Beziehung
Prof. Dr. Michael Glüer
veröffentlicht am 19.12.2024
Eine Beziehung ist ein System von Interaktionen zwischen zwei Personen, die sich durch ihre Handlungen wechselseitig beeinflussen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffsbestimmung
- 3 Typologie von Beziehungen
- 4 Beziehungen nach Lebensalter
- 5 Qualität von Beziehungen
- 6 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Über verschiedene Wissenschaftsdisziplinen und Theorien hinweg lässt sich eine persönliche Beziehung als ein System von Interaktionen zwischen zwei Personen definieren, welche eine Interdependenz erzeugt. Persönliche Beziehungen sind zudem einzigartig, wechselseitig, dynamisch und basieren auf mentalen Repräsentationen in den Beziehungspartner:innen. In der Frühpädagogik werden familiäre, institutionelle und Peer-Beziehungen unterschieden. Zwei Theorien haben sich bei der Bestimmung von Beziehungsqualität in der Frühpädagogik behauptet: die Bindungstheorie und das Beziehungsqualitätsmodell nach Pianta.
Beim Begriff der Beziehung handelt es sich um einen Alltagsbegriff, den wir tagtäglich nutzen, um zum Ausdruck zu bringen, dass wir in Verbindung mit einer Person stehen. Im Alltag können wir allerdings unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wann es sich um eine Beziehung handelt. Eine Person A mag annehmen, dass sie eine Beziehung zu einer anderen Person B hat, während die Person B davon ausgeht, keine Beziehung zu haben. Zudem können sich die Personen darin unterscheiden, wie sie eine Beziehung bewerten. Unterschiedliche Wahrnehmungen und Einschätzungen machen es schwierig, eine einheitliche Definition von Alltagsbegriffen zu finden.
Aus Perspektive der Wissenschaft ist es zudem problematisch, dass der Beziehungsbegriff in unterschiedlichen Forschungsdisziplinen beschrieben wurde. Der Beziehungsbegriff wird bspw. genutzt, um Verbindungen in der Arbeitswelt zu beschreiben oder um eine Beziehung aus soziologischer, sozialpädagogischer, psychologischer oder auch frühpädagogischer Perspektive zu bestimmen. Selbst in den Naturwissenschaften wie der Physik spielt der Begriff eine Rolle, wenn es beispielsweise darum geht, zwei Objekte zu beschreiben, die sich gegenseitig beeinflussen und damit in Beziehung zueinanderstehen. Im Folgenden wird eine sozialwissenschaftliche Begriffsbestimmung für interpersonelle Beziehungen vorgenommen, um anschließend den Beziehungsbegriff und dessen Bedeutung für die Frühpädagogik darzustellen.
2 Begriffsbestimmung
Unter einer Beziehung wird ein System von Interaktionen zwischen zwei Personen verstanden, wobei sich die Personen durch ihre Handlungen wechselseitig beeinflussen (Perlman und Vangelisti 2018).
Während eine Interaktion einzelne oder mehrere wechselseitige unabhängige Handlungen beinhalten kann, besteht innerhalb einer Beziehung eine gegenseitige Einflussnahme über mehrere Interaktionen hinweg (Bersheid und Regan 2005). Eine vorherige Interaktion beeinflusst in einer Beziehung eine darauffolgende Interaktion und erzeugt damit eine Interdependenz beider Personen (Perlman und Vangelisti 2018). Eine Beziehung ist daher als ein System zu bezeichnen, da eine Veränderung im Verhalten von Person A eine Veränderung im Verhalten von Person B und umgekehrt verursacht (Bersheid und Regan 2005).
Die oben aufgeführte Begriffsbeschreibung stellt eine Minimaldefinition dar. Eine vorhandene Interaktion ist eine notwendige Voraussetzung, aber keine ausreichende Bedingung, um von einer persönlichen Beziehung zu sprechen. Weiterhin definiert sich eine Beziehung aufgrund ihrer (1) Einzigartigkeit, der (2) Wechselseitigkeit, der (3) Bildung mentaler Repräsentationen und der (4) Veränderbarkeit (Bersheid und Regan 2005; Finkel, Simpson und Eastwick 2017).
- Eine Beziehung ist einzigartig, da sich durch die spezifischen Interaktionen zweier Personen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Motivationen verschiedene Fähigkeiten, Situationen und Erlebnisse ergeben. Personen teilen innerhalb einer Beziehung Interaktionserfahrungen, die sie nur innerhalb dieser Personenkonstellation aufgrund der gegebenen Eigenschaften, Motivationen etc. erfahren. Beispielsweise kann ein Kind besonders mit seinem Vater Freude daran haben zu klettern, da die Eigenschaft des Vaters, das Kind beim Klettern im richtigen Moment zu unterstützen, beim Kind Freude auslöst. Ein Jugendlicher mag nur mit einem bestimmten Freund neue Ideen für seinen Videoblog entwickeln, da die Denkweise des Freundes die eigene ergänzt. Persönliche Beziehungen können dadurch von wiederholenden Interaktionen, wie sie bspw. in sozialen Rollen in der Gesellschaft vorkommen, abgrenzt werden. Eine alltägliche Interaktion zwischen einer Kassiererin und einem Kunden in einem Supermarkt stellt keine persönliche Beziehung dar, da die Inhalte und Abläufe dieser Interaktion nicht durch die Einzigartigkeit der beteiligten Personen definiert werden und auch kein einzigartiges Wirken beider Personen hervorbringen.
- Die Wechselseitigkeit einer Beziehung führt dazu, dass eine Beziehung immer zwischen zwei Personen verankert ist. Personen, die in einer Beziehung sind, können gemeinsam als Einheit agieren. Eine Beziehung beinhaltet aber auch jeweils die Perspektive von Person A und Person B. Daher kann eine Beziehung mit einem Fokus auf die Wechselseitigkeit (die Beziehung erscheint für Außenstehende herzlich) als auch aus Perspektive von Person A (Person A empfindet die Beziehung als herzlich) und B (Person B empfindet die Beziehung als herzlich) betrachtet werden.
- Personen, die in einer Beziehung sind, bilden eine mentale Repräsentation der Interaktionsgeschichte. Dadurch kann eine Beziehung auch dann existent sein und eine Interdependenz erlebt werden, wenn gerade keine Interaktion stattfindet. Bspw. kann eine romantische Beziehung bestehen, auch wenn der Partner oder die Partnerin in der Ferne lebt und Interaktionen über längere Phasen ausbleiben. Ein Kind weist auch dann mit der Mutter eine persönliche Beziehung auf, wenn diese den Raum verlassen hat.
- Beziehungen sind zudem dynamisch. D.h. sie befinden sich in einem andauernden Veränderungsprozess, der sich durch die Personen selbst (z.B. zunehmende Erfahrung), der Relationalität der Beziehung (Wechselseitigkeit von Person A und B) und des Kontextes (neue Lebensumstände) ergeben. Dies betont nochmals die Systemeigenschaft einer persönlichen Beziehung, welche sich durch wechselseitige Einflüsse der Personen und des Kontextes verändert.
3 Typologie von Beziehungen
In der Beziehungsforschung gibt es unterschiedliche Vorgehensweisen, um Beziehungstypen zu unterscheiden (Koerner 2008). Beziehungen können etwa nach ihrer Beziehungsstruktur (z.B. Stieftochter und Stiefvater), dem Beziehungsziel (Erbringung einer Leistung durch Arbeitskolleg:innen) oder anhand des Beziehungsverlaufs (schädlich oder unterstützend) kategorial unterschieden werden. Ebenfalls können Beziehungen in ihrer qualitativen Ausprägung nach unterschiedlichen Dimensionen bewertet werden (siehe Qualität von Beziehung). Eine Beziehung kann bspw. anhand der Dimension Intimität, mit einer hohen und geringen Ausprägung beschrieben werden. Im Alltag und in der praktischen Arbeit der Frühpädagogik werden Beziehungstypen häufig anhand des Kontextes (bspw. Familie oder Schule) und der beteiligten Personen (Freund:innen, Großeltern) bestimmt. Für die Frühpädagogik sind insbesondere die folgenden Beziehungstypen von Bedeutung: Eltern-Kind-Beziehungen, Fachkraft-Kind-Beziehungen, Fachkraft-Eltern-Beziehungen, Geschwisterbeziehungen, Peer-Beziehungen, romantische Beziehungen (bspw. der Eltern) als auch kollegiale Beziehungen der Fachkräfte.
4 Beziehungen nach Lebensalter
Die Beziehungen eines Kindes sind abhängig vom Lebensalter. Mit zunehmender Reifung, kognitiver, emotionaler, sozialer und motorischer Entwicklung ändern und erweitern sich die Beziehungstypen. Im Kleinkindalter sind die Beziehungen überwiegend auf das familiäre System begrenzt. Mit dem Eintritt in die Krippe, Kindergarten und Schule nehmen Peer-Beziehungen, Freundschaftsbeziehungen und Kind-Fachkräftebeziehungen an Bedeutung zu. Die Beziehungen werden mit fortschreitender Entwicklung zunehmend komplexer, wie etwa bei Freundschaftsbeziehungen im Jugendalter, die zur Konsolidierung und Erweiterung der eigenen Identität beitragen (Selman 1984).
5 Qualität von Beziehungen
Innerhalb der Frühpädagogik dominieren zwei Theorien, welche die kindliche Beziehungsqualität erklären und sich auf die Eltern-Kind- und Fachkraft-Kind-Beziehung fokussieren:
- die Bindungstheorie nach John Bowlby (1969) und
- das Beziehungsqualitätsmodell nach Pianta (1999)
(Glüer 2017).
Während die Bindungstheorie die Qualität der Beziehung aus Perspektive des Kindes betrachtet (die Bindungsqualität des Kindes zur Bezugsperson), fokussiert das Modell nach Pianta (1999) die Beziehungsperspektive des Kindes zur Bezugsperson, der Bezugsperson zum Kind und die Wechselseitigkeit der Beziehung. Innerhalb der Bindungstheorie wird angenommen, dass sich die Qualität der Beziehung eines Kindes zur Bezugsperson darin unterscheidet, inwiefern es durch die Bezugsperson Sicherheit erfährt und dadurch Vertrauen in sich, die Bezugsperson und die Welt entwickelt (Glüer i.E.). Hierbei wird vorwiegend kategorial zwischen einer sicheren und unsicheren Bindungsqualität unterschieden. Im Beziehungsqualitätsmodell nach Pianta wird die Qualität anhand der Ausprägung an emotionaler Nähe, Konflikt und Abhängigkeit erfasst (Glüer und Gregoriadis 2016). Während emotionale Nähe für eine hohe Beziehungsqualität spricht, verweisen häufige Konflikte und starke Abhängigkeit des Kindes auf eine geringe Beziehungsqualität (Glüer 2017).
6 Quellenangaben
Berscheid, Ellen und Pamela Regan, 2005. The Psychology of Interpersonal Relationships. Upper Saddle River, NJ: Psychology Press. ISBN 978-0-13-183612-9
Bowlby, John, 1969. Attachment. Attachment and loss, Vol. 1. New York: Basic Books
Finkel, Elli J., Jeffry A. Simpson und Paul W. Eatwick, 2017. The psychology of close relationships: 14 core principles. In: Annual Review of Psychology. 68(1), S. 383–411. ISSN 0066-4308
Glüer, Michael, 2017. Bindungs- und Beziehungsqualität in der KiTa: Grundlagen und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-026016-0 [Rezension bei socialnet]
Glüer, Michael und Athanasios Gregoriadis, 2017. Quality of teacher-child relationship and preschoolers’ pro-social behaviour in German kindergartens. In: Education 3–13. 45(5), S. 558–571. ISSN 0300-4279
Glüer, Michael [im Erscheinen]. Bindung. In Irene Diettrich und Edeltraud Botzum, Hrsg. Lexikon Kita-Management. Köln: Carl Link Verlag. ISBN 978-3-556-09832-5
Koerner, Ascan, 2018. Relationship Typologies. In: Anita L. Vangelisti und Daniel Perlman, Hrsg. The Cambridge Handbook of Personal Relationships. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press, S. 65–76. ISBN 978-1-107-13026-5
Perlman, Daniel und Anita L. Vangelisti, 2018. Personal Relationships: An introduction. In A. L. Vangelisti & Perlman, L., Hrsg. The Cambridge Handbook of Personal Relationships. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1–5. ISBN 978-1-107-13026-5
Pianta, Robert C., 1999. Enhancing relationships between children and teachers. 2. Auflage. Washington, D. C.: American Psychological Association. ISBN 978-1-55798-542-2
Selman, Robert L., 1984. Die Entwicklung des sozialen Verstehens: Entwicklungspsychologische und klinische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. ISBN 978-3-518-57693-9
Verfasst von
Prof. Dr. Michael Glüer
Fachbereich Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften
Arbeitsbereich Entwicklungspsychologie und Forschungsmethoden
Fachhochschule Südwestfalen
Website
Mailformular
Es gibt 2 Lexikonartikel von Michael Glüer.
Zitiervorschlag
Glüer, Michael,
2024.
Beziehung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 19.12.2024 [Zugriff am: 18.01.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/324
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Beziehung
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.