu fassen als das rein schulische Handlungsfeld. Bildung als solche, angefangen von der frühkindlichen Bildung bis ins Erwachsenenalter, bezeichnet eins dieser Handlungsfelder, aber auch Arbeit und Beruf oder Erziehungshilfen (Beiträge in Dederich et al. 2016, S. 232 ff.). Hier ist zu beachten, dass die Unterteilung der Handlungsfelder im Handlexikon der Behindertenpädagogik nicht von allen FachvertreterInnen geteilt wird. Manche wie beispielsweise Speck (2008) unterscheiden Frühförderung, Familie und Heilpädagogik, Bildung für Erwachsene mit Behinderungen und Berufsbildung und berufliche Eingliederung sowie Heilpädagogische Dienste in der Klinik. Es wird deutlich, dass Speck sich unter dem Begriff der Heilpädagogik ähnlichen Handlungsfeldern widmet, wie es die AutorInnen im Handlexikon Behindertenpädagogik (Dederich et al. 2016) anhand einer etwas stärkeren Ausdifferenzierung tun.

Der Berufsverband Heilpädagogik wählt noch eine andere Systematik. Er spricht von „Heilpädagogische[n] Handlungskonzepte[n], heilpädagogische[r] Diagnostik, methodische[n] Elemente[n] heilpädagogischen Handelns, Arbeitsfelder[n] von HeilpädagogInnen, tätigkeitsbezogene[n] Handlungsfelder[n] und lebensortbezogene[n] Handlungsfelder[n]“ (Berufs- und Fachverband Heilpädagogik e.V. 2010, S. 9–12). Als Methoden benennt der Berufsverband – wohlgemerkt auch hier unter dem Begriff der Heilpädagogik: „Heilpädagogisches Handeln findet in Einzel- und Gruppensettings statt. Es integriert, je nach persönlichem Schwerpunkt, u.a. folgende heilpädagogisch anzuwendende Methoden:

  • Wahrnehmungsförderung und sensorisch-integrative Förderung
  • basalpädagogische Aktivierung/Förderpflege
  • Spielförderung/​heilpädagogische Spieltherapie/​Elemente aus dem Psychodrama
  • Heilpädagogische Entwicklungsbegleitung
  • Heilpädagogische Übungsbehandlung (HPÜ)
  • Heilpädagogische Persönlichkeitsförderung
  • Verhaltensmodifikation
  • Psychomotorik, Rhythmik
  • Werken, Gestalten, Musizieren
  • Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren, tiergestütze Förderung
  • Sprach- und Kommunikationsförderung
  • Validation“ (Berufs- und Fachverband Heilpädagogik e.V. 2010, S. 10 f.)

Die Zuordnung der Behindertenpädagogik zu ihren Bezugswissenschaften erfolgt nicht immer eindeutig. Manche sehen sie in einer erziehungswissenschaftlichen Linie (Dederich et al. 2016), manche bestimmen sie als sozialwissenschaftliche Disziplin (Fischer 2014, S. 7–8). Als jedoch immer wiederkehrende Bezugsdisziplinen lassen sich Medizin, Philosophie, Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaften und Politik ausmachen (Dederich et al. 2016).

5 Bedeutung des Begriffs Behindertenpädagogik und seiner Synonyma

Eng verwandt mit dem Begriff der Behindertenpädagogik sind die bereits erwähnten Bezeichnungen Heilpädagogik, Sonderpädagogik oder Rehabilitationspädagogik (Antor und Bleidick 2001; Bundschuh et al. 2007). Die jeweilige Begriffsverwendung unterliegt dabei historischen Entwicklungslinien, einem theoretischen Begriffsverständnis und seinen jeweiligen Ableitungen und auch gewissen Traditionen. Pädagogik als die Lehre von Bildung und Erziehung taucht dabei zwar in allen Begriffen auf, dennoch ist es auch hier interessant zu differenzieren, ob sich der Begriff eher aus einem sozialwissenschaftlichen Hintergrund oder einem erziehungswissenschaftlichen Ursprung entwickelt hat oder einer ganz anderen Herkunftslinie entspringt (Opp et al. 2005, S. 11 ff.).

Der älteste Begriff der Heilpädagogik geht auf Jan-Daniel Georgens (1823–1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880) zurück. Auch wenn mit ihm eine begriffliche Nähe zu einem eher medizinisch-pflegerischen Verständnis einhergeht, waren seine Begründer vor allem um eine andere Sicht auf den Menschen bemüht, die neben einer rein medizinischen Betrachtung den Menschen als solchen unter pädagogischen Gesichtspunkten in den Blick nahm (Biewer 2017, S. 21 ff.). Für Moser hat der Begriff der Heilpädagogik bis heute eine Relevanz „als disziplinäre Selbstbeschreibung, die mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Anfang nimmt und bis in die 1930er Jahre allgemein gebräuchlich ist.“ Dies gilt nach Moser bis heute in der „deutsch-sprachigen Schweiz, teilweise in Österreich sowie im Bereich der außerschulischen Arbeitsfelder“ (Moser 2012, S. 262).

Der Begriff Rehabilitationspädagogik wurde in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ungefähr parallel zum Begriff der Behindertenpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland etabliert, also Anfang der 1960er-Jahre, und verweist wie dieser von seinen Ursprüngen her auf Neuentwicklungen auf sozialrechtlicher Ebene in Bezug auf Behinderung. Nach 1989 wurde der Begriff an westdeutschen Hochschulen zum Beispiel an der Humboldt-Universität zu Berlin (o.J.) oder der Technischen Universität Dortmund (o.J.) übernommen. An den verschiedenen Studienstätten (z.B. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg o.J.; Carl von Ossietzky Universität Oldenburg o.J.) zielen die Studieninhalte, wie zum Beispiel auch an der Universität zu Köln (Studiengang MA Rehabilitationswissenschaften), auf klassische Themen und Teilbereiche ab, die Behinderung zugeordnet werden können (Universität zu Köln o.J.). Auch wenn der Begriff Rehabilitationspädagogik Pädagogik im Namen trägt, ist er nicht originär pädagogisch geprägt, was ihm stellenweise zum Vorwurf gemacht wird, da die Rehabilitation eher auf Wiederherstellung im Sinne einer medizinisch-technischen Maßnahme abziele.

Integrationspädagogik ist ein weiterer, eher neuer Begriff, der Diskussionen um Integration aufnahm und disziplinär reflektierte. Integration wurde um die 1990er-Jahre zunehmend von Eltern behinderter Kinder im Kontext der separierten Beschulung ihrer Kinder diskutiert und wissenschaftlich aufgegriffen (Hinz und Jacob 2005, S. 73). Die Debatte war damals von einer hohen Praxisanbindung geprägt (Hinz 2005, S. 75–78), die disziplinäre Verortung war unklar bzw. wurde wenig reflektiert. Bis heute gibt es an verschiedenen Studienstätten die Möglichkeit, Sonder- und Integrationspädagogik (Universität Erfurt o.J.) bzw. Rehabilitations- und Integrationspädagogik (Universität Leipzig o.J.) zu studieren. Gleichwohl fehlt die disziplinäre Einordnung immer noch bzw. wurde an einigen Stellen auch obsolet, da Integration zunehmend durch den Begriff der Inklusion abgelöst wurde.

Nach der Ratifizierung des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen durch die Bundesrepublik Deutschland am 30. März 2007 (siehe UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK; Bundesgesetzblatt 2008 II, S. 1419–1420) und dem Einzug des Begriffs Inklusion in den wissenschaftlichen Diskurs sowie dem Inkrafttreten der UN-BRK 2009 ist nun auch Inklusionspädagogik als disziplinärer Begriff zunehmend zu finden. Ein Studium der Inklusionspädagogik ist an verschiedenen Hochschulen – Universitäten wie Fachhochschulen – möglich. Inklusionspädagogik oder Inklusive Pädagogik (Simon 2020, o.S.) ist der jüngste Begriff einer Reihe disziplinärer Begriffe wie Heilpädagogik, Sonderpädagogik (Laubenstein 2019), Behindertenpädagogik (Bartz 2022a), Rehabilitationspädagogik (Bartz 2022b) oder Integrationspädagogik (Simon 2020, o.S.). Zusammengesetzt aus Inklusion und Pädagogik umreist dieser Begriff ein anderes, deutlich diverseres Spektrum pädagogischen Handelns als seine Vorgänger und spezifiziert seine Zuständigkeiten doch anders als beispielsweise die allgemeine Pädagogik oder allgemeine Erziehungswissenschaft. Nach Simon ist Inklusive Pädagogik „ein allgemeinpädagogischer Ansatz, der auf dem Prinzip der Anerkennung von Heterogenität in Bildungs- und Erziehungszusammenhängen basiert und sich unter Berücksichtigung vielfältiger Differenzlagen und ihrer möglichen Verschränkungen gegen Marginalisierungen und Diskriminierungen wendet“ (ebd.). Inklusive Pädagogik nimmt also mehr noch als die allgemeine Pädagogik die AdressatInnen ihrer Angebote und Bemühungen in ihrer Vielfalt in den Blick und begegnet dieser Vielfalt mit einer wertschätzenden Haltung. Die pädagogischen Angebote beziehen sich anschließend nicht nur auf die individuelle Person, sondern es wird versucht, auch die Strukturen, Kulturen und Praktiken im Sinne der Inklusion zu verändern und zu gestalten (Booth und Ainscow 2003). Allerdings unterscheiden einige zwischen einem engen und einem weiten Inklusionsverständnis. Dieses Verständnis wiederum hat darauf Auswirkungen, wer von der Inklusionspädagogik adressiert wird (Lindmeier und Lütje-Klose 2015).

6 Kritische Betrachtung des Begriffs Behindertenpädagogik

Im Vorwort zur Enzyklopädie der Behindertenpädagogik schreiben die GesamtherausgeberInnen:

„In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffes der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder-, Rehabilitations-, Sonder-, Heil-, Integrations- und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behinderung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behindert Werdens hervor und lässt sich pädagogisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstandsbereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutionalisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen- und lebensbereichsübergreifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereiches ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten“ (Beck et al. 2009, S. 10–11).

Fraglich ist, wie dies zwölf Jahre später eingeordnet werden kann. Es erscheint so, dass an Fachhochschulen und in der Öffentlichkeit der Begriff der Heilpädagogik, obwohl der älteste, noch recht häufig anzutreffen ist. Demgegenüber steht mit Inklusionspädagogik der aktuellste Begriff aus der Reihe der „Spezialpädagogiken“. Ob und wie hier die Kategorie Behinderung und damit die Behindertenpädagogik sich verorten kann, die damit auch nur einen Teil der Menschen konkret benennt, die bei Inklusion mitbedacht werden sollten, wird sich noch erweisen müssen. Tatsächlich aber ist die Kategorie Behinderung eine zentrale Diversitätsdimension und auch für die Behinderten-, Heil-, Sonder- und Inklusionspädagogik als Lehre von Bildung und Erziehung unter besonderen Bedingungen hochrelevant. Ob zur disziplinären Benennung der Begriff Behindertenpädagogik sich (wieder) etablieren kann, bleibt vor dem Hintergrund der hier skizzierten Punkte abzuwarten. Gleichwohl ist der Begriff als solcher durch seine VertreterInnen, seine Herkunft und die mit ihm verbundenen Sichtweisen und Argumentationslinien bedeutsam. Der disziplinäre Diskurs, der wie auch immer benannten Disziplin, ist durch die Auseinandersetzung mit den Begriffen Behinderung und Behindertenpädagogik mit Sicherheit bereichert worden – und ist noch nicht am Ende (Boger 2022).

7 Quellenangaben

Antor, Georg und Ulrich Bleidick, Hrsg., 2001. Handlexikon der Behindertenpädagogik: Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-015553-4

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Bartz, Gwendolin, 2022b. Rehabilitationspädagogik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 24.02.2022 [Zugriff am: 24.02.2022]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/​Rehabilitationspaedagogik

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Biewer, Gottfried, 2017. Grundlagen der Heilpädagogik und inklusiven Pädagogik. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-4694-5 [Rezension bei socialnet]

Bleidick, Ulrich, 1999. Allgemeine Behindertenpädagogik. Neuwied: Luchterhand. ISBN 978-3-472-03783-5

Boger, Mai-Anh, 2022. Risse in der Landschaft der Inklusionsforschung: Aktuelle Entwicklungen und offene Fragen. In: Bernhard Schimek, Gertraud Kremsner, Michelle Proyer, Rainer Grubich, Florentine Paudel und Regina Grubich-Müller, Hrsg. Grenzen. Gänge. Zwischen. Welten: Kontroversen – Entwicklungen – Perspektiven der Inklusionsforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-2485-9

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Dederich, Markus, 2009. Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Markus Dederich und Wolfgang Jantzen, Hrsg. Behinderung und Anerkennung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 15–40. ISBN 978-3-17-019631-5 [Rezension bei socialnet]

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Fischer, Erhard, Hrsg., 2014. Heilpädagogische Handlungsfelder: Grundwissen für die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-023073-6 [Rezension bei socialnet]

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Hinz, Andreas und Sven Jacob, 2005. Einführung: Integrationspädagogik/​Inklusionspädagogik: Fragen nach dem disziplinären und professionellen Selbstverständnis. In: Ute Geiling und Andreas Hinz, Hrsg. Integrationspädagogik im Diskurs: Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik? Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 73–75. ISBN 978-3-7815-1381-5

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8 Literaturhinweise

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Ellger-Rüttgardt, Sieglind, 2008. Geschichte der Sonderpädagogik: eine Einführung. München: Ernst Reinhardt. ISBN 978-3-8252-8362-9 [Rezension bei socialnet]

Ziemen, Kerstin, Hrsg., 2017. Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-70187-4 [Rezension bei socialnet]

9 Informationen im Internet

Verfasst von
Prof. Dr. Gwendolin Bartz
IU Internationale Hochschule
Professorin für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik
Lehrerin für Sonderpädagogik
Systemische Familientherapeutin (DGSF)
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Zitiervorschlag
Bartz, Gwendolin, 2022. Behindertenpädagogik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 17.02.2022 [Zugriff am: 23.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29320

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