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Bildungschancen

Flora Petrik, Tamara Schwertel

veröffentlicht am 11.08.2020

Bildungschancen bezeichnen die Möglichkeiten von Personen, an Bildung teilzuhaben. Meist werden Bildungschancen im Kontext sozialer Ungleichheiten diskutiert und die Benachteiligung bestimmter Personengruppen (Frauen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderung etc.) thematisiert. 

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Historische Entwicklung
  3. 3 Aktuelle Forschungsperspektiven
  4. 4 Erfassung von schulischen Bildungschancen
  5. 5 Indikatoren für Bildungschancen jenseits der Schule
  6. 6 (Un-)Gleiche Bildungschancen
    1. 6.1 Habitus, Milieu und kulturelle Reproduktion
    2. 6.2 Intersektionalität
  7. 7 Kritische Perspektiven: Illusion gleicher Bildungschancen
  8. 8 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Bildungschancen sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts zentraler Gegenstand bildungspolitischer Debatten und soziologischer sowie erziehungswissenschaftlicher Forschung. Die Erhöhung von Bildungschancen in der Bevölkerung gilt als Ziel zahlreicher Bildungsreformen der letzten fünfzig Jahre. Historisch lässt sich aufzeigen, dass die allgemeine Teilhabe an Bildung zwar durch die Öffnung von Bildungsinstitutionen erhöht wurde, die Unterschiede zwischen Gesellschaftsschichten dadurch jedoch nicht verringert wurden (Habitus, Fahrstuhleffekt). Empirisch werden Bildungschancen heute im internationalen Vergleich mit Schulleistungsuntersuchungen (PISA), Forschung zu Chancengleichheit im Bildungssystem (OECD) oder Messungen von Wohlstand und Armut (UNICEF) erhoben. Die Verteilung von Bildungschancen wird in diesem Sinne meist im Kontext sozialer Ungleichheitsforschung thematisiert. Zwei aktuell zentrale Perspektiven zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildungschancen sind dabei sozialwissenschaftliche Analysen in Anschluss an Bourdieu (Habitus, Milieu) und Perspektiven der Intersektionalitätsforschung. Sie lassen sich als kritische Antwort auf Theorien rationaler Bildungswahl (Rational Choice Theorie) verstehen.

2 Historische Entwicklung

Insbesondere durch die Bildungsreformen in den 1960er- und 1970er-Jahren geriet der Begriff Bildungschancen im Sinne der Chancengleichheit, an Bildung teilzuhaben, in den Fokus des öffentlichen Interesses und politischer Interventionen (Geißler und Weber-Menges 2010, S. 155 f.). Reformen zielten in Folge darauf ab, der Ungleichverteilung von Bildungschancen entgegenzuwirken und Demokratisierung voranzutreiben. Gleichzeitig waren diese Reformen eine Antwort auf den als zu gering eingeordneten Bildungsgrad in der deutschen Bevölkerung („Bildungskatastrophe“; Picht 1964). Stimmen wie jene Georg Pichts und Ralf Dahrendorfs verdeutlichen, dass Bildungschancen nicht nur als Mittel der Demokratisierung und Bekämpfung von Ungleichheit verhandelt wurden, sondern auch zur Produktivitätssteigerung im internationalen Vergleich beitragen sollten (Picht 1964; Dahrendorf 1965b).

Als Maßnahmen wurden unter anderem in diesen Jahren in Deutschland eine länderübergreifende Vereinheitlichung der Schulsysteme (Hamburger Abkommen 1964), und der Ausbau sowie Gründungen von Hochschulen beschlossen, was die Bildungschancen schichtübergreifend verbessern und zu mehr Gerechtigkeit beitragen sollte. Im Jahr 1969 veranlasste die Große Koalition zudem eine Erweiterung des Grundgesetzes, in dem von nun an eine Regelung der Ausbildungsbeihilfe durch den Bund festgelegt wurde. Außerdem trat 1971 das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) zur Förderung von Studierenden in Kraft, welches sich von dem vorangegangenen Honnefer Modell (1957) unterschied, indem nicht gute Leistungen, sondern das Einkommen der Eltern über die Förderung entschied. Auch diese Maßnahme sollte die Bildungsungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Schichten verringern, indem bildungsschwächere Haushalte finanziell gefördert wurden und so der Zugang zu Bildung für alle geschaffen werden sollte. Daran schloss sich die Oberstufenreform (1972) an, die durch ein Kurssystem die Verwissenschaftlichung des Schulunterrichts und damit das Bildungsniveau länderübergreifend zu steigern versuchte. So sollte der Übergang in die Hochschule erleichtert werden. 1977 trat der Öffnungsbeschluss an Hochschulen in Kraft, der sowohl die Studierendenzahl steigerte, indem nun nur durch den Numerus clausus der Zugang zu Hochschulen reguliert wurde. Zentrale soziologische Arbeiten aus dieser Zeit sind Georg Pichts „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ (1964) und Ralf Dahrendorfs Arbeiten „Arbeiterkinder an deutschen Universitäten“ (1965a) und „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965b), die in schlechten Bildungschancen eine Gefährdung der Demokratie und der Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich sahen.

Der enge Austausch zwischen Bildungsforschung und Politik hat das deutsche Bildungswesen grundlegend geprägt: so löste die erste PISA-Studie (2000) zahlreiche, bis heute wirksame Reformen und Debatten aus (Raidt 2014). Unter anderem dienten die Ergebnisse der PISA-Studie als Grundlage für zentrale Reformen der Sekundarstufe, die mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem anstreben, wie beispielsweise der Trend vom drei- zum zweigliedrigen Schulsystem. Ebenso wurden Kindergärten als zentrale Bildungsorte aufgewertet und in das Bildungssystem integriert, das Gymnasium auf acht Jahre Schulzeit reduziert, Diskussionen um die Einführung von Ganztagsschulen und die Rolle der Jugendhilfe für die schulische Bildung neu entfacht (Tillmann 2015). Gleichzeitig wurden neue Werkzeuge der Evaluation eingeführt, zum Beispiel (länder-)übergreifende Bildungsstandards, verbindliche Bildungsberichterstattungen und neue Bildungspläne. An diese Entwicklungen schließt die Reform „inklusiver Bildungssysteme“ (2008) an, die beansprucht, Bildungssysteme als Antwort auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung inklusiver zu gestalten und den Zugang zu gleichen Bildungschancen über gemeinsame Beschulung zu ermöglichen. So zeigt sich in den vergangenen Jahren eine zunehmende Expansion von Bildungschancen, die auch darin Ausdruck findet, dass immer mehr Menschen in Deutschland das Abitur erreichen und den Weg an die Hochschule einschlagen: Während im Jahr 1960 lediglich sechs Prozent (einer Jahrgangskohorte) ein Universitätsstudium in (West-)Deutschland antraten, liegt die Studienanfänger*innenquote im Jahre 2018 bei 56 Prozent (Statistisches Bundesamt 2019). Trotz dieser Expansion des Bildungswesens zeigen sich immer noch große Differenzen zwischen den Bildungschancen unterschiedlicher sozialer Gruppen (Möller et al. 2020).

3 Aktuelle Forschungsperspektiven

Die Erweiterung von Bildungschancen und die Förderung von Chancengleichheit spielt auch Jahre nach dem Hoch der Reformen eine zentrale Rolle in den Sozialwissenschaften. Immer mehr Bildungsorte geraten in den letzten Jahren als Räume der Produktion von Bildungschancen in den Blick: Neben den klassischen formellen Bildungsorten der Schule und der Hochschule werden immer mehr der Kindergarten und auch nicht-institutionalisierte Orte der Bildung, wie die Familie, Peers, Verbände und Vereine, auf die Herstellung von Bildungschancen untersucht (Krüger und Rabe-Kleberg 2013). Während in der deutschen Bildungsforschung wenig Auseinandersetzung mit der Herstellung von Bildungschancen im außer- und vorschulischen Bereich stattfindet, gibt es zahlreiche empirische Arbeiten zur Untersuchung von Bedingungen und Ursachen ungleicher Bildungschancen in der Schulforschung. Unterschiedliche Studien erheben dazu im internationalen Vergleich jährlich Statistiken, wie etwa die PISA-Studie, die UNICEF-Studie und die OECD-Studie

4 Erfassung von schulischen Bildungschancen

Die PISA-Studie wird seit dem Jahr 2000 international mit dem Fokus darauf durchgeführt, inwieweit Schulen eine „funktionale Grundausbildung“ liefern. Darunter wird die Vermittlung von alltags- und berufsrelevanten Kenntnissen und Fähigkeiten verstanden, die als Ausgangsbedingung für langfristige Bildungschancen betrachtet werden (Reiss et al. 2019). Dieses Forschungsziel ist untergliedert in die Untersuchung (1) der Anwendbarkeit von Bildung, um die Teilhabe an gesellschaftlichem Leben zu ermöglichen und (2) der Anschlussfähigkeit der Kompetenzen im Sinne persönlicher und bildungsbiografischer Weiterentwicklung (Lebenslanges Lernen). Dafür werden bspw. Lesekompetenzen, naturwissenschaftliche und mathematische Kompetenzen erfasst. Bildungschancen werden hier unter Einbezug verschiedener Faktoren gemessen, wie der Sozialen Herkunft, dem Geschlecht und dem Bundesland. Deutschland weist in der PISA-Studie 2018 ein hohes Bildungsniveau auf und liegt im oberen Drittel der OECD-Länder (Reiss et al. 2019). Innerhalb von Deutschland erweisen sich regionale Verschiedenheiten als wichtige Determinante von Bildungschancen, insbesondere im Vergleich der alten und neuen Bundesländer, aber auch zwischen Ländern, Regionen sowie einzelnen Städten und Kommunen. Die Literatur verweist v.a. auf die Bedeutung von Gemeindegrößen und ihrer geografischen Verortung, beispielsweise in Hinblick auf die Erreichbarkeit weiterführender Schulen (Gomolla und Radtke 2009, S. 238).

Für die Erfassung von Bildungschancen in Deutschland ist insbesondere der nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“ relevant. Dieser erhebt alle 2 Jahre „Leistungen und Herausforderungen in den verschiedenen Bereichen des deutschen Bildungssystems“, zuletzt mit dem Fokus auf Bildung(schancen) und Digitalisierung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020).

5 Indikatoren für Bildungschancen jenseits der Schule

In der OECD-Erhebung werden Bildungschancen auch über Indikatoren wie Bildungserträge, Bildungszugänge, Bildungsbeteiligung und Bildungsverläufe erfasst (OECD 2018). Dazu zählen bspw. (Aus-)Bildungsabschlüsse, die Erfassung des Übergangs von (Aus-)Bildungssystemen ins Erwerbsleben, der Einfluss vom Bildungsstand auf die Erwerbsbeteiligung, sowie Chancen an Fort- und Weiterbildung. Zentral sind dabei Fragen danach, wer in welchem Umfang an Bildung teilnimmt, welche Personen Ausbildungen abschließen und wie sich soziodemografische Faktoren auf ungleiche Bildungschancen auswirken. Bemerkenswert ist hierbei eine Verschiebung von Bildungschancen im Laufe der Zeit zwischen verschiedenen Ungleichheit generierenden Strukturkategorien (Möller et al. 2020): Während in den 1960er-Jahren die historische Figur der „katholischen Arbeitertochter vom Lande“ (Dahrendorf 1965b) sinnbildlich für jene soziale Gruppe stand, die am ehesten von Bildung ausgeschlossen wurde, ist es nun vielmehr der „Migrantensohn aus bildungsschwacher Familie“ (Geißler 2008) im städtischen Brennpunktbezirk, der zum Symbol für Bildungsbenachteiligung wurde. Obwohl sich die Merkmalskonstellationen (Geschlecht, Stadt/Land etc.) verändern, bleibt die soziale Herkunft ein wirkmächtiger Indikator für Bildungschancen.

6 (Un-)Gleiche Bildungschancen

Ungleiche Bildungschancen lassen sich vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte unterschiedlich betrachten. So liegt eine Vielzahl an theoretischen Perspektiven und Befunden vor, die die ungleiche Verteilung von Bildungschancen zu erklären versuchen. Ein dominierendes sozialwissenschaftliches Erklärungsmodell, auf das insbesondere in quantitativen Forschungssträngen zurückgegriffen wird, ist jenes der rationalen Bildungswahl (Rational Choice Theorie) in Anschluss an Raymond Boudon (1974). Angelehnt an ökonomische Humankapitaltheorien werden dabei ungleiche Bildungsverläufe, zum Beispiel die Entscheidung für oder gegen den Besuch der Universität, primär als Resultate individueller Entscheidungen, rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen innerhalb der Familie und der Evaluation von Erwartungen bei Bildungsentscheidungen, verstanden. Zwar kann so das Fortbestehen von relativen Bildungsprivilegien erklärt werden. Allerdings bleibt der Blick auf gesellschaftliche Strukturen, soziale Mechanismen und institutionelle Benachteiligungsprozesse außen vor. Durch die Reduktion auf individuelle Entscheidungen im Sinne der Rational-Choice-Ansätze wird die Verantwortung für ungleiche Bildungschancen nicht im System, sondern in den Subjekten selbst und ihren Familien verortet.

Im Folgenden sollen exemplarisch zwei Erklärungsansätze dargestellt werden, die sich kritisch auf die ideologischen Grundlagen der Rational-Choice-Theorie beziehen. Die Theorie kultureller Reproduktion nach Bourdieu und Ansätze der Intersektionalitätstheorie lassen sich als kritische Antwort auf Boudons Befunde verstehen, da sie die Selbstverständlichkeit individueller Verantwortung angesichts sozialer Ungleichheiten infrage stellen und institutionelle und strukturelle Wirkmechanismen ins Zentrum der Debatte rücken.

6.1 Habitus, Milieu und kulturelle Reproduktion

Pierre Bourdieus Habitus-Feld-Theorie (1982), sowie seine Analysen verschiedener Kapitalsorten geben Aufschluss über das Zusammenspiel zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen. Bourdieus These ist: Je geringer der Bildungsstatus der Eltern, desto schwerer haben es deren Kinder in (weiterführenden) Bildungsinstitutionen. Die Chance eines Kindes auf Bildungserfolg ist nach Bourdieu „eine Funktion seiner sozialen Klasse“ (Bourdieu 2001, S. 20), und nicht auf persönliche Begabung zurückzuführen. Besonders drastisch lässt sich das am Beispiel der Hochschule zeigen: Die Zahl derjenigen Studierenden ohne akademischen Hintergrund, die ihr Studium abbrechen, ist im Vergleich zu Studienabbrecher*innen aus anderen Milieus deutlich höher. 

In Anschluss an Bourdieu sind Bildungsentscheidungen und Bildungsprozesse – im Unterschied zu Rational-Choice-Ansätzen aus der Handlungstheorie (Boudon 1974; Goldthorpe 2000) – nicht nur an materielle Ressourcen (ökonomisches Kapital) und institutionelle Bedingungen (z.B. Zulassungsbarrieren) geknüpft, sondern auch an soziokulturelle Mechanismen, die über Privilegierung und Benachteiligung mitentscheiden. Das kulturelle Kapital, also die Bildung, die Menschen erworben haben, hat Einfluss auf die individuellen Bildungschancen, genauso wie die potenziell einflussreichen Beziehungen, die man in seinem Leben aufgebaut hat (soziales Kapital) und wie Menschen sprechen, sich verhalten und ausdrücken (symbolisches Kapital).

Der milieugebundene Herkunftshabitus, der in der Familie ausgebildet wird, – die „Haltung“ gegenüber sich selbst und der Welt, von politischen Einstellungen bis hin zu Geschmack, Redeweise und Körperhaltung oder Bildungsverständnis – kann dem an der Bildungsinstitution erwarteten und geforderten Habitus entsprechen oder widersprechen. Der „falsche“, „unpassende“ Habitus kann dort Nicht-Verstehen und Nicht-verstanden-Werden erzeugen. Über diese scheiternde Passung und daraus folgende negative institutionelle Bewertungen (z.B. Schulnoten) werden Milieustrukturen und darüber soziale Ungleichheiten reproduziert. Fehlende habituelle Passung birgt außerdem das Risiko für Fremdheitsgefühle und kann schließlich sogar zur „Selbsteliminierung“ (Bourdieu und Passeron 1971) führen, also dem freiwilligen Ausscheiden aus der Bildungsinstitution, da man sich nicht „zu Hause“ fühlt.

Bildungschancen lassen sich mit Bourdieu demnach als sozial „vererbt“ verstehen – nicht nur in Hinblick auf finanzielle Ressourcen, die Bildung ermöglichen, sondern auch in Bezug auf ungleiche soziale und kulturelle „Startkapitalien“.

6.2 Intersektionalität

Ein weiteres Konzept zur Betrachtung der Verteilung von Bildungschancen ist jenes der Intersektionalität. Historisch hat sich die Intersektionalitätsdebatte in den 1970er-Jahren aus der Kritik schwarzer Frauen an einem weißen, westlichen Mittelschichtsfeminismus entwickelt, der ihre sowohl von Rassismus als auch Sexismus geprägten Erfahrungen nicht widerspiegelte (Winker und Degele 2009, S. 11). Von diesem Fokus auf die Verschränkung von Geschlecht und „Rasse“ ausgehend entwickelte sich eine Debatte darüber, wie verschiedene, sich überlagernde Differenzierungskategorien neue Formen sozialer Ungleichheit und Diskriminierung hervorbringen. Zum Beispiel erfährt eine schwarze Frau nicht nur Diskriminierung als Schwarze und als Frau, sondern spezifische Abwertung als „Schwarze Frau“.

Intersektionale Ansätze betrachten verschiedene soziale Kategorien wie Geschlecht, Klasse, Migration, Behinderung nicht isoliert voneinander, sondern in ihren Verwobenheiten und Überkreuzungen (intersections) (Walgenbach 2012, S. 81). Der Fokus liegt auf dem gleichzeitigen Zusammenwirken dieser Kategorien und ihren Wechselwirkungen. Welche sozialen Kategorien dabei in Relation zueinander gesetzt werden, variiert in der Literatur (Lutz und Wenning 2001; Winker und Degele 2009; Lenz 2010).

Die Intersektionalitätstheorie fragt in Bezug auf Bildungschancen: Wem kommen aufgrund welcher sozialen Positionierungen welche Möglichkeiten der Teilhabe an Bildung zu und wem nicht? Der Blick wird auf Prozesse der Ausgrenzung von Bildung gerichtet sowie darauf, welche Mehrfachdiskriminierungen beim Erwerb von Bildungschancen wirken.

Die hier skizzierten theoretischen Erklärungsansätze (Rational Choice, kulturelle Reproduktion, Intersektionalität) werden in aktueller Bildungs- und Ungleichheitsforschung immer häufiger miteinander verbunden, erweitert und modifiziert.

7 Kritische Perspektiven: Illusion gleicher Bildungschancen

Der Begriff der Bildungschancen erlangt besondere Bedeutung im Kontext der Ideologie der Chancengleichheit. Die Forderung nach gleichen Bildungschancen kann aus gesellschaftskritischer Perspektive als Bestandteil einer liberalen, an individueller Leistung orientierten Gerechtigkeitsvorstellung und somit als uneingelöstes Versprechen der Moderne verstanden werden (Ribolits 2006). Hinter dieser Orientierung an individuellen Bildungschancen, die es im Sinne der Chancengleichheit zu verbessern und anzugleichen gelte, steht „die meritokratische Leitfigur westlicher Gesellschaften“ (Solga 2009, S. 66). Das meritokratische Versprechen vermittelt, dass basierend auf individueller Leistung Lebenschancen verteilt und Teilhabe an Gesellschaft und Ökonomie gewährt werden (Neckel und Wagner 2013). Der ungleiche Zugang zu Ressourcen und sozialen Positionen wird über dieses individuelle Leistungsprinzip legitimiert, da Subjekte selbst für ihr Scheitern am konkurrenzorientierten Arbeitsmarkt verantwortlich erklärt werden, nicht jedoch gesellschaftliche Strukturen, die auf Differenzierung, Ungleichheit und Wettbewerb beruhen.

War es im ständischen System die Geburt, so ist es in der kapitalistischen Moderne Leistungsfähigkeit und -willigkeit, die über die Verteilung von sozialen Positionen und Status in der Gesellschaft entscheiden. Dabei wird der Blick abgewandt von den dahinter liegenden Mechanismen, die gesellschaftliche Hierarchien reproduzieren und diese Hierarchien gleichzeitig als „fair“ und leistungsbezogen legitimiert. Das Bildungssystem hat aus dieser Perspektive die Funktion, ungleiche Teilhabechancen durch die Rede von scheinbarer Chancengleichheit und Leistungs- und Begabungsunterschieden gutzuheißen. Die Forderung nach gleichen Bildungschancen, im Sinne von Chancengleichheit beim Bildungszugang, wandelt die grundsätzliche Kritik an einer auf Ungleichheit beruhenden (Klassen-)Gesellschaft in ein scheinbar individuell lösbares Bildungsproblem um (Ribolits 2006). In der auf Ungleichheit und Wettbewerb beruhenden kapitalistischen Moderne würden selbst bei gleichen Bildungschancen Ungleichheiten fortgeschrieben werden, da grundlegende gesellschaftliche Strukturen (z.B. Klassenunterschiede) nicht durch individuelle Aufstiege überwunden werden können.

In der Debatte um die Verteilung von Bildungschancen wird diese „Illusion der Chancengleichheit“ immer wieder kritisch diskutiert. So zeigt die Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre, dass sich die Bildungschancen zwar für alle deutlich verbessert haben, dies aber nicht dazu geführt hat, dass die soziale Ungleichheit zwischen den Schichten abgenommen hat (El-Mafaalani 2014). Die Bildungsöffnung verhalf vor allem Personen der Mittelschicht zum Eintritt in die Universität, Studierende aus Familien mit bildungsfernem Hintergrund waren jedoch an Universitäten immer noch unterrepräsentiert, obwohl rein formal der Zugang gegeben war (Erler 2007). Bourdieu und Passeron (1971) erklären diesen Umstand damit, dass die kulturelle Herkunft entscheidender für das erfolgreiche Durchschreiten der Bildungsinstitutionen ist, als z.B. das Einkommen. Damit würde die Klassengesellschaft über das Bildungssystem reproduziert werden. Mittlerweile wurde die These, dass die Verdopplung der Chancen aller letztlich Ungleichheit sogar erhöht, empirisch vielfach nachgewiesen. Die These des Fahrstuhleffekts, formuliert von dem Soziologen Ulrich Beck, beschreibt diesen Umstand: Werden die Bildungschancen aller erhöht, steigen (fast) alle Menschen eine Etage auf – doch der Abstand zwischen den Menschen und damit den sozialen Schichten wird nicht verkleinert, lediglich verbessert sich die „Aussicht“ für alle (El-Mafaalani 2014). In dieser Perspektive bleibt das Erreichen gleicher Bildungschancen über Bildungsreformen wie die Öffnung von Institutionen eine Illusion. Dadurch, dass alle aufsteigen und Zugänge zu Bildung eröffnet werden, fühlt es sich so an, als würden soziale Ungleichheiten überwunden werden. Doch die Unterschiede zwischen Bildungsprivilegierten und Bildungsbenachteiligten bleiben in ihrer Struktur bestehen. Beispielsweise galt in den 1980er- und 1990er-Jahren ein Abiturabschluss als Absicherung für einen guten Arbeitsplatz, in den vergangenen Jahren war es der Studienabschluss, heutzutage ist sogar ein Bachelor-Abschluss keine Garantie mehr für einen sicheren Job.

Diskurse rund um Inklusion, Ganztagsschule und andere Ansätze, die darauf abzielen, das Bildungswesen sozialer und barrierearmer zu gestalten, folgen vielfach der Fiktion der Herstellung von (Chancen-)Gleichheit mittels „fairer“ Bildungszugangsmöglichkeiten. Bildungsexpansion, so zeigen die historische Entwicklung sowie aktuelle Forschungsbefunde, führt jedoch nicht automatisch zu einem Abbau von sozialen Ungleichheit im Bildungswesen und damit zu einer Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg für alle, sondern zu einer selektiven Verbesserung von Bildungschancen einzelner.

8 Quellenangaben

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Dahrendorf, Ralf, 1965a. Arbeiterkinder an deutschen Universitäten. Tübingen: Mohr. ISBN 978-3-16-517471-7

Dahrendorf, Ralf, 1965b. Bildung ist Bürgerrecht: Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: Nannen-Verlag

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Erler, Ingolf, 2007. Keine Chance für Lisa Simpson? Soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Wien: Mandelbaum. ISBN 978-3-85476-220-1

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Gomolla, Mechtild und Frank-Olaf Radtke, 2009. Institutionelle Diskriminierung: Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. 3. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden. ISBN 978-3-531-16642-1

Krüger, Heinz-Hermann und Ursula Rabe-Kleberg, 2013. Orte der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten. In: Susanne Siebholz, Edina Schneider, Susann Busse, Sabine Sandring und Schippling, Hrsg. Prozesse sozialer Ungleichheit: Bildung im Diskurs. Wiesbaden: Springer VS, S. 137–140. ISBN 978-3-531-18236-0 [Rezension bei socialnet]

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Winker, Gabriele und Nina Degele, 2009. Intersektionalität: zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript. ISBN 978-3-8376-1149-6

Verfasst von
Flora Petrik
M.A.
Institut für Bildungswissenschaft
Universität Wien
DFG-Graduiertenkolleg ‚Doing Transitions‘
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Tamara Schwertel
M.A.
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Zitiervorschlag
Petrik, Flora und Tamara Schwertel, 2020. Bildungschancen [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 11.08.2020 [Zugriff am: 26.03.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/6159

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