Bewegungsbildung nach Hengstenberg
Gerburg Fuchs
veröffentlicht am 04.01.2021
Unter der Bewegungsbildung nach Hengstenberg wird eine Erziehung und Bildung der menschlichen Bewegung verstanden, welche auf Elfriede Hengstenberg (1892–1992) zurückgeht. Im Zentrum der Bewegungsbildung, die heute in vielen pädagogischen Einrichtungen angewandt wird, steht das Kind und der große Einfluss, den Bewegung auf die Persönlichkeit hat. Dabei spielen die Haltung und Einstellung der pädagogischen Fachkräfte eine zentrale Rolle.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Haltung als Ausgangspunkt
- 3 Sich selbst kennenlernen
- 4 Das Ungleichgewicht
- 5 Interesse wecken
- 6 Möglichkeiten entdecken
- 7 Auf die Haltung kommt es an
- 8 Quellenangaben
- 9 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
In Briefen und Dokumenten schreibt Elfriede Hengstenberg über ihre forschende Haltung und Versuche, der natürlichen Entwicklung der Kinder auf die Spur zu kommen. Der Begriff „Hengstenberg-Pädagogik“ ist irreführend, weil Hengstenberg selbst ihre Arbeit als Forschungsarbeit bezeichnet hat. Ihr zielgerichtetes Arbeiten lässt sich aus Sicht und Erfahrung der Autorin weder in ein Konzept noch in ein Schema einpassen, sondern ihre Philosophie stellt Fragen an Erziehende, wie sie kindliche Entwicklungsprozesse individuell begleiten können. Beispielsweise, wie man Interaktionen mit Kindern gestaltet, oder wie mehr Räume geschaffen werden können, um dem Bewegungsdrang der Kinder gerecht zu werden. Hengstenberg fordert eine Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl. Dieses neu zu denken ist heute so brisant wie vor hundert Jahren. Die Bewegungsgeräte sind ein Hilfsmittel dazu. In der Bewegungsbildung geht es um die Bildung des ganzen Menschen, seine geistigen, seelischen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten. Es geht um die Begriffe Selbstbestimmtes Lernen, Selbstwirksamkeit, Partizipation, Problemlösungsfähigkeit, Bewegungsfreude, Menschenrechte und Persönlichkeitsentfaltung. Hengstenberg hat sich für die Gesamtentwicklung eines Kindes interessiert und suchte nach Wegen, auf die uns Kinder selbst hinweisen. Sie schreibt: „Eine Selbsterziehungsaufgabe wartet auf uns, die für die Entfaltung des Kindes von entscheidender Bedeutung ist, und zwar auf jedem Gebiet“ (Hengstenberg 1991, S. 15).
2 Haltung als Ausgangspunkt

Erinnern Sie sich, wie Sie als Kind versucht haben, einen Stuhl wegzuschieben? Oder, wie Sie eine Treppe hoch krabbeln und auch wieder herunter krabbeln wollten? Die Haltungsfrage ist ein Kernproblem jeder Bewegungsbildung und eine Herausforderung für erziehende Erwachsene. Es ist ein Beziehungsgeschehen, dass immer wieder neu gesucht, neu gefunden, neu gestaltet wird zwischen den Menschen.
Der Begriff „Haltung“ hat verschiedene Bedeutungen. Haltung bedeutet zum einen die Grundhaltung einer Person, beispielsweise ein Kind als Subjekt anzuerkennen und ernst zu nehmen. Haltung bedeutet auch die Einstellung, die pädagogische Fachkräfte zu ihrer Arbeit mit Kindern, Eltern und Verpflichtung haben. Unsere Grundhaltung sagt etwas darüber aus, wie wir uns im Leben aufrichtig verhalten, wie wir in Kontakt kommen und Beziehungen mit anderen Menschen gestalten. In der frühen Kindheit wird die Haltung geprägt und damit verbunden auch die Wertvorstellungen, die wir über uns selbst und gegenüber anderen Menschen empfinden. Was vermitteln uns die drei Kinder in Abbildung 1 mit ihrer Haltung? Stehen beschreibt einen Zustand. Keine Lust! Langeweile! Ich weiß nicht! Stramm stehen! Wie verändert sich der Ausdruck in Bewegung? Elfriede Hengstenberg versuchte menschliche Werte über Bewegung zu vermitteln.
3 Sich selbst kennenlernen
Es ist eine Lebensaufgabe sich selbst kennenzulernen! Deshalb kann der Sinn der Bewegungsbildung kaum sein, den Kindern Übungen beizubringen, sondern in ihnen ein Verständnis für „körperliche“ und „geistige“ Zusammenhänge zu wecken.
„Unser Anliegen“, so Gindler „zielt darauf, dass Menschen sich selbst kennenlernen, dass sie ihre Möglichkeiten entdecken und durch deren zweckmäßigen Gebrauch entfalten. Der Organismus muss nicht belehrt werden, sondern es gilt, ihn lauschend zu studieren“ (DIPF/BFF/Archiv: HENGST 95).
Durch Elsa Gindler (1885–1961), die in den 1920er-Jahren eine der wenigen Pionierinnen einer neuen Bewegungskultur in Berlin war, kam Hengstenberg zu der Einsicht, dass es nötig ist, sich nicht nur für die „körperliche“ Entfaltung des Kindes zu interessieren, sondern für seine Gesamtentwicklung – seine Persönlichkeit. Auch durch den intensiven Austausch mit dem Begabten- und Verhaltensforscher Heinrich Jacoby (1889–1964) bekam sie immer wieder neue Anregungen für ihre Arbeit.
„Wir müssen offen und unvoreingenommen zu erkennen versuchen, was ein Mensch – trotz seines gegenwärtigen Aussehens und Verhaltens – noch an Möglichkeiten mitgebracht hat und dass ein Mensch unter bestimmten Bedingungen und Verhältnissen so werden musste, wie er sich zeigt“ (Jacoby 1991, S. 76).
Bis zu ihrem Lebensende arbeitete Hengstenberg in Berlin vor allem mit Schulkindern, aber auch mit Erwachsenen, Eltern und Lehrer*innen. Sie suchte nach neuen Wegen, den inneren Gesetzmäßigkeiten einer ungestörten Entwicklung des Kindes auf die Spur zu kommen.
4 Das Ungleichgewicht
Kinder haben das Bedürfnis ihren Körper intensiv zu erleben, ihre Sinne und die eigenen Hände zu gebrauchen und ihren Eindrücken von der Welt einen Ausdruck zu verleihen. Haben Kinder genügend Raum, Zeit und freie Bewegungsmöglichkeiten, so sichern wir ihnen damit nach Hengstenberg einen günstigen Verlauf ihrer Beweglichkeit und Entwicklung. Kinder sind in Bewegung.
Diese Erkenntnisse haben bis heute Bestand. In einer aktuellen KiGGS-Studie, der Langzeitstudie des Robert Koch Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, wurde festgestellt, dass es zwar viele sportliche Angebote für Kinder und Jugendliche im Alter von 4–13 Jahren gibt, die Kinder sich im Alltag dennoch zu wenig bewegen. Das Verhältnis zwischen Energieaufnahme und Energieverbrauch ist im Ungleichgewicht. Die Folgen sind Übergewicht, Bewegungsmangel sowie ein Rückgang motorischer Leistungsfähigkeit. Manche Kinder können nicht mehr mit den Fingerspitzen die Füße berühren, oder sie haben die Fähigkeit verloren rückwärts zu laufen. Die Studie zeigt die Notwendigkeit, die Körpererziehung mehr in den pädagogischen Alltag einzubeziehen und mehr Bewegungsräume für Kinder zu schaffen (Robert Koch Institut o.J.). Schon in den 1960er-Jahren verfasste der Bürgermeister und Schulrat im Bezirk Berlin-Zehlendorf einen Aufruf an die Grundschullehrer und Schulanwärter: „Achtzig Prozent unserer Kinder leiden an ‚Haltungsverfall‘, einer typischen Erschöpfungs- und Erschlaffungserscheinung, die den jugendlichen Organismus schon im ersten Jahrzehnt ihres Lebens in sich zusammensinken lassen“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 78, Bl. 3).
Die Veränderungen der Lebensbedingungen von Kindern beobachten wir auch heute. Sie haben direkte Auswirkungen auf das Bewegungs- und Körpererleben und damit auch auf die persönlichkeitsbildenden Prozesse. Die Gründe dieser Veränderungen sind auf den gesellschaftlichen und sozio-ökologischen Wandel zurückzuführen. Das Raum- und Zeiterleben der Kinder verändert sich zum Beispiel durch den Umgang mit digitalen Medien. Auch das Thema „Gesundheitsförderung“ rückt mehr in die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Entwicklung der Kinder wird von vielen Faktoren beeinflusst. Sie ist sowohl abhängig von ihren körperlichen und seelischen Anlagen, eventuell auch von Fehlbildungen, von der Belastbarkeit der Gelenke, von der Entwicklungsstufe des Gleichgewichtssinns, von der Erziehung und sozialen Umgebung. Als Erwachsene wissen wir, dass es keine leichte Aufgabe ist, seine Haltung zu ändern. Bewegungsbildung lehrt sehen, den Zusammenhang zwischen „körperlichen“ und „seelischen“ Bedürfnissen der Kinder zu erkennen und anders zu verstehen. Es ist ein erspürender Blick.

5 Interesse wecken
Durch Fragen und Aufgabenstellungen versuchte Elfriede Hengstenberg das Interesse bei den Kindern zu wecken, und die Fähigkeit zum Probieren in ihnen wachzurufen. Einfachste Gebrauchsgegenstände dienten den Kindern als Übungsgeräte, wie zum Beispiel ein Hocker, eine Leiter, eine Stange, ein Blumentopf oder ein Stuhl wie in Abbildung 2. In der Unterrichtsstunde wollte sie die Kinder mit dem Phänomen Spannkraft vertraut machen. Wie kann ich sitzen? Die Kinder experimentieren, wie sitze ich, wenn ich konzentriert lese? Sie hat den Kindern Gelegenheiten gegeben, sich an einem günstigeren Sitzen für die Schularbeiten zu versuchen. Man sieht auf der Abbildung die unterschiedlichsten Einfälle der Kinder. Sie hat ihnen Raum und Zeit gelassen, ihren eigenen Fehlhaltungen auf die Spur zu kommen, Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Durch das Interesse an eigenen, selbstständigen Versuchen, verändert sich die Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Auch durch das selbstständige Forschen und Probieren kommen Kinder, als auch Erwachsene zur Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Schwierigkeiten und Konflikten. Hengstenberg war es wichtig, den Schüler*innen „auch immer ein anatomisches Wissen nahezubringen“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST, TON 24). Am Ende ihrer Bewegungsstunden reflektieren die Kinder ihre Erfahrungen, in denen ihre spontanen Äußerungen, ihre Einfälle, ihr Interesse an Lebensvorgängen und Erkenntnisfähigkeit zu Wort kommen.
Ein anderes Experiment: Die Kinder bekamen die Aufgabe, einen Baum mit Vogelnestern zu zeichnen. Beim gemeinsamen Anschauen der Bilder, fragte Hengstenberg die Kinder: „Habt ihr unter den Nestern auch eins gefunden, das schräg im Baum saß?“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST, TON 24). Ein Vogelnest mit dem anatomischen Modell eines menschlichen Beckens zu vergleichen, ist aus dem Blickwinkel der Kinder leichter nachvollziehbar. Das können sie beim Sitzen spüren und in der Natur studieren.
5.1 Sich selbst erfahren
Hengstenberg hatte einen Jungen bei seinen Hausaufgaben beobachtet. Sie fragte ihn nach einer Weile, wo denn seine „gute“ Haltung bleibt. Daraufhin antwortete er: „das Fleisch wird eben wieder müde. Und wenn es dann wieder auf die Knochen kommt, dann kann es wieder“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST, TON 24). Das Körpererleben ist subjektiv, doch scheint der Junge eine anatomische Vorstellung von seinem Körper zu haben, und empfinden zu können, wie sich seine Haltung verändert, wenn er auf den Sitzbeinhöcker sitzt. „Das Empfinden für das Stimmende“ (Jacoby 1991, S. 63) ist das Ziel der Bewegungsbildung. Sich bewegen lernen, heißt reagieren können. Hengstenberg bemerkte, welches Potenzial in Kindern schlummert, die Veränderung selbst zu sein.
5.2 Eine Fragestellung oder eine Einstellung
Die Kinder haben Fragen gestellt, die wiederum Hengstenberg inspirierten, Aufgaben für sie zu erfinden „Sag mal, wie kommt das eigentlich? Alles, was so schwer herauszukriegen ist, macht doch den meisten Spaß?“, fragte am Ende der Stunde ein siebenjähriger Junge. Am Anfang der Stunde hatte der Junge vor dem Experimentieren Hengstenberg erklärt: „Bälle ins Tor hineinkugeln, das ist ‚dof‘“. Hengstenberg schreibt in dem Artikel „Erfahrungen aus meinem Kinderunterricht“: „Es [der Junge] fürchtete sich vor Auseinandersetzung mit seinen Konflikten. Es wußte, dass es hastig und ungeschickt war, und deshalb war seine Einstellung von vornherein: ‚Das kann ich wahrscheinlich nicht, – probieren dauert mir zu lange‘, da erklärte ich [Hengstenberg] also nach dem berühmtem Muster: das macht keinen Spaß, das ist dof“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 137, S. 8). Den Spaß beim Probieren entwickelt ein Kind vielleicht, wenn es bemerkt, dass es in seiner Not vom Erwachsenen ernst genommen und verstanden wird. Es kann entscheiden und selbst wählen, wie es den Konflikt eigenständig lösen kann. Hengstenberg diente dem Jungen als Spiegel und eröffnete ihm so die Möglichkeit, seine Einstellung „das ist dof“ selbst zu erkennen, und es erneut zu versuchen.

5.3 Entfaltung trotz Schwierigkeiten
In einem Brief schreibt Hengstenberg an Heinrich Jacoby 1942: „In keiner Stunde lerne ich so viel wie in dieser“:
„Was da alles akut wird an Zerstörungsangst, Eifersucht und Mangel an Einordnung in eine kleine zum Teil wieder so wunderbar probierende Gemeinschaft! wie man da abwägen muss, wie weit es notwendig ist, gegen solche Ausbrüche zunächst nichts zu unternehmen, ihre Auswirkungen erstmal zu studieren, um zur rechten Zeit (?) eine Wendung in der Arbeit herbeizuführen! – ich komme mir da manchmal wie ein Bändiger von kleinen Raubtieren vor!“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 2, S. 2).
Pädagogische Fachkräfte begegnen in der Arbeit mit Kindern ähnlichen Phänomenen und stehen vor offenen Fragen. Was tun Kinder? Was spielen sie uns vor? Und wie verhalten wir uns in Beziehung zum Kind, zum Geschehen in der Gruppe? Lauschend lernen pädagogische Fachkräfte äußere Verhaltensweisen von gleichzeitig stattfindenden inneren Zuständen zu unterscheiden (Fuchs 2004, S. 3). Das beschreibt eine forschende Haltung. Man muss immer wieder abwägen, Entscheidungen treffen „gegen solche Ausbrüche zunächst nichts zu unternehmen“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 2, S. 2). Im feinfühligen Kontakt mit den Kindern zu sein, jedes Kind im Blick zu behalten und immer wieder das Abwarten zu üben, sich zurückhalten zu können, in der Nähe zu sein, und dann entscheiden, ob man einem Kind Hilfe anbietet oder noch nicht, ist eine komplexe Aufgabe. Es ist mehr als „nur“ zu beobachten. Es bedeutet auch immer wieder improvisieren zu können.

Welche Entscheidung ist sinnvoll? Pädagogische Fachkräfte wie auch Kinder erfahren es im Tun. Sie können unmittelbar in der Reaktion der Kinder lesen und wahrnehmen, ob ihre Entscheidung stimmig war oder nicht. Wenn nicht, dann kann es vielleicht zu einem Austausch- und Suchprozess kommen, um herauszufinden, was das Bedürfnis des Einzelnen und das gemeinsame Interesse ist.
„Wir haben beispielsweise in einem solchen Fall einmal eine Stange in schräger, niedriger Lage angebracht. Das war zunächst schwerer, jedoch kamen die Kinder nochmal zu der Gelegenheit, Bewegungsgesetzmäßigkeiten in Erfahrung zu bringen“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 137, S. 10).
Der Bildungsprozess eines Kindes erfolgt im Rahmen der Möglichkeiten, die ihm von außen zugetragen werden. Henstenberg gab den Kindern mehr Raum und Zeit, um den Folgen ihres ungünstigen Verhaltens auf die Spur zu kommen und ihre Bewegungsfreude zu entfalten.
6 Möglichkeiten entdecken
„Unsere Arbeit richtet sich nun gerade darauf, alle diese kleinen täglichen Sinnlosigkeiten, diese täglichen unbemerkten Behinderungen zu entdecken, kennenzulernen und zu lassen oder anders damit umzugehen. […] Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie wir uns während dieser Handlungen benehmen, was wir tun, wie wir stehen, wie wir uns verhalten. Jede Aufgabe bedeutet eigentlich ein ernstes Spiel“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 63, S. 3).
Diese Aussage eines erwachsenen Schülers beschreibt Auseinandersetzungen, die auch Kinder in Bewegungsstunden erleben. „Unsere Arbeit schafft Erfahrungsgelegenheiten, Gesetzmäßigkeiten in unserem Da-Sein zu erleben“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 63).

Wenn jedes Kind in einer Gruppe zeigt, wie es im Rhythmus gehen kann, und die anderen Kinder ihm dabei zuschauen, so entdecken sie, wenn jemand unkoordiniert, zu schnell oder zu langsam geht. Wenn Kinder Dinge tun, die sie wirklich interessieren, sind sie aufmerksamer bei einer Sache. Sie lernen dabei, für sich und ihr Tun Verantwortung zu übernehmen und gleichzeitig auf andere zu achten. Es entsteht eine freudvolle Atmosphäre gegenseitiger Achtung. Sie entdecken von selbst, wie das gemeinsame Klatschen den Läufer unterstützen kann, und umgekehrt wie der Läufer ihnen den Rhythmus für das Klatschen vorgibt. Im Mittelpunkt der Bewegungsstunden stehen die Interaktionen mit Kindern sowie die Zugehörigkeit und ein Miteinander zu erfahren. Sie erleben geteilte Freude.
„Wir wählen uns eine bestimmte Aufgabe, die nach unserem Ermessen für die Kinder notwendig wird. Wir formulieren sie so, dass sie den Kindern ‚Spaß‘ machen kann. Wir wählen die Gerätschaften so, daß sie den Kindern verlockend genug erscheinen, um damit ‚gern‘ zu experimentieren. Wir lassen sie dann selbstständige Versuche unternehmen indem einerseits ihre Interessen, andererseits ihre Konflikte zur Auswirkung kommen können“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 137, S. 135).
Wie wir den Kindern zugewandt sind, wie viel wir ihnen zutrauen und welches Vertrauen wir als Erziehende in unser eigenes pädagogisches Geschick haben, spielen dabei eine wesentliche Rolle. Es ist „ein Weg, der für die Weiterentwicklung des Kindes die größten Perspektiven eröffnet, und zwar auf ‚jedem‘ Gebiet!“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST 63). Das Phänomen, welchen Einfluss unsere Haltung auf die pädagogische Arbeit mit Kindern hat, kennen wir ja alle. Wenn wir selbst zur Ruhe kommen, lauschend Kinder wahrnehmen können, wie sie sich Fähigkeiten aneignen, verändert sich auch die Beziehung zu den Kindern und das gegenseitige Vertrauen.
Dem Körpererleben des Menschen kommt in der Bildung und Erziehung eine wichtige Bedeutung zu, unabhängig von philosophischen, weltanschaulichen und pädagogischen Konzepten. Viel wichtiger ist es danach zu fragen: „Wie lernen wir das Kind kennen, das Einzelne, unverwechselbare?“ (Fuchs 2004) Nur durch das Kind selbst. Dies gilt im Wesentlichen für die menschliche Bewegung.
7 Auf die Haltung kommt es an
In den letzten zwanzig Jahren hat bundesweit die Bewegungsarbeit von Elfriede Hengstenberg vor allem in Kindertagesstätten und Krippeneinrichtungen Resonanz erfahren. Was es heißt, heute eine Arbeitsweise weiterzuführen, die jemand anderes angefangen hat, ist wieder eine Forschungsarbeit. Es heißt, der rote Faden einer Geschichte wird heute von vielen Erzieher*innen in Kitas und Krippen wieder aufgenommen. Sie schreiben ihre eigenen Lerngeschichten. Elsa Gindler gab Friedel, wie sie sie nannte, den Rat:
„Jeder steht an seinem Platz, jeder an seiner Stelle, hinter ihm der Schwanz von Vergangenheit […] jeder steht vor einer Aufgabe, was wir tun können, kann nur ein Versuch sein“ (DIPF/BBF/Archiv: HENGST, TON 24).
Elfriede Hengstenbergs Erfahrungen sprechen aus dem Kanon einer neuen Bewegungskultur und schwingen im Rhythmus der 1920er-Jahre. Was damals vor allem wenige Frauen empirisch erforscht haben, ist heute fast lückenlos wissenschaftlich anerkannt. Das macht die Arbeitsweise so bedeutsam, weil Hengstenberg über Bewegung mit Kindern an ihren leiblichen, seelischen, geistigen und sozialen Beziehungsproblemen gearbeitet hat. Sie erkannte, wie bedeutsam es ist, das Umfeld, die Eltern und Lehrer*innen in die Arbeit mit einzubeziehen. Sie gab Elternkurse und Orientierungskurse für Lehrer*innen im Auftrag des Berliner Senats, um ihren Blick schulen zu können, mehr auf die Signale und Warnzeichen der Kinder zu achten. In diesem Sinne ist ihre Arbeitsweise ein integraler Baustein in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und kann als wegweisend auch in der Aus-, Weiter- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte angesehen werden. Zentral für die Bewegungsbildung nach Hengstenberg ist die „gute“ Haltung und das „stimmige“ Verhalten. Das betrifft alle Menschen, jeden einzelnen. Es kommt auf das „Wie“ der Begleitung an, das Miteinander und das unumstrittene Recht des Kindes auf Entfaltung, Teilhabe und Spiel.
8 Quellenangaben
Bolbrinker, Niels und Gerburg Fuchs, 2019. In Bewegung – Eine Filmreihe über die Bewegungsarbeit von Elfriede Hengstenberg [DVD]
DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, BBF | Bibliothek für Bildungs- geschichtliche Forschung – Archiv: Nachlass Elfriede Hengstenberg, HENGST FOTO 271 [online]. [Zugriff am: 26.11.2020]. Verfügbar unter: http://archivdatenbank.bbf.dipf.de/actaproweb/​archive.xhtml?id=Vz++++++1573DC97-021A-40FE-B794-ED460E5BC9CD#Vz______1573DC97-021A-40FE-B794-ED460E5BC9CD
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DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, BBF | Bibliothek für Bildungs- geschichtliche Forschung – Archiv: Nachlass Elfriede Hengstenberg, HENGST 137 [online]. [Zugriff am: 26.11.2020]. Verfügbar unter: http://archivdatenbank.bbf.dipf.de/actaproweb/​archive.xhtml?id=Vz++++++501B7FC6-B799-4B1A-B194-8DA4B8A35F18#Vz______501B7FC6-B799-4B1A-B194-8DA4B8A35F18
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DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, BBF | Bibliothek für Bildungs- geschichtliche Forschung – Archiv: Nachlass Elfriede Hengstenberg, HENGST 2 [online]. [Zugriff am: 26.11.2020]. Verfügbar unter: http://archivdatenbank.bbf.dipf.de/actaproweb/​archive.xhtml?id=Vz++++++DCA7D349-DB63-48FE-944C-64A8CD5CE6C2#Vz______DCA7D349-DB63-48FE-944C-64A8CD5CE6C2
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Robert Koch-Institut, [ohne Jahr]. KiGGS – Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland [online]. Berlin: Robert Koch Institut [Zugriff am: 26.11.2020]. Verfügbar unter: https://www.kiggs-studie.de/deutsch/​studie.html
9 Literaturhinweise
Hengstenberg, Elfriede, 1991. Entfaltungen: Bilder und Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern. Herausgegeben von Ute Strub. Heidelberg: Arbor-Verl. Valentin. ISBN 978-3-924195-07-6
Bolbrinker, Niesl und Gerburg Fuchs, 2019. In Bewegung – Eine Filmreihe über die Bewegungsarbeit von Elfriede Hengstenberg [DVD]
Gindler, Elsa, 2015. Neue Aufgaben der Körpererziehung: „… lauschen, wie die Bewegung verlaufen will“. Schriftenreihe, Band 5. Berlin: Heinrich Jacoby Elsa Gindler Stiftung. ISBN 978-3-9816474-4-0
Jacoby, Heinrich. 1991. Jenseits von „begabt“ und „unbegabt“: zweckmässige Fragestellung und zweckmässiges Verhalten. Hamburg: Christians Verlag. 4., überarb. Auflage. ISBN 978-3-7672-0711-0
Fuchs, Gerburg, 2004. Die Pädagogik des Lauschen. Weilheim: Edition Zwischentöne. ISBN 978-3-937518-16-9
Fuchs, Gerburg, 2011. Wer bist du? Blickschulung für die frühkindliche Entwicklung. Köln: Carl Link Verlag. ISBN 978-3-556-06137-4
Verfasst von
Gerburg Fuchs
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Zitiervorschlag
Fuchs, Gerburg,
2021.
Bewegungsbildung nach Hengstenberg [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 04.01.2021 [Zugriff am: 06.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/27975
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Bewegungsbildung-nach-Hengstenberg
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