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Beratungsgespräch

Prof. Dr. Marc Weinhardt

veröffentlicht am 08.12.2021

Ein Beratungsgespräch ist der mündliche Austausch zwischen Adressat:innen und Beratungsfachkräften im spezifischen Modus professioneller Beratungsinteraktion auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Spezifische Qualität von Beratungsgesprächen
  3. 3 Formen von Beratungsgesprächen
  4. 4 Aktuelle Fragen und Probleme
  5. 5 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Entgegen eines umgangssprachlich verwendeten Beratungsbegriffs, der meist alle Formen helfenden Handelns im mündlichen Gespräch subsumiert, sind professionelle Beratungsgespräche durch idealtypische Merkmale gekennzeichnet, die sie von anderen Formen helfender Interaktion unterscheidbar machen.

Ein besonderes Kennzeichen von Beratungsgesprächen in der Sozialen Arbeit ist dabei, dass organisationale Kontexte und damit die Formen, in denen Beratungsgespräche stattfinden, stark variieren. Zudem sind Beratungsgespräche häufig in übergeordnete Prozesse, etwa den Hilfen zur Erziehung, der Schulbildung, der Arbeitsintegration etc. eingebettet, in denen gleichzeitig andere Formen helfender Interaktion eine Rolle spielen können.

Die spezifische Qualität eines professionellen Beratungsgespräches als eine von mehreren möglichen Formen helfender Interaktion ist deshalb im Wesentlichen durch den Modus der beraterischen Gesprächsführung und der zugehörigen Haltung von Beratungsfachkräften gekennzeichnet und zu erschließen. Beratungsgespräche in diesem Sinne sind zusammengefasst „kommunikative Reflexionsräume, in denen komplexe Fragen der Lebensführung von Adressat:innen im Rahmen eines wertschätzenden, aber zugleich themen-, prozess- und ergebnisneutralen Unterstützungsangebots bearbeitet werden können“ (Weinhardt 2018, S. 485).

2 Spezifische Qualität von Beratungsgesprächen

Übergeordnete, idealtypische Kennzeichen von Beratungsgesprächen sind

  1. eine wertschätzende und belastbare Arbeitsbeziehung, auf deren Basis
  2. die Anwendung wissenschaftlich begründeter Gesprächsführungstechniken/​Methoden erfolgt,
  3. die Berücksichtigung bzw. (Wieder-)Herstellung von Freiwilligkeit zur Teilnahme und die sich daraus insgesamt ergebende
  4. Themen-, Prozess- und Ergebnisoffenheit.

Ziele eines Beratungsgespräches sind emotionale Entlastung und Stabilisierung sowie kognitive, volitionale und motivationale Aktivierung in der Vorbereitung, Begleitung und Reflexion erweiterter Denk- und Handlungsmuster und damit insgesamt die (Wieder-)Herstellung und Erweiterung von Handlungsfähigkeit (Nestmann und Sickendiek 2018).

  1. Die Bedeutung einer wertschätzenden und belastbaren Arbeitsbeziehung (im internationalen Diskurs auch als working alliance bezeichnet) gilt als unbestritten und erklärt einen Großteil dessen, was erfolgreiche Beratungsgespräche auszeichnet. Eine Arbeitsbeziehung ist in Beratungsgesprächen mehr als nur freundliche Begegnung und interessiertes Zuhören. Vielmehr bildet sie die belastbare Basis, um die – gemessen an Alltagskommunikation – ungewöhnlichen Gesprächsführungstechniken, z.B. in Form hochreflexiver Fragen, umsetzen zu können. Gängige Wirkungsmodelle gehen deshalb davon aus, dass Arbeitsbeziehung und die Anwendung von Beratungsmethoden sich wechselseitig bedingen: Eine stabile Arbeitsbeziehung führt in diesem Sinn überhaupt erst zur erfolgreichen Anwendbarkeit komplexer Beratungsmethoden, diese wirken wiederum stärkend auf die Arbeitsbeziehung zurück, indem das Selbstwirksamkeitserleben von Beratungsfachkräften und ihren Adressat:innen ansteigt und das gemeinsame Tun im Gespräch positiv erlebt wird (Wampold et al. 2018; Weinhardt 2016; 2020; Widulle 2020).
  2. Die in der Beratung angewendeten Methoden und Techniken lassen sich zwei Provenienzen zuordnen. So lässt sich einerseits ein Import derjenigen etablierten psychotherapeutischen Schulen feststellen, die in der internationalen Psychotherapieforschung als effektiv und effizient gehandelt werden (wenn auch auf unterschiedlichem Evidenzniveau, Lambert und Bergin 2021; Lutz et al. 2019; Wampold und Imel 2015). Aus dieser Logik herauskommend zeigt sich Beratung dann als humanistische, psychodynamische, verhaltenstherapeutische oder systemische Beratung.
    Eine weitere Gruppe von Verfahren umfasst Methoden, die spezifisch in und für die Soziale Arbeit entwickelt wurden (Schubert et al. 2019), beispielsweise sozialökologisch-transaktionsorientierte Beratung, lebensweltorientierte Beratung oder die motivierende Gesprächsführung.
    Psychotherapeutische Verfahren sind dabei generell stärker operationalisiert als die in der Sozialen Arbeit entstandenen Konzepte, da die psychotherapeutische, an Diagnosen und Störungsbildern festgemachte Wirksamkeitsforschung dies erfordert. Die augenscheinlich hohe Transfervalidität psychotherapeutischer Verfahren in die Beratung muss in diesem Punkt deshalb kritisch eingeschränkt werden, da Beratung in der Sozialen Arbeit durch komplexe Zu- und Überweisungskontexte jenseits medizinischer Indikationen gekennzeichnet ist. Für Beratungsfachkräfte lässt sich deshalb das Erfordernis ableiten, sich intensiv mit Wirksamkeitsforschung zu befassen und die Übertragbarkeit vorliegender Methoden auf die eigene Adressat:innengruppe kritisch zu prüfen.
  3. Die Freiwilligkeit der Teilnahme gilt als zentrales Element von Beratungsgesprächen. Während Freiwilligkeit in vielen Beratungsgesprächen unhinterfragtes konstitutives Element ist, weil Adressat:innen die Beratung freiwillig aufsuchen und um Hilfe bitten, gibt es zahlreiche Kontexte in der Sozialen Arbeit, in der eine zumindest relative Form von Freiwilligkeit zunächst hergestellt werden muss. Beispiele hierfür sind angeordnete Beratungen in der Jugendhilfe oder der Arbeitsintegration, in denen im Rahmen des Beratungsgespräches zunächst ausgehandelt wird, ob beispielsweise trotz der Verpflichtung zum Absolvieren von Beratung die relative Freiheit gegebener Themen-, Prozess- und Ergebnisoffenheit eingeräumt und genutzt werden kann.
  4. Beratungsgespräche sind auf spezifische Weise durch eine strukturierte Offenheit (Thiersch 2020, S. 160) gekennzeichnet. Der strukturierte und intensive Einsatz von Gesprächsführungstechniken wird hierbei genutzt, um die notwendige Offenheit von Beratungsgesprächen als an den Bedürfnissen der Adressat:innen orientierte Reflexionsräume überhaupt zu ermöglichen. In der Konsequenz zeigt sich dies darin, dass in Beratungsgesprächen idealerweise die Adressat:innen alleine festlegen, was in welcher Form und zu welchem Zweck besprochen wird. Die sich ergebende Spezialisierung der Rollen ergibt dann jeweils eine Expertise auf Seite der Adressat:innen für eigene Bedürfnisse und Relevanzstrukturen der Lebenswelt sowie die Verantwortung der Beratungsfachkräfte für die methodisch abgesicherte Möglichkeit eines themen-, prozess- und ergebnisoffenen Gesprächs entlang dieser Bedürfnisse.

3 Formen von Beratungsgesprächen

Entlang Konventionen der deutschsprachigen Beratungsforschung lassen sich Beratungsgespräche a) hinsichtlich der organisationalen Formalisierung sowie b) des realisierten Settings unterscheiden. Auffindbar sind neben dieser Klassifikation weitere Unterscheidungen (z.B. zwischen Einmalberatungen und Mehrfachberatungen, Märtens 1999).

  1. Hinsichtlich der organisationalen Verortung lassen sich unterschiedliche Formen von Beratungsgesprächen entlang eines Kontinuums zwischen Beratung als Querschnittsaufgabe einerseits und einem spezialisierten Angebot andererseits aufweisen (Abb. 1).
    Kontinuum zwischen querschnittiger und spezialisierter Beratung
    Abbildung 1: Kontinuum zwischen querschnittiger und spezialisierter Beratung (Weinhardt 2018, S. 488)
    Beratungsgespräche, durch die Beratung als Querschnittsaufgabe Sozialer Arbeit realisiert wird, zeichnen sich durch ihre Einbettung in einen sozialpädagogisch (teil-)strukturierten Alltag aus, wenn sich beispielsweise im Rahmen eines Bezugspersonensystems in den Hilfen zur Erziehung Jugendliche und ihre Bezugsbetreuer:innen gemeinsam beraten. Solche Beratungsgespräche zeichnen sich in der Konsequenz äußerlich durch einen niederschwelligen Zugang, eine thematische und zeitliche Offenheit und einen die eigentliche Beratung überdauernden Kontakt aus. An dieser Stelle zeigt sich ein hohes Maß an zu fordernder Beratungsprofessionalität in der Sozialen Arbeit, denn solche Gespräche müssen, gerade weil sie bereits in einen professionellen Hilfekontext eingebettet sind, umso sorgfältiger geführt werden, um ihre Qualität als Beratungsgespräch nicht zu verlieren und in alltagskommunikative, sanktionierende oder instruierende Kommunikation abzugleiten. Am anderen Ende des Formalisierungsspektrums stehen hingegen Gespräche, die in der Regel in spezialisierten Diensten (in Form von Beratungsstellen oder als Konsiliardienst größerer Einrichtungen Sozialer Arbeit) stattfinden. Sie erfordern meist eine Voranmeldung, sind thematisch und zeitlich hoch (vor-)strukturiert und bei hoher Formalisierung sehr psychotherapienah angelegt. Trotz dieser hohen organisationalen Strukturierung haben es Beratungsfachkräfte hinsichtlich der Abgrenzungsproblematik in persönlicher und fachlicher Hinsicht weniger schwer als in querschnittig realisierten Beratungsgesprächen, da in der Regel außerhalb der Beratungsgespräche kein weiterer Kontakt zu den Adressat:innen besteht. Die hier dargestellte Differenz zwischen querschnittig und spezialisiert erbrachter Beratung findet sich stellenweise noch in erweiterten Formen. In diesen wird beispielsweise noch zwischen professionellen und nichtprofessionellen Berater:innen aus privaten und ehrenamtlichen Kontakten, die ebenfalls mit systematisiert werden, unterschieden. So ergeben sich insgesamt drei Formalisierungsgrade: nicht formalisierte Beratung außerhalb professioneller Helfer:innenbeziehungen, teilformalisierte Beratung als Querschnittsaufgabe psychosozialer Fachkräfte sowie formalisierte Beratung als spezielles Angebot (Nestmann und Sickendiek 2018) von Beratungsspezialist:innen.
  2. Hinsichtlich möglicher Settings von Beratungsgesprächen lassen sich bezogen auf teilnehmende Adressat:innen Einzelberatungen von Mehrpersonenberatungen unterscheiden, wobei die Gruppe der Mehrpersonenberatungen noch weiter in Paar- und Familien-, Team- und Gruppenberatungen ausdifferenzierbar ist. Während in Einzelberatungen die Beratung durch eine Fachkraft üblich ist, sind in Mehrpersonenberatungen auch Settings vorhanden, in denen regelmäßig zwei oder mehr Beratungsfachkräfte unmittelbar oder mittelbar beteiligt sind. Üblich sind dabei zwei Modi der Beteiligung. Ko-Beratungen, die von mehreren gleichgestellten Beratungsfachkräften erbracht werden, sind in ihrem Setting methodisch begründet und finden sich überwiegend im Formenkreis systemischer Konzepte, die durch mehrere unmittelbar (im selben Raum) oder mittelbar (durch Einwegspiegel oder Videoübertragung) beteiligte Beratungsfachkräfte die geforderte Multiperspektivität von Beratungsgesprächen umsetzen. Ko-Beratungen zu Ausbildungszwecken finden sich ebenfalls überwiegend, aber nicht nur in systemischen Konzepten und dienen hier aus didaktischen Gründen der Vermittlung der Methode in Form des kognitiven Apprenticeships.

4 Aktuelle Fragen und Probleme

Bezogen auf neuere Impulse aus der digitalen oder teildigitalen (hybriden) Erbringung von Beratung wird diskutiert, wie neue Formen, z.B. video- oder avatargestützte Beratungsgespräche, systematisiert und analysiert werden können. Die in kopräsenten Beratungsgesprächen gängigen Klassifikatoren greifen hier beispielsweise bezogen auf die Settingbeschreibung nicht vollständig. Ob die Frage der Personenteilnahme durch unterschiedliche Konzepte von Raum (kopräsente, virtuelle, hybride Räume) sinnvoll weiter ausdifferenzierbar ist oder ob digitale Beratungsgespräche quer zu bisherigen Logiken beschrieben werden sollten (Engelhardt 2018; Weinhardt 2021), ist derzeit nicht sicher zu beantworten.

5 Quellenangaben

Engelhardt, Emily, 2018. Lehrbuch Onlineberatung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. ISBN 978-3-525-71147-7 [Rezension bei socialnet]

Lambert, Michael und Allen E. Bergin, 2021. Bergin and garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change. Hoboken: John Wiley & Sons. ISBN 978-1-119-53658-1

Lutz, Wolfgang, Rebekka Neu und Julian A. Rubel, 2019. Evaluation und Effekterfassung in der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-2912-7

Märtens, Michael, 1999. Einmalberatung: Chancen, therapeutische Grundlagen und Grenzen. Mainz: Matthias Grünewald. ISBN 978-3-7867-2213-7

Nestmann, Frank und Ursel Sickendiek, 2018. Beratung. In: Hans-Uwe Otto, Hans Thiersch, Rainer Treptow und Holger Ziegler, Hrsg. Handbuch Soziale Arbeit: Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. München: Reinhardt, S. 153–163. ISBN 978-3-497-02745-3 [Rezension bei socialnet]

Schubert, Franz-Christian, Dirk Rohr und Renate Zwicker-Pelzer, 2019. Beratung: Grundlagen – Konzepte – Anwendungsfelder. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-20843-1 [Rezension bei socialnet]

Thiersch, Hans, 2020. Lebensweltorientierte soziale Arbeit – revisited: Grundlagen und Perspektiven. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-6310-3 [Rezension bei socialnet]

Wampold, Bruce E. und Zac E. Imel, 2015. The great psychotherapy debate: The evidence for what makes psychotherapy work. New York: Routledge. ISBN 978-0-8058-5709-2

Wampold, Bruce E., Zac E. Imel und Christoph Flückiger, 2018. Die Psychotherapie-Debatte: Was Psychotherapie wirksam macht. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3-456-85681-0 [Rezension bei socialnet]

Weinhardt, Marc, 2016. Haltung und Methode, Person und Technik: Empirische Perspektiven auf Struktur und Vermittlung von Beratungskompetenz. In: Petra Bauer und Marc Weinhardt, Hrsg. Professionalisierungs- und Kompetenzentwicklungsprozesse in der sozialpädagogischen Beratung. Baltmannsweiler: Schneider, S. 75–91. ISBN 978-3-8340-1591-4

Weinhardt, Marc, 2018. Beraten. In: Gunther Graßhoff, Anna Renker und Wolfgang Schröer, Hrsg. Soziale Arbeit: Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer VS, S. 485–500. ISBN 978-3-658-15665-7 [Rezension bei socialnet]

Weinhardt, Marc, 2020. Beratungsprofessionalisierung in frühen Stadien: Der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen und Selbstwirksamkeitserwartung. In: Empirische Pädagogik. 34(2), S. 288–301. ISBN 978-3-944996-72-1. ISSN 0931-5020

Widulle, Wolfgang, 2020. Gesprächsführung in der Sozialen Arbeit: Grundlagen und Gestaltungshilfen. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-29203-4

Weinhardt, Marc, 2021. Digitalität und Digitalisierung in der psychosozialen Beratung. Überlegungen zum digitalen Wandel der Beratungskultur. In: Saskia Erbring und Jörg Fischer, Hrsg. Zukunft der Beratung. Weinheim: Beltz Juventa, S. 76–86. Sozialmagazin, Sonderband 5. ISBN 978-3-7799-6507-7

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