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Betriebliches Eingliederungsmanagement

Prof. Dr. Alfons Hollederer

veröffentlicht am 20.01.2025

Abkürzung: BEM

Rechtlicher Disclaimer: Herausgeberin und Autor:innen haften nicht für die Richtigkeit der Angaben. Beiträge zu Rechtsfragen können aufgrund geänderter Rechtslage schnell veralten. Sie ersetzen keine individuelle Beratung.

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement hat das Ziel, die Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten wiederherzustellen, zu erhalten und zu fördern sowie den Arbeitsplatz zu erhalten.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Hintergrund
  3. 3 Begriffsbestimmung
  4. 4 Prozess-Charakter des Betrieblichen Eingliederungsmanagements
  5. 5 Implementierung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in Deutschland
  6. 6 Ergebnisse der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 für Deutschland
  7. 7 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) sieht in § 167 Abs. 2 S. 1 SGB IX verpflichtend vor: „Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement).“

Die Verantwortung für die Durchführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements liegt damit beim Arbeitgeber. Die Teilnahme ist für die Beschäftigten freiwillig. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen. Soweit erforderlich, wird der oder die Werks-/​Betriebsarzt oder -ärztin eingeschaltet. Das weitere Verfahren und die Inhalte des Betrieblichen Eingliederungsmanagements sind im Gesetz jedoch nicht reguliert. Der Arbeitgeber und die Beteiligten können das Betriebliche Eingliederungsmanagement nach den individuellen betrieblichen Erfordernissen und Strukturen gestalten. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist in der Regel als Prozesskette angelegt und die Verfahrensabläufe werden in der Praxis für den Einzelfall unterschiedlich konkretisiert.

Wie die Studienlage zeigt, ging die Implementierung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in Deutschland seit der Einführung im Jahr 2004 nur zögerlich voran. Es gibt wenige Informationen über den Erreichungsgrad, die Ergebnisse und die Einflussfaktoren. Nach der repräsentativen BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 waren 7 % der Erwerbstätigen in Deutschland aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit berechtigt, ein Betriebliches Eingliederungsmanagement zu erhalten. Es gaben aber nur 40 % der BEM-Berechtigten an, dass ihnen ein Betriebliches Eingliederungsmanagement vom Arbeitgeber angeboten wurde. Von diesen berichteten ca. zwei Drittel, dass sie das Angebot auch in Anspruch genommen haben. Verschiedene Betriebsmerkmale wie die Betriebsgröße und Charakteristika der Betroffenen sind mit dem Angebot und der Inanspruchnahme des Betrieblichen Eingliederungsmanagements assoziiert.

2 Hintergrund

Mit dem demografischen Wandel, dem Fachkräftemangel und der sukzessiven Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nimmt die Wichtigkeit für Betriebe, Beschäftigte und Gesellschaft zu, die Gesundheit der Beschäftigten zu fördern, Krankheiten vorzubeugen sowie Beschäftigte mit Krankheiten und Behinderungen besser am Arbeitsplatz zu integrieren.

Die Arbeitsunfähigkeit belastet die Betriebe durch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Produktionsausfälle. Dem Sozialversicherungssystem entstehen Kosten durch den anschließenden Krankengeldanspruch und die Leistungserbringungen in der Kuration und Rehabilitation. Lang andauernde oder wiederholte Erkrankungen können bei einer negativen Gesundheitsprognose und Beeinträchtigungen des betrieblichen bzw. wirtschaftlichen Interesses des Arbeitgebers aber auch zu krankheitsbedingten Kündigungen führen. Wenn Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen oder Behinderungen erwerbslos sind, haben sie wiederum verhältnismäßig schlechte Wiedereingliederungschancen in den Arbeitsmarkt (Paul und Hollederer 2023).

In Deutschland lag der Krankenstand von beschäftigten Pflichtmitgliedern der Gesetzlichen Krankenkassen bei 4,34 % im Jahresdurchschnitt 2021 (Bundesministerium für Gesundheit 2022). Er ist in den letzten Jahren leicht, aber kontinuierlich gestiegen. Die Statistik der Arbeitsunfähigkeit der Pflichtmitglieder in der Gesetzlichen Krankenversicherung zeigt für 2018 (Bundesministerium für Gesundheit 2020a), dass in Deutschland 95,8 % der 42 Millionen registrierten Arbeitsunfähigkeitsfälle innerhalb einer Dauer der Arbeitsunfähigkeit von 42 Tagen beendet wurden. Mit dieser Frist endet auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch die Arbeitgeber. Die restlichen 4,2 % der Arbeitsunfähigkeitsfälle verursachen allerdings fast die Hälfte der 574 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland (48,9 %).

Die Diagnosen werden nach der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) verschlüsselt. Relativ häufig gehen die Arbeitsunfähigkeitsfälle demnach auf Diagnosen der Krankheiten des Atmungssystems, Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes sowie infektiöse und parasitäre Krankheiten zurück (Bundesministerium für Gesundheit 2020b). Besonders lang anhaltend sind allerdings die Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund von psychischen und Verhaltensstörungen mit durchschnittlich 42 Arbeitsunfähigkeitstagen und von Neubildungen mit durchschnittlich 41 Arbeitsunfähigkeitstagen.

Mit dem Alter der Pflichtmitglieder nimmt nicht die Zahl der Arbeitsunfähigkeitsfälle, aber die der durchschnittlichen Tage je Fall kontinuierlich zu (Bundesministerium für Gesundheit 2020b).

International gibt es Evidenz von moderater Qualität, dass Maßnahmen direkt am Arbeitsplatz den Beschäftigten helfen können, wieder zur Arbeit zurückzukehren und die Dauer der krankheitsbedingten Abwesenheit zu reduzieren (Vilsteren et al. 2015). Ein Disability Management hat sich für die Sicherstellung des Arbeitsplatzerhalts und die berufliche Wiedereingliederung als effektiv und effizient herausgestellt (Lefever et al. 2018).

3 Begriffsbestimmung

In Deutschland wurde das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) bereits 2004 gesetzlich eingeführt. Es ist für alle Arbeitgeber verpflichtend. Das Ziel des Betrieblichen Eingliederungsmanagements ist es, die Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten wiederherzustellen, zu erhalten und zu fördern, welche länger als sechs Wochen durch Krankheit unterbrochen war. Der Gesetzestext nach § 167 Abs. 2 SGB IX sieht für Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohten Menschen nachfolgende Begriffsbestimmung des „betrieblichen Eingliederungsmanagements“ expressis verbis vor und regelt die Beteiligungen im Grundsatz.

Textbox: Definition des Betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 167 Abs. 2 SGB IX

„Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Beschäftigte können zusätzlich eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen. Soweit erforderlich, wird der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen. Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden vom Arbeitgeber die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen. Diese wirken darauf hin, dass die erforderlichen Leistungen oder Hilfen unverzüglich beantragt und innerhalb der Frist des § 14 Absatz 2 Satz 2 erbracht werden. Die zuständige Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung, können die Klärung verlangen. Sie wachen darüber, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfüllt.“

Mit der gesetzlichen Einführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements verbindet sich nicht nur das hauptsächliche Präventionsziel, Schwerbehinderung, Erwerbsminderung und Frühverrentung zu vermeiden, sondern auch explizit einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen. Diese sekundär- bzw. tertiärpräventiven Ziele sind kompatibel zum etablierten Arbeitsschutz sowie zu primärpräventiven Zielen der betrieblichen Gesundheitsförderung. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement wird als integraler Bestandteil im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) verstanden, z.B. im Leitfaden Prävention der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Spitzenverband 2024, S. 111).

4 Prozess-Charakter des Betrieblichen Eingliederungsmanagements

Nach dem Gesetz obliegt die Verantwortung für die Durchführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements dem Arbeitgeber. Das Verfahren und die Inhalte des Betrieblichen Eingliederungsmanagements sind im Gesetz indessen nicht weiter reguliert. Das hat Vor- und Nachteile. Der Arbeitgeber und die Beteiligten können so das konkrete Verfahren des Betrieblichen Eingliederungsmanagements nach den individuellen betrieblichen Erfordernissen gestalten. Die Teilnahme ist für die Beschäftigten prinzipiell freiwillig. Die Verfahrensabläufe werden in der Praxis unterschiedlich konkretisiert. Die unterschiedlichen Akteure (Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen 2022; Danigel 2018; Fischer 2018; Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2024; u.a.) haben eine Reihe von Vorgehensweisen empfohlen.

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement ist als Prozess angelegt. Die Abbildung 1 illustriert typische Schritte in einem BEM-Verfahren. In der Regel beginnt die Prozesskette mit der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen bei einem Beschäftigten im Betrieb. Das erfordert bereits die Aufmerksamkeit im Betrieb, denn es zählen dabei auch mehrere Arbeitsunfähigkeitsfälle mit ihren Arbeitsunfähigkeitszeiten (d.h. mehr als 30 Arbeitstage) zusammen. Es folgen ein Erstkontakt mit dem betroffenen Beschäftigten und ein Erstgespräch mit dem Ziel der Abklärung seiner Mitwirkungsbereitschaft. Der Arbeitsplatz und die Anforderungen werden mit den Betroffenen und gegebenenfalls weiteren Expert:innen in der Einzelfallbetrachtung analysiert. Die Koordination und Beteiligung der im Gesetz genannten Akteure ist wichtiger Bestandteil des Verfahrens. Eine Vernetzung erfolgt innerhalb des Betriebs und mit externen regionalen Netzwerken.

Nach der Fallbesprechung werden Maßnahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements abgeleitet und konkrete Maßnahmen durchgeführt. Als betriebliche Maßnahme kommt beispielsweise die Verringerung der Arbeitsmenge oder die Reduktion und Flexibilisierung der Arbeitszeit in Betracht. Gegebenenfalls werden auch individuell ausgerichtete Maßnahmen der Rehabilitation oder Wiedereingliederung nach längerer Krankheit initiiert (BAR 2019). Die Wirksamkeitskontrolle ist idealerweise ein Bestandteil dieses Prozesses. Es ist generell der Schutz der Persönlichkeitsrechte und insbesondere der Beschäftigtendaten zu wahren. Nach einer positiven Evaluation der Eingliederung wird das Betriebliche Eingliederungsmanagement abgeschlossen oder die Maßnahmen müssen andernfalls nachjustiert werden.

Betriebliches Eingliederungsmanagement als schrittweiser Prozess im Betrieb
Abbildung 1: Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) als schrittweiser Prozess im Betrieb (eigene Darstellung)

5 Implementierung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in Deutschland

In Deutschland ging die Implementierung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in den Betrieben trotz der Gesetzesvorgabe nur langsam voran. Es fehlen bislang repräsentative Studien zur Umsetzung (Lösch et al. 2021). Die Qualität des Betrieblichen Eingliederungsmanagements ist in der Praxis sehr unterschiedlich. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen wurden Hemmnisse wie Informationsdefizite, fehlende Priorisierung, eingeschränkte Eingliederungsmöglichkeiten oder Krankheit als Tabuthema ermittelt (Hetzel et al. 2006). Betriebe berichteten von Problemen bei der Umsetzung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements, weil geeignete Arbeitsplätze im Betrieb fehlen (Gröben et al. 2011). Als besonders problematisch wurde das Betriebliche Eingliederungsmanagement bei Erwerbstätigen mit psychischen Problemen eingeschätzt.

Eine bundesweite Befragung von Niehaus et al. (2008) bei 630 Betrieben ergab, dass in den Jahren 2006 bis 2007 55 % der großen Unternehmen, 38 % der mittelgroßen Unternehmen und 23 % der kleinen Unternehmen das Betriebliche Eingliederungsmanagement thematisiert hatten. Nur bei zwei Dritteln der Betriebe gab es eine Stelle, die die Arbeitsunfähigkeiten in Bezug auf die sechswöchige Wochen-Frist überwachten. Die Erstansprache erfolgte in der Regel über die Personalabteilung oder bei den Kleinbetrieben durch die Geschäftsführung.

Experteninterviews von Ramm et al. (2012) bestätigten den geringen Bekanntheitsgrad des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in den Klein- und Mittelbetrieben. Durch die geringen Beschäftigtenzahlen bestand in den Klein- und Mittelbetrieben wenig oder kein Erfahrungswissen bei Langzeiterkrankungen. Betriebe, die offen für Gesundheitsförderung sind, zeigten auch stärkeres Interesse am Betrieblichen Eingliederungsmanagement. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer:innen bestätigten, dass das Betriebsklima sehr wichtig ist.

Schwierige Bedingungsfaktoren erschweren nach einer Untersuchung von Carls und Splett (2024) in kleinen und mittleren Unternehmen die Umsetzung. Dazu zählen fehlende individuelle und betriebliche Ressourcen und Kompetenzen, eine geringe Prozesssystematisierung und Akteursbeteiligung sowie geringe betriebliche Priorität gesundheitsgerechter Arbeitsgestaltung.

Loerbroks et al. (2021) untersuchten bei einer Kohortenstudie von Personen im Alter von 40 bis 54 Jahren, die im Jahr 2012 Krankengeld bezogen haben, das Betriebliche Eingliederungsmanagement in Deutschland. 34 % der Befragten gaben an, dass ihnen bis 2015 schon einmal ein Betriebliches Eingliederungsmanagement angeboten worden ist. 77 % hatten dieses Angebot angenommen. Eine steigende Betriebsgröße war der stärkste Prädiktor für ein zukünftiges BEM-Angebot. Die Wahrscheinlichkeit sowohl eines BEM-Angebots als auch die BEM-Akzeptanz war bei Teilnehmer:innen, die 2013 von psychischen Erkrankungen und Krebserkrankungen betroffen waren, erhöht.

Mittlerweile hat sich durch Richterrecht herauskristallisiert, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, ein Betriebliches Eingliederungsmanagement anzubieten, sich auch beim Kündigungsschutz nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auswirken kann (Röben 2020). Wenn ein Arbeitgeber vor einer krankheitsbedingten Kündigung es unterlässt, Alternativen zu einer Kündigung zu identifizieren, hat er in einem etwaigen Kündigungsschutzprozess die Beweislast, dass auch bei Durchführung eines Betriebliches Eingliederungsmanagements das Arbeitsverhältnis nicht hätte erhalten werden können. Das steigerte die Aufmerksamkeit in den Personalabteilungen.

6 Ergebnisse der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 für Deutschland

Die BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 war die erste Repräsentativerhebung, die Aufschlüsse über die Umsetzung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in Deutschland bei 20.012 interviewten Erwerbstätigen geben konnte. Eine Sekundäranalyse von Hollederer (2021a) zielte darauf, die Verbreitung und Inanspruchnahme des Betrieblichen Eingliederungsmanagements bei mindestens sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit in Deutschland zu untersuchen. Die Auswertung (Hollederer 2021a) ergab, dass nach den Selbstangaben zur Arbeitsunfähigkeit 7 % der befragten Erwerbstätigen BEM-berechtigt waren. Davon haben lediglich 40 % ein BEM-Angebot vom Arbeitgeber erhalten und 27 % in Anspruch genommen. Die Gründe für die Nichtinanspruchnahme sind noch unklar.

Das bedeutet, dass nur eine Minderheit der BEM-berechtigten Erwerbstätigen vom Betrieblichen Eingliederungsmanagement in Deutschland profitiert hat. In der Verbreitung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements sind Disparitäten festzustellen. Sie geben Hinweise auf besondere Schwierigkeiten in der Implementierung. Bei jüngeren BEM-Berechtigten im Alter unter 30 Jahren, bei Entlassungsgefahr oder bei Befristung wurde relativ selten ein Betriebliches Eingliederungsmanagement angeboten. Die Auswertungen legen außerdem einen sozialen Gradienten offen. Je höher der Ausbildungsabschluss der BEM-berechtigten Erwerbstätigen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für den Erhalt eines Angebots. Den BEM-berechtigten Erwerbstätigen mit amtlich anerkannter Behinderung wurde dagegen häufig ein Betriebliches Eingliederungsmanagement offeriert. In Betrieben mit Betriebs-/​Personalrat wurde den berechtigten Erwerbstätigen ebenfalls überdurchschnittlich häufig ein BEM-Angebot unterbreitet.

Die Betriebsgröße spielt ebenfalls eine große Rolle. Wie die Abbildung 2 demonstriert, gab es bei den großen Betrieben ab 250 Beschäftigten häufiger ein BEM-Angebot als in kleinen oder mittleren Betrieben, aber die Inanspruchnahme war im Verhältnis geringer.

Außerdem erhielten berechtigte Erwerbstätige wesentlich häufiger ein BEM-Angebot in Betrieben, die auch Betriebliche Gesundheitsförderung durchführten (Hollederer 2021a-b). Die Chancen auf ein BEM-Angebot korrespondieren zudem mit größerer allgemeiner Arbeitszufriedenheit (Hollederer 2021a).

Disparitäten beim Betrieblichen Eingliederungsmanagement nach Betriebsgröße in Deutschland
Abbildung 2: Disparitäten beim Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) nach Betriebsgröße in Deutschland (eigene Darstellung; Hollederer 2021a)
Anmerkung: Gewichtete Ergebnisse

Alles in allem zeigen der Literaturüberblick und die BIBB-/​BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018 übereinstimmend, dass nur eine Minderheit der berechtigten Erwerbstätigen ein Angebot zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement in Deutschland erhält. Es gibt ein Vollzugsdefizit in Deutschland. Nach den wenigen vorhandenen Studien ist die Chance auf ein Angebot des Betrieblichen Eingliederungsmanagements mit vielfältigen Betriebsmerkmalen und Charakteristika der Betroffenen assoziiert. Für die Umsetzung ist offenbar auch eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur im Betrieb wichtig. Es besteht weiterer Bedarf an Entwicklung sowie Forschung (insbesondere zur Evaluation), aber auch Regulierungsbedarf, damit die gesetzlichen Vorgaben nach § 167 Abs. 2 SGB IX in allen Betrieben in Deutschland realisiert werden.

7 Quellenangaben

Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, 2022. Prävention & BEM (ZB info Nr. 3) [online]. Wiesbaden: Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.bih.de/integrationsaemter/​medien-und-publikationen/​publikationen/​zb-info/​praevention-bem/

Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), 2019. Der BEM-Kompass für den Wiedereinstieg in das Berufsleben nach längerer Krankheitszeit. Pressemitteilung [online]. Frankfurt am Main: Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, 26.03.2019 [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.bar-frankfurt.de/aktuelles/​details/​artikel/​der-bem-kompass-fuer-den-wiedereinstieg-in-das-berufsleben-nach-laengerer-krankheitszeit.html

Bundesministerium für Gesundheit, 2020a. Arbeitsunfähigkeit: Fälle und Tage nach Falldauer 2018. Berlin: Bundesministerium für Gesundheit

Bundesministerium für Gesundheit, 2020b. Arbeitsunfähigkeit: Fälle und Tage nach Alters-und Krankheitsartengruppen 2018. Berlin: Bundesministerium für Gesundheit

Bundesministerium für Gesundheit, 2022. Daten des Gesundheitswesens 2022 [online]. Berlin: Bundesministerium für Gesundheit [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/​user_upload/​230223_BMG_DdGW_2022.pdf

Carls, Kristin und Barbara Splett, 2024. Betriebliches Eingliederungsmanagement: Betriebliche Gestaltungsbedingungen und Wirkungen externer, aufsuchender BEM-Beratung [online]. SOFI Working Paper 2024–32. Göttingen: Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://sofi.uni-goettingen.de/fileadmin/​user_upload/​SOFI_Working_Paper_2024_BEM_Carls_Splett.pdf

Danigel, Cornelia, 2018. Betriebliches Eingliederungsmanagement: Ein Handlungsleitfaden [online]. Mitbestimmungspraxis Nr. 12. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung [Zugriff am: 15.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-006835/​p_mbf_praxis_2018_12.pdf

Fischer, Carola, 2018. Das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) [online]. Behinderung & Beruf. Wiesbaden: Universum-Verl. [Zugriff am: 14.01.2025]. PDF e-Book. ISBN 978-3-89869-434-6. Verfügbar unter: https://www.bih.de/fileadmin/​user_upload/​20180101_ZB_Ratgeber_Das_Betriebliche_Eingliederungsmanagement__BEM_.pdf

GKV-Spitzenverband, Hrsg., 2024. Leitfaden Prävention. Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V zur Umsetzung der §§ 20, 20a und 20b SGB V vom 21. Juni 2000 in der Fassung vom 19. Dezember 2024 [online]. Berlin: GKV-Spitzenverband, 19.12.2024 [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/​dokumente/​krankenversicherung_1/​praevention__selbsthilfe__beratung/​praevention/​praevention_leitfaden/​2024-12-19_GKV-Leitfaden_Praevention_barrierefrei.pdf

Gröben, Ferdinand, Ingra Freigang-Bauer und Linda Barthen, 2011. Betriebliches Eingliederungsmanagement von Mitarbeitern mit psychischen Störungen: Analyse des Handlungsbedarfs aus Sicht betrieblicher Akteure. In: Prävention und Gesundheitsförderung [online]. 6(4), S. 229–237 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 1861-6763. https://doi.org/10.1007/s11553-011-0306-1

Hetzel, Christian, Thorsten Flach, A. Weber und Hans-Martin Schian, 2006. Zur Problematik der Implementierung des betrieblichen Eingliederungsmanagements in kleinen und mittleren Unternehmen. In: Das Gesundheitswesen [online]. 68(5), S. 303–308 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 1439-4421. https://doi.org/10.1055/s-2006-926770

Hollederer, Alfons, 2021a. Prevalence and utilization of company integration management in Germany: Results of the 2018 BiBB/BAuA survey of employed persons. In: Journal of Occupational Health [online]. 63(1), e12276 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 1348-9585. https://doi.org/10.1002/1348-9585.12276

Hollederer, Alfons, 2021b. Betriebliche Gesundheitsförderung in Deutschland für alle? Ergebnisse der BIBB-/​BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018. In: Das Gesundheitswesen [online]. 85(04), S. 277–288 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 1439-4421. https://doi.org/10.1055/a-1658-0125

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Lefever, Marlies, Saskia Decuman, François Perl, Lutgart Braeckman und Dominique Van de Velde, 2018. The efficacy and efficiency of Disability Management in job-retention and job-reintegration. In: WORK: A Journal of Prevention, Assessment & Rehabilitation [online]. 59(4), S. 501–534 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 1875-9270. https://doi.org/10.3233/WOR-182709

Loerbroks, Adrian, Jessica Scharf, Peter Angerer, Katja Spanier und Matthias Bethge, 2021. The Prevalence and Determinants of Being Offered and Accepting Operational Management Services—A Cohort Study. In: International Journal of Environmental Research and Public Health [online]. 18(4), 2158 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 1660-4601. https://doi.org/10.3390/ijerph18042158

Lösch, Regina, Nadja Amler und Hans Drexler, 2021. Arbeits- und Gesundheitsschutz und Betriebliches Eingliederungsmanagement in Deutschland: Ein systematisches Review zum Umsetzungsstand gesetzlicher Vorgaben. In: Das Gesundheitswesen [online]. 84(05), S. 422–437 [Zugriff am: 14.01.2025]. ISSN 0941-3790. https://doi.org/10.1055/a-1354-6227

Niehaus, Mathilde, Johannes Magin, Britta Marfels, Gudrun Vater und Eveline Werkstetter, 2008. Betriebliches Eingliederungsmanagement: Studie zur Umsetzung des betrieblichen Eingliederungsmanagements nach 84 Abs. 2 SGB IX. Forschungsbericht F374. Köln: Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Universität Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät, Department Heilpädagogik und Rehabilitation Professur für Arbeit und berufliche Rehabilitation

Paul, Karsten Ingmar und Alfons Hollederer, 2023. Unemployment and Job Search Behavior among People with Disabilities during the First Year of the COVID-19 Pandemic in Germany. In: International Journal of Environmental Research and Public Health [online]. 20(11), 6036. ISSN 1660-4601. https://doi.org/10.3390/ijerph20116036

Ramm, Diana, Christiane Mahnke, Anne Tauscher, Felix Welti, Harald Seider und Reza F. Shafaei, 2012. Betriebliches Eingliederungsmanagement in Klein- und Mittelbetrieben: Rechtliche Anforderungen und Voraussetzungen einer erfolgreichen Umsetzung. In: Die Rehabilitation [online]. 51(1), S. 10–17. ISSN 1439-1309. https://doi.org/10.1055/s-0031-1299690

Röben, Horst, 2020. Konfliktlinien des betrieblichen Eingliederungsmanagements [online] [Dissertation]. Bremen: Universität Bremen [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://media.suub.uni-bremen.de/bitstream/elib/5426/3/R%C3%B6ben%20Dissertation%20Abschluss.pdf

Vilsteren, Myrthe van, Sandra H. van Oostrom, Henrica C. W. de Vet, Renée‐Louise Franche, Cécile R. L. Boot und Johannes R Anema, 2015. Workplace interventions to prevent work disability in workers on sick leave. In: The Cochrane database of systematic reviews [online]. (10), CD006955 [Zugriff am: 14.01.2025]. https://doi.org/10.1002/14651858.CD006955.pub3

Verfasst von
Prof. Dr. Alfons Hollederer
Universität Kassel
Fachbereich 01 Humanwissenschaften
Institut für Sozialwesen
Professur Theorie und Empirie des Gesundheitswesens
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Heike Augustin, Isabella Bauer, Kerstin Borgel, Firedemann Bringt, Maria Budnik u.a.: Kommunale Konfliktbearbeitung. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2024.
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