Bewegungskindergarten
Prof. Dr. Renate Zimmer
veröffentlicht am 05.08.2024
Bewegungskindergärten zeichnen sich durch einen besonderen Stellenwert von Bewegung in der pädagogischen Konzeption, eine bewegungsfreundliche Raumgestaltung, vielseitige Bewegungsangebote für die Kinder und ein besonderes Qualifikationsprofil der pädagogischen Fachkräfte im Bereich Bewegungserziehung aus.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Geschichtlicher Hintergrund
- 3 Leitidee des Bewegungskindergartens
- 4 Die Bausteine des Bewegungskindergartens
- 5 Qualitätsmerkmale, Gütesiegel und Markenzeichen
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturempfehlungen
1 Zusammenfassung
Die aus der Initiative von Sportverbänden entstandenen „Sportkindergärten“ wurden im Zuge ihrer bundesweiten Verbreitung konzeptionell weiterentwickelt. In Anbetracht der Bildungspotenziale, die vor allem in den ersten Lebensjahren von Bewegung ausgehen, findet das Konzept des „Bewegungskindergartens“ immer weiter Verbreitung.
Zu den Kernmerkmalen des Bewegungskindergartens gehören die bewegungsgerechte Innen- und Außenraumgestaltung, die vielfältigen Bewegungsangebote für die Kinder und die explizite Verankerung von Bewegung im pädagogischen Konzept der Einrichtung.
In den Bundesländern wurden Qualitätssiegel und Gütekriterien entwickelt, die die Grundlage für eine Zertifizierung der Einrichtungen als „Bewegungskindergarten“ oder als „Bewegungsfreundliche Kita“ bilden.
2 Geschichtlicher Hintergrund
Die ersten Bewegungskindergärten sind aus der Kooperation von Vereinen und Kindertagesstätten oder aus der Initiative der Sportverbände hervorgegangen (1972). Inzwischen unterstützen und begleiten immer mehr Bildungs- und Kultusministerien die Impulse, die von der Bedeutung von Bewegung für die Gesundheit, aber auch für die Entwicklung und Bildung der Kinder ausgehen. Die Trägerlandschaft ist vielfältiger geworden: Neben dem organisierten Sport zeigen auch andere Träger der freien Jugendhilfe (Kirchen, Wohlfahrtsverbände), die Kommunen und vor allem private Träger Bereitschaft und Interesse daran, dass ihre Kindertageseinrichtungen ein bewegungsorientiertes Profil entwickeln (Schaffner 2004; Zimmer 2006, 2021).
Auch die Anzahl ist erheblich gestiegen: So sind allein in NRW bisher (Stand 2024) bereits fast 1000 Kindergärten mit dem Gütesiegel „Bewegungskindergarten“ ausgezeichnet worden.
Anstelle der in der Tradition der Sportvereine stehenden Bezeichnung „Sportkindergarten“ hat sich der Begriff „Bewegungskindergarten“ durchgesetzt. Daneben sind Bezeichnungen wie „Bewegungsfreundliche Kita“, „Bewegungsorientierte Kita“ oder die „Psychomotorische Kindertagesstätte“ zu finden (Lensing-Conrady 2019).
3 Leitidee des Bewegungskindergartens
In einem Bewegungskindergarten wird Bewegung als wesentliches Gestaltungsinstrument der pädagogischen Arbeit gesehen. Die Bedeutung von Bewegung als einem besonders wichtigen Medium der Entwicklungsförderung von Kindern wird ausdrücklich hervorgehoben und entsprechende Konsequenzen für die Raumgestaltung und die Qualität der Angebote gezogen. Bewegung wird so weit wie möglich im gesamten Tagesablauf berücksichtigt.
Wahrnehmung und Bewegung werden als elementare Erkenntnis- und Ausdrucksmöglichkeiten des Kindes betrachtet und in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit gestellt. Ziel ist es, Kindern mehr Raum für Bewegung und für Sinneserfahrungen zu verschaffen, ihre Bedürfnisse nach Aktivität und entdeckendem Lernen zu berücksichtigen und damit auch die Grundlagen für einen aktiven Lebensstil bereits in frühen Jahren zu schaffen (Ungerer-Röhrich et al. 2015; Voss 2019; Zimmer 2020).
Das pädagogische Konzept des Bewegungskindergartens basiert auf einem ganzheitlichen Verständnis von Bildung: Sinneserfahrungen werden als Grundlage kindlichen Handelns betrachtet (Zimmer 2019). Bewegungserfahrungen sind auch die Grundlage der kognitiven Entwicklung; sie sind Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung und den Aufbau motorischer Kompetenzen ebenso wie für den Erwerb sozial-emotionaler Kompetenzen (Hunger 2022).
4 Die Bausteine des Bewegungskindergartens
Ein Bewegungskindergarten setzt sich aus vielen verschiedenen Elementen zusammen, die auch als „Bausteine“ verstanden werden können. Diese Bausteine bestehen aus den vielfältigen Anlässen, Situationen und Möglichkeiten zur Bewegung, die den Kindern zur Verfügung gestellt werden sollen.
Zu den Bausteinen zählen insbesondere:
- regelmäßige Bewegungsangebote, die von den pädagogischen Fachkräften vorbereitet und betreut werden,
- situative und offene Bewegungsgelegenheiten, die sich im alltäglichen Spiel ergeben.
Voraussetzung hierfür ist eine Raumgestaltung, die Bewegung nicht nur zulässt, sondern sie geradezu herausfordert: Der Eingangsbereich des Kindergartens kann zur Bewegungsspielen einladen, Treppen, Flure und Nischen für Sinneserfahrungen und Bewegungsaktivitäten genutzt werden.
Das Außengelände erlaubt durch die Verfügbarkeit fest installierter Geräte zum Klettern, Rutschen, Schaukeln und Balancieren ebenso wie durch ein naturnah gestaltetes Gelände ausgedehnte grobmotorische Herausforderungen. Wichtig ist, dass der Außenbereich den Kindern jederzeit frei zugänglich ist.
Ein Bewegungskindergarten sollte auch Raum für Ruhe und Entspannung bieten, in denen sich die Kinder bei Bedarf zurückziehen können.
Ein wichtiger Baustein des Bewegungskindergartens ist die Zusammenarbeit mit den Eltern. Elternabende, die über die Bedeutung der Bewegung für die kindliche Entwicklung informieren, gemeinsame Spielnachmittage für Eltern und Kinder, Projekte, an denen Eltern sich beteiligen können, sollen dazu beitragen, dass Eltern das Konzept des Kindergartens mittragen und darüber hinaus auch im häuslichen Umfeld stärker als bisher die Bewegungsbedürfnisse der Kinder berücksichtigen.
Die Bausteine des Bewegungskindergartens werden gerahmt und verbunden durch die pädagogische Konzeption der Einrichtung. In ihr ist die gemeinsame pädagogische Grundorientierung festgeschrieben, sie enthält die pädagogischen Leitideen, die Leitung und Team möglichst in gemeinsamer Absprache erstellt haben und das auch den Eltern und der Öffentlichkeit die Profilbildung des Kindergartens transparent macht (Zimmer 2018, 2021).
5 Qualitätsmerkmale, Gütesiegel und Markenzeichen
Im Zuge der bundesweiten Verbreitung von Bewegungskindergärten befassen sich neben den Organisationen des Sports auch die Kultus- und Familienministerien der Bundesländer und weitere Institutionen und Fachgremien (Unfallversicherungen, Krankenkassen) mit der Frage nach Qualitätsstandards der Bewegungskindergärten. Auf dieser Basis wurden Kriterien erstellt, die für die Vergabe von Zertifikaten oder Gütesiegeln herangezogen werden. Die Kriterien umfassen (Schwarz 2017, Zimmer 2021):
- die Ausstattung mit Material
- die Gestaltung der Räume
- die Qualifikationen der pädagogischen Fachkräfte
- die Einbeziehung des Themas Bewegung in die Zusammenarbeit mit Eltern
In Nordrhein-Westfalen verleihen seit 1999 Landessportbund und Sportjugend bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen das Zertifikat Anerkannter Bewegungskindergarten des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen. Zu den Voraussetzungen für die Vergabe des Gütesiegels gehören folgende Kriterien:
- Der Träger des Kindergartens muss eine Kooperation mit einem ortsansässigen Sportverein eingehen, dem für die Leitung von Bewegungsangeboten speziell ausgebildete Übungsleiter:innen zur Verfügung stehen.
- Bewegungserziehung ist als Prinzip im pädagogischen Konzept der Einrichtung festgeschrieben.
- Die Leitung und mindestens ein:e Gruppenleiter:in je Gruppe müssen die Sonderausbildung Bewegungserziehung im Kleinkind- und Vorschulalter des Landessportbundes oder eine gleichwertige Ausbildung nachweisen; darüber hinaus muss die regelmäßige Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen zur Bewegungserziehung nachgewiesen werden.
- Voraussetzung ist, dass ein geeigneter Bewegungs- bzw. Mehrzweckraum und eine kindgerechte Geräteausstattung zur Durchführung von Bewegung, Spiel und Sport und/oder ein entsprechendes Außengelände im nahen Umfeld zur Verfügung stehen.
- Pro Kindergartenjahr werden mindestens zwei Elternabende mit Informationen über Bewegung, Spiel und Sport durchgeführt.
Sind diese Bedingungen erfüllt, kann ein Antrag auf Verleihung des Zertifikates gestellt werden. Nach positiver Beurteilung erhält die antragstellende Kindertagesstätte das Zertifikat Anerkannter Bewegungskindergarten und der kooperierende Sportverein die Anerkennung als Kinderfreundlicher Sportverein (Buchwald-Röser und Lehmann 2016).
Auch in fast allen anderen Bundesländern gibt es Initiativen und Projekte zur Vergabe von Gütesiegeln und Markenzeichen Bewegter Kindergarten. Die Kriterien zur Zertifizierung sind bundesweit unterschiedlich (Schwarz 2017). Nicht immer ist die Kooperation mit einem Sportverein erforderlich. Auch sind besondere Schwerpunktsetzungen wie z.B. die psychomotorische Förderung der Kinder zu finden (Lensing-Conrady 2019).
Für die Einschätzung der äußeren Rahmenbedingungen der Bewegungserziehung in einer Kindertageseinrichtung können die Kriterien gute Anhaltspunkte geben, ob diese dann aber auch wirklich optimal im Sinne einer ganzheitlichen Förderung der Kinder genutzt werden, hängt noch von weiteren wichtigen Faktoren ab. Dazu gehören z.B.:
- die bewegungspädagogische Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte,
- Einstellungen und Haltungen der Fachkräfte gegenüber den Bewegungsbedürfnissen der Kinder,
- das Einfühlungsvermögen der Fachkräfte und die Fähigkeit, auch leistungsschwächere Kinder zu ermutigen,
- die Sensibilität der Fachkräfte für das Aufgreifen situativer Bewegungsanlässe und deren Nutzung für die Verbindung mit anderen Bildungsbereichen – wie z.B. das Erkennen von Anlässen für eine ganzheitliche Sprachbildung und Sprachförderung.
6 Quellenangaben
Buchwald-Röser, Angela und Beate Lehmann, 2016. Gütesiegel Anerkannter Bewegungskindergarten des Landessportbundes Nordrhein- Westfalen e.V. Leitfaden für die pädagogische Schwerpunktsetzung „Bewegungsförderung“ in Kindertageseinrichtungen [online]. Duisburg: Landessportbundes Nordrhein- Westfalen e.V [abgerufen am 17.07.2024]. Verfügbar unter: https://www.kita.nrw.de/system/​files/​media/​document/file/D_Bewegungsfo%CC%88rderung_in_der_KiTa_Broschuere_Guetesiegel_0.pdf
Hunger, Ina, 2022. Bewegung im Kontext frühkindlicher Bildung und Gesundheitsförderung. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WIFF Expertisen, Band 54. München
Lensing-Conrady, Rudolf, 2019. Die psychomotorische Kindertagesstätte. Dortmund: modernes lernen. ISBN 978-3-8080-0857-7
Schaffner, Karin, 2004. Der Bewegungskindergarten. Schorndorf: Hofmann. ISBN 978-3-7780-7028-4
Schwarz, Rolf, 2017. Bewegung und Bildung im Kindergarten: Die BeBi--Studie. Schorndorf: Hofmann. ISBN 978-3-7780-4930-3
Ungerer-Röhrich, Ulrike, Verena Popp und Sonja Quante, 2015. Bildung durch Bewegung. Berlin: Cornelsen. ISBN 978-3-5892-4859-9
Voss, Anja, 2019. Bewegung und Sport in der Kindheitspädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-1702-8440-1
Zimmer, Renate, 2006. Alles über den Bewegungskindergarten. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-4512-9198-2
Zimmer, Renate, 2018. Zum pädagogischen Profil des Bewegungskindergartens. In: Michaela Rißmann, Hrsg. Didaktik in der Kindheitspädagogik. Köln: Wolters Kluwer. S. 54 – 66 ISBN 978-3-5560-7190-8
Zimmer, Renate, 2019. Handbuch Sinneswahrnehmung: Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung und Bildung. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-4513-8570-4
Zimmer, Renate, 2020. Handbuch Bewegungserziehung: Grundlagen für Ausbildung und pädagogische Praxis. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-4513-8602-2
Zimmer, Renate, 2021. Der Bewegungskindergarten: Pädagogische Konzepte auf einen Blick. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-4513-9270-2
7 Literaturempfehlungen
Lensing-Conrady, Rudolf (2019). Die psychomotorische Kindertagesstätte. Dortmund: modernes lernen. ISBN 978-3-8080-0857-7
Zimmer, Renate (2021). Der Bewegungskindergarten. Pädagogische Konzepte auf einen Blick. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-4513-9270-2
Verfasst von
Prof. Dr. Renate Zimmer
Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt „Frühe Kindheit“.
Sie lehrte und forschte als Professorin für Sport- und Bewegungswissenschaft an der Universität Osnabrück. Zudem ist sie Mitbegründerin des Niedersächsischen Instituts für Frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) und war bis 2018 dessen Direktorin.
Mit mehr als 60 Fachbüchern zum Thema Kindheit, als Initiatorin und Leiterin internationaler Kongresse „Bewegte Kindheit“ und in der Begleitung vieler Projekte setzt sie sich seit über 40 Jahren für die Verbesserung der Lebensbedingungen und Bildungschancen von Kindern ein.
Aktuell leitet sie das von ihr gegründete Institut Bewegte Kindheit.
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Renate Zimmer.
Zitiervorschlag
Zimmer, Renate,
2024.
Bewegungskindergarten [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 05.08.2024 [Zugriff am: 14.12.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/27684
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Bewegungskindergarten
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