Bildungsforschung
Prof. Dr. David Kergel
veröffentlicht am 08.07.2024
Bildungsforschung widmet sich der Analyse von Bildungsprozessen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Bildung als deutungsoffener Begriff
- 3 Philosophische Bedeutung des Bildungsbegriffs
- 4 Paradigmenspezifische Bildungsforschung
- 5 Zur Trennung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung
- 6 Alternative Ansätze
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Bildungsforschung befasst sich mit individuellen Bildungsprozessen aber auch der Analyse von Bildungsinstitutionen. Dabei werden verschiedene methodologische Ansätze und Methoden genutzt, um individuelle Bildungsprozessen, Bildungsinstitutionen oder Bildungssysteme zu analysieren. Neben der Beschreibung von Bildungsprozessen ermöglicht die Bildungsforschung auch ein Verständnis von Lernprozessen für die Bildungspraxis sowie die Generierung von Erkenntnissen für bildungspolitische Maßnahmen. Für jede Form von Bildungsforschung gilt es zunächst, das zugrundeliegende Bildungsverständnis und die damit verbundenen methodologischen sowie methodischen Forschungsstrategien zu definieren.
2 Bildung als deutungsoffener Begriff
Bildung ist, neben Erziehung, einer der beiden zentralen Leitbegriffe der deutschsprachigen Pädagogik. Trotz oder gerade aufgrund seiner Relevanz ist die begriffliche Bestimmung, was denn genau unter Bildung zu verstehen ist, deutungsoffen. Diese Deutungsoffenheit ist nicht zuletzt für die Bildungsforschung eine Herausforderung: Es gilt zu definieren, was genau zu beforschen ist, wenn man Bildung beforschen möchte – ist beispielsweise der reine Wissenserwerb oder eher eine kritische Haltung zur Welt gemeint, die den gebildeten Menschen vom ungebildeten Menschen unterscheidet?
3 Philosophische Bedeutung des Bildungsbegriffs
Mit der Deutungsoffenheit des Bildungsbegriffs entsteht auch die Frage, ob Bildung sich empirisch überhaupt beforschen lässt: Sind theoretische Überlegungen zur Bildung von Denkern wie Wilhelm von Humboldt empirischer Forschung zugänglich? Oder verbleiben bildungstheoretische Überlegungen auf der Ebene philosophischer Reflexionen?
Aus bildungsphilosophischer Perspektive stehen Bildung und Erziehung in einem Spannungsverhältnis zueinander. Während Bildung die Freiheitspotenziale des Menschen betont, geht es bei der Erziehung um die Einpassung des Menschen in die Gesellschaft (Durkheim 1972) – jemand ist gut erzogen, wenn er sich gut benimmt. Dagegen ist jemand gebildet, wenn er über viele Dinge eine tiefergehende Kenntnis hat.
Dabei geht es nicht lediglich um die Kenntnis von Dingen, sondern um die Art und Weise, wie diese Kenntnis erworben wird. Ein solches Bildungsverständnis wurde von Humboldt einflussreich geprägt.
So besteht eine Überlegung Humboldts darin, alles Wissen, welches sich der Mensch durch Bildung aneignet, beruhe auf der Erfahrung und Entfaltung von Kraft sowie Freiheit. Ohne Freiheit keine Bildung. Dementsprechend ist gemäß Humboldt für „Bildung […] Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung“ (Humboldt 2010, S. 22).
Hier liegt auch die ethische Dimension von Bildung: Wissen, das nicht durch ein Zusammenwirken von Kraft und Freiheit zustande gekommen ist, kann nicht als ein Ausdruck von Bildung gewertet werden. Freiheit (Selbstbestimmung) und Kraft (verstanden als Fähigkeiten, die den Menschen zu seiner Selbstentfaltung befähigen) lassen sich folglich als Bildungsmerkmale verstehen. Ein bildungsphilosophisches Forschen versucht zum einen die Erkenntnisgrundlagen von Bildung freizulegen: Wie genau lässt sich Bildung als ein Erkenntnisprozess beschreiben, der auf den Bildungsmerkmalen Freiheit und Kraft fusst?
Daran anschließend stellen bildungsethische Ansätze eine philosophische Beforschung des Bildungsbegriffs dar. In der Bildungsethik wird analysiert, welche Handlungsstrategien im Sinne der normativen Ethik Bildung gerecht werden:
- Durch welche Handlungen werden Freiheit und Kraft bzw. Bildung angemessen gefördert?
- Welche Handlungsweisen entsprechen einem gebildeten Menschen, dessen Verhältnis zu der Welt und sich selbst (Selbst-/​Weltverhältnis)? (Kergel 2021)
4 Paradigmenspezifische Bildungsforschung
Die Art und Weise, wie Bildung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung thematisiert wird, hängt von dem jeweiligen ‚Paradigma‘ ab, an dem sich die Forscher:innen orientieren. Ein Paradigma bildet das Grundverständnis einer Wissenschaft.
In der erziehungswissenschaftlichen Forschung bildet die ‚Entwicklungstatsache‘ (Bernfeld 1979) des Menschen den paradigmenübergreifenden Forschungsgegenstand. Verschiedene Paradigmen haben zwar ein unterschiedliches Verständnis von Bildung. Paradigmenübergreifend besteht jedoch ein Konsens darüber, dass der Mensch nicht fertig geboren wird, sondern sich entwickeln muss (Kergel 2019). Bildung gehört wiederum zu diesem Entwicklungsprozess.
Die Entwicklungstatsache und das Bildungsbedürfnis des Menschen stellen einen paradigmenübergreifenden Forschungsgegenstand dar. Dieser Forschungsgegenstand erfährt jeweils eine paradigmenspezifische Ausformung. So haben die unterschiedlichen Forschungsparadigmen in der Erziehungswissenschaft auch verschiedene Methodensettings, mit denen die Entwicklungstatsache des Menschen sowie Bildung beforscht wird.
In anderen Worten: was unter Bildung verstanden wird und wie Bildung jeweils beforscht wird, variiert je nach Paradigma. Vereinfachend lässt sich zwischen drei Paradigmen differenzieren:
- geisteswissenschaftliche Pädagogik,
- empirische Bildungsforschung sowie
- kritische Pädagogik.
4.1 Das Paradigma der geisteswissenschaftlichen Pädagogik
Deutlich zeigt sich die Bedeutung des Bildungsbegriffs im Bereich der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik etablierte sich seit den 1920er Jahren bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten und war von 1945 bis in die 1960er Jahre das vorherrschende pädagogische Paradigma. Neben Theodor Litt, Wilhelm Weniger und Erich Weniger ist auch Hermann Nohl ein Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik – bei letzterem zeigt dessen problematische bzw. affirmative Beziehung zum Nationalsozialismus, wie relevant kritische Reflexionen in pädagogischen Kontexten sind.
Mit der Philosophie als Leitdisziplin strebte die geisteswissenschaftliche Pädagogik eine ‚Verwissenschaftlichung‘ der Pädagogik an (Matthes 2011). In der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nimmt die Auseinandersetzung mit Bildung einen hervorgehobenen Platz ein: Bildung wird als Prozess der Selbstverwirklichung des Menschen bezeichnet (Matthes 2011, S. 66 ff.).
Ein zentrales Ziel geisteswissenschaftlicher Pädagogik stellt die hermeneutische Förderung der Entfaltung der ‚Zu-Erziehenden‘ im Prozess der ‚Aneignung von Kultur‘ dar. Dieser Prozess wird auch als Bildung bezeichnet. Der Spannungsbogen zwischen Erziehung des Individuums zur Autonomie und Autorität des Erziehers bleibt in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik eine Herausforderung.
Dabei fand die Hermeneutik als reflektierte Methode des Verstehens bzw. des Interpretierens der Erziehungswirklichkeit Anwendung (Danner 1979).
Bei der hermeneutischen Methode soll der Erziehende den sich bildenden Menschen angemessen verstehen bzw. dessen Selbst-/​Weltverhältnis empathisch rekonstruieren. Auf der Grundlage dieser empathischen Rekonstruktion können pädagogische Strategien angemessen eingesetzt werden, um den Bildungsprozess zu unterstützen. Methodisch soll das empathische Rekonstruieren bzw. das Verstehen durch einen hermeneutischen Dreischritt gelingen.
- Zu Beginn steht das menschliche Erleben.
- Damit andere Menschen mein Erleben verstehen können, muss ich mein Erleben mitteilen bzw. ausdrücken. Um verstanden werden zu können, ist es folglich erforderlich, dass das Erleben sprachlich angemessen formuliert bzw. ,ausgedrückt’ wird. Der Ausdruck ermöglicht das Verstehen.
- Ein anderer Mensch kann durch meinen Ausdruck empathisch (bzw. emotional) nachvollziehen, wie ich eine Situation erlebt habe und mich derart verstehen.
4.2 Das Paradigma der kritischen Pädagogik
In den 1960er Jahren wurde die Vorherrschaft der geisteswissenschaftlichen Pädagogik neben der ‚realistischen Wende‘ von der kritischen Erziehungswissenschaft – auch emanzipatorische Pädagogik bzw. emanzipatorische Erziehungswissenschaft genannt – angefochten. Die kritische Erziehungswissenschaft, die sich seit Mitte der 1960er Jahre entfaltete und von Pädagogen wie Klaus Mollenhauer, Herwig Blankertz oder Andreas Gruschka vertreten wurde, avancierte Ende des Jahrzehnts kurzzeitig zum wichtigsten Paradigma innerhalb der deutschen Pädagogik.
Mit Bezug auf Karl Marx und insbesondere dessen Ökonomiekritik wurde betont, dass der moderne Mensch unter dem Zwang kapitalistischer Klassenverhältnisse lebe und daher sein ganzes Potenzial nicht angemessen nutzen könne (Lukács 2013).
In der Theoriearbeit der kritischen Pädagogik werden die Wechselverhältnisse zwischen der Pädagogik und den gesellschaftlichen Verhältnissen analysiert. Im Zuge dessen wird auch der Bildungsbegriff ‚kritisch‘ gewendet. Bildung wird für die Emanzipation und gegen die Entfremdung in Stellung gebracht (Heydorn 2004).
Dabei ist Entfremdung aus einem marxistischen Geschichtspunkt definiert: Entfremdet sei der Mensch in einer Konsum- und Warenwelt, die seine Bedürfnisse manipuliert. Bildung zeige sich in einem kritischen Hinterfragen von gesellschaftlichen Werten zugunsten der Ausbildung eines selbstbestimmten Subjekts. Eine kritische Bildungsforschung analysiert gesellschaftliche Zwänge und Entfremdungen und entwickelt zugleich pädagogische Strategien, um emanzipatives Bewusstsein und damit Bildung zu fördern (Schäfer und Schaller 1971). Bildung in diesem Sinne antizipiert auch Möglichkeiten einer nicht-entfremdeten, nicht-kapitalistisch geprägten Gesellschaft. In der pädagogischen Praxis kritischer Pädagogik zeigt sich konkret die Perspektive für eine allgemeine nicht-entfremdete Gesellschaft (Heydorn 2004, S. 251).
4.3 Das Paradigma der empirischen Bildungsforschung
Bildung erfährt im Paradigma der empirischen Bildungsforschung einen Bedeutungswandel: Anstatt wie bei Humboldt unter Bildung die Entwicklung des Menschen durch die Entfaltung von Kraft in Freiheit zu verstehen, wird Bildung als Kompetenzerwerb definiert. Bildung entfaltet sich als ‚Gebildet-Sein‘ in der Aneignung von Fähigkeiten und Fertigkeiten bzw. Kompetenzen. ‚Gebildet-Sein‘ als Kompetenzerwerb wird durch Bildungsabschlüsse formalisiert.
Während die geisteswissenschaftliche und die kritische Pädagogik eine werteorientierte Ausrichtung aufweisen, versteht sich die empirische Bildungsforschung als neutral bzw. ‚wertfrei‘. Bildung wird als Konzept verstanden, das durch Indikatoren erhoben werden kann. Indikatoren stellen als empirische Manifestationen erfassbare Größen dar, die auf Konstrukte wie Bildung verweisen. Bildung wird in der empirischen Bildungsforschung bzw. in Studien (beispielsweise den Bildungsberichten) oftmals durch den Nachweis von Kompetenzen erfasst. Kompetenzen lassen sich wiederum anhand konkret erfassbarer Fähigkeiten und Fertigkeiten messen (Klieme und Hartig 2008).
Anhand zumeist quantitativer Forschungsstrategien, die sich an den Standards empirischer Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder Psychologie orientieren, wird beforscht, wer wie welche Qualifikationen und Kompetenzen im Bildungssystem erwirbt.
Die Beforschung von Bildungsinstitutionen und Bildungseffekten ist folglich ein Kerngebiet empirischer Bildungsforschung. Exemplarisch für die empirische Bildungsforschung sind sogenannte Bildungsberichte. Bildungsberichte erscheinen in regelmäßigen Abständen und stellen einen Aspekt von Bildungsmonitoring dar.
In Deutschland leistet der alle zwei Jahre erscheinende nationale Bildungsbericht eine Darstellung des Bildungswesens in der Breite und richtet sich an Akteure aus der Bildungspraxis, Bildungspolitik sowie Bildungsverwaltung.
5 Zur Trennung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung
Bildungstheoretische Ansätze erfuhren mit der Etablierung der empirischen Bildungsforschung als vorherrschendem Paradigma einen Bedeutungsverlust. Der Paradigmenwechsel, welcher von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik hin zur empirischen Bildungsforschung führte, lässt sich symbolisch an dem Jahr 1962 festmachen.
5.1 Realistische Wende und Bildungskatastrophe
In diesem Jahr rief Heinrich Roth die ‚realistische Wendung‘ in den Erziehungswissenschaften aus (Roth 1962). Diese Wende etablierte eine empirisch-quantitative Ausrichtung der Erziehungswissenschaften (Brezinka 1990). Mit der Etablierung empirisch-quantitativer Forschung stand die Bildungstheorie zur Diskussion: Das Erkenntnispotenzial hermeneutischer Verfahren galt als ausgeschöpft. Empirisch orientierte Forschung hingegen versprach neue Erkenntnismöglichkeiten.
Im Zuge dieses Paradigmenwechsels wird Pädagogik endgültig zur Erziehungswissenschaft. Spätestens mit der realistischen Wende entstand ein Graben zwischen Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Dieser Graben verfestigte sich durch Georg Pichts 1964 formulierte Warnung vor einer ‚Bildungskatastrophe‘ in Deutschland. Picht (1964) diagnostizierte:
- einen geringeren Anteil an höheren Abschlüssen deutscher Schüler:innen,
- der, vor allem in den Naturwissenschaften, zu geringen Studierendenzahlen führe.
- Die Folge wäre ein eklatanter Mangel an qualifizierten Fachkräften.
- Die BRD liefe in diesem Fall Gefahr, im internationalen wirtschaftlichen Standortwettbewerb zurückzufallen.
In der Folge der Thesen Pichts bildete sich ein bis heute verbreitetes marktwirtschaftliches Verständnis von Bildung heraus: Um konkurrenzfähig zu bleiben, sei ein funktionierendes und leistungsstarkes Bildungssystem zu gewährleisten. Formelle Bildung sichere das ‚Humankapital‘ in einer wissensbasierten Gesellschaft. Diese Position prägt – nicht zuletzt über die PISA-Studien – bis heute bildungspolitische Diskussionen.
Im Kontext dieses marktwirtschaftlichen Verständnisses von Bildung wird der empirischen Bildungsforschung die Aufgabe zugesprochen, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verbesserung des Bildungssystems zu generieren. Diese Erkenntnisse sollen Orientierungspunkte bieten, um wissenschaftlich informiert bildungspolitische Entscheidungen treffen zu können (Gundlach 2006).
5.2 Kompetenz und Bildung
In der Zeit der realistischen Wende und der drohenden Bildungskatastrophe verabschiedete sich die empirische Bildungsforschung weitestgehend von bildungstheoretischen Überlegungen. Anstatt die Möglichkeiten einer Operationalisierung von zentralen bildungstheoretischen Begriffen wie Kraft und Freiheit zu diskutieren, wurden in den 1960er und den 1970er Jahren Anstrengungen unternommen, den Bildungsbegriff durch Begriffe wie Sozialisation, Lernen oder Kompetenz zu ersetzen:
„Im Gegensatz zu Bildung wird Kompetenz als messbar beschrieben und Kompetenzen können gezielt gelernt werden, was für die pädagogische Diskussion sehr viele Anschlussmöglichkeiten bietet.“ (Horlacher 2011, S. 95)
So verwundert es nicht, dass Roth, der die empirische ‚Wendung‘ in den Erziehungswissenschaften ausgerufen hatte, auch den Kompetenzbegriff in das deutschsprachige pädagogische Feld einführte. Letztendlich erscheint aber der Begriff der Kompetenz ebenso deutungsoffen wie der Begriff der Bildung (Heidkamp und Kergel 2018).
Allerdings erhielt der Kompetenzbegriff durch vergleichende Leistungsstudien wie z.B. die PISA-Studien eine zentrale Bedeutung in der empirischen Bildungsforschung. Dabei wird bei der Erhebung von Kompetenzen das Kompetenzniveau mit dem Beherrschen von Schlüsselqualifikation wie Lese- und Rechenfähigkeiten gleichgesetzt.
6 Alternative Ansätze
6.1 Transformatorische Bildungsforschung
Aus der Herausforderung, bildungstheoretische Reflexionen empirischen, erziehungswissenschaftlichen Forschungsstrategien zugänglich zu machen, entwickelte sich der Ansatz einer transformatorischen Bildungsforschung (Marotzki und Tiefel 2013). Bildung wird dabei als die ‚Veränderung von grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses‘ definiert. Gemäß dieser Definition beziehen sich „Bildungsprozesse […] ausschließlich auf die kognitive Dimension“ (Klika 2016, S. 49).
Diese Überlegung hat zur Folge, dass Bildung sich nicht von Kindesbeinen an vollzieht, da Kleinkinder noch nicht über die kognitiven Kompetenzen, um ihr Selbst-/​Weltverhältnis reflexiv zu revidieren bzw. zu transformieren. Unter anderem dieser Punkt sowie die Ausklammerung normativer Aspekte – also die Verwendung des Bildungsbegriff, ohne den von Humboldt herausgestrichenen Aspekt der Selbstentfaltung aufzugreifen – sind wiederholt vorgebrachte Kritikpunkte an einem derartigen transformatorischen Bildungsverständnis (Stojanov 2006; Kergel 2021).
Verstanden als Transformationen von Selbst-/​Weltverhältnissen ist Bildung an die qualitative Biografieforschung anschlussfähig. Durch etablierte Ansätze in der qualitativen Sozialforschung wird geprüft, ob beispielsweise die Konfrontationen mit Problemlagen und deren Bewältigung zu einem neuen Selbst-/​Weltverhältnis führen können. Ist dies der Fall, wird von Bildung gesprochen (Marotzki 1990; Nohl 2006). In ihrem Selbstverständnis als (bildungs-)theoretisch fundierte qualitative Biografieforschung hat sich das transformatorische Bildungsverständnis in der qualitativ ausgerichteten erziehungswissenschaftlichen Forschung etabliert und wird oftmals synonym mit dem Begriff qualitative Bildungsforschung verwendet.
Trotz der etablierten Verankerung der transformatorischen Bildungsforschung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung wird Kritik an der fehlenden normativen Ausrichtung dieses Ansatzes formuliert (Klika 2016). Dies führt zu alternativen Ansätzen wie der integrativen Bildungsforschung (Kergel 2018).
6.2 Integrative Bildungsforschung
Wie bei der transformatorischen Bildungsforschung wird in der integrativen Bildungsforschung eine Verzahnung bildungstheoretischer Perspektiven mit Ansätzen empirischer Bildungsforschung angestrebt. Mit Rückgriff auf Wilhelm von Humboldt wird Bildung als Selbst-/​Weltverhältnis definiert, das auf Freiheit und Kraft beruht. Kraft und Freiheit werden wiederum mit den empirisch operationalisierbaren Begriffen explorative Neugier und Selbstwirksamkeitserwartungen gleichgesetzt (Kergel 2018). Basiert ein Lernerlebnis auf den Merkmalen explorative Neugier bzw. auf Kraft und Freiheit kann von Bildungslernen gesprochen werden und Bildung liegt vor (Kergel 2021).
6.3 Methodentrangulatorische Bildungsforschung
Als deutungsoffener Begriff ermöglicht Bildung verschiedene theoretische Perspektiven sowie empirische Forschungszugänge. In der Forschungspraxis ist eine Verzahnung bildungsphilosophischer Perspektiven und empirischer Forschung noch weitestgehend ein Desiderat. Anders ist die Lage bei der Verzahnung bzw. Triangulation von methodischen Ansätzen in der empirischen Bildungsforschung.
So ist die Methodentriangulation im Feld empirischer Bildungsforschung etabliert: Böhm-Kasper und Dizinger (2022) identifizierten im Rahmen einer Sichtung von Forschungsprojekten, die zwischen 2008 und 2020 mit Mitteln des Rahmenprogramms „Empirische Bildungsforschung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurden, die breite empirischer Bildungsforschung. So wurden „neben den rein quantitativ arbeitenden Studien (45 %)“ auch „eine Reihe von Projekten“ gefördert, die „sowohl quantitative als auch qualitative Forschungsmethoden (Mixed Methods; 34 %) anwendet“ (Böhm-Kasper und Dizinger 2022, S. 126). Daneben zählten Böhm-Kasper und Dizinger auch „eine substantielle Anzahl von Forschungsprojekten“, die „rein qualitativ (21 %) forscht“ (Böhm-Kasper und Dizinger 2022, S. 126).
7 Quellenangaben
Bernfeld, Siegfried, 1970. Sämtliche Werke. Band. 1. Beltz, Weinheim. ISBN 978-3-4075-4980-8
Böhm-Kasper, Oliver und Vanessa Dizinger, 2022. Erkenntnismöglichkeiten empirischer Bildungsforschung. In David Kergel, Birte Heidkamp-Kergel und Sven-Niclas August, Hrsg. Handbuch Interdisziplinäre Bildungsforschung. Weinheim: Beltz/​Juventa. ISBN 978-3-7799-6286-1 [Rezension bei socialnet]
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Danner, Helmut, 1979. Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik. Stuttgart: Utb. ISBN 978-3-4970-1464-4
Durkheim, Emile, 1972. Erziehung und Soziologie. Düsseldorf: Schwann. ISBN 978-3-7895-0163-0
Gundlach, Erich, 2006. Bildungspolitik im Zeitalter der Globalisierung. Stuttgart: Lucius & Lucius, ISBN 978-3-1105-1088-1
Heydorn, Heinz-Joachim, 2004. Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Werke Band 3. Studienausgabe. Wetzlar: Büchse der Pandora. ISBN 978-3-8817-8333-0
Horlacher, Rebecca, 2011. Bildung. Stuttgart: Utb. ISBN 978-3-8252-3522-2 [Rezension bei socialnet]
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Kergel, David, 2018. Qualitative Bildungsforschung – Einführung in einen integrativen Ansatz. Wiesbaden: VS Springer. ISBN 978-3-658-18586-2
Kergel, David, 2019. Erziehungskonstellationen analysieren und Bildungsräume gestalten: Ein Methodenbuch für die pädagogische Theorie und Praxis. ISBN 978-3-658-27038-4
Kergel, David, 2021. Bildungsethik – Zur normativen Dimension pädagogischer Praxis. Wiesbaden: VS Springer. ISBN 978-3-658-33154-2
Klieme, Eckhard und Johannes Hartig, 2008. Kompetenzkonzepte in den Sozialwissenschaften und im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In Manfred Prenzel, Ingrid Gogolin und Heinz-Hermann Krüger, Hrsg. Kompetenzdiagnostik (S. 11–29). Wiesbaden: VS Springer. ISBN 978-3-5319-0865-6
Klika, Dorle, 2016. A tergo – explizite und implizite Bildungskonzepte in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. In Robert Kreitz, Ingried Miethe und Anja Tervooren Hrsg. Theorien in der qualitativen Bildungsforschung – Qualitative Bildungsforschung als Theoriegenerierung. Opladen: Barbara Budrich. ISBN 978-3-8474-0778-2
Lukács, Georg, 2013. Geschichte und Klassenbewußtsein: Studien über marxistische Dialektik. Bielefeld: Aisthesis. ISBN 978-3-8952-8999-6
Marotzki, Winfried, 1990. Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie – biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Verlagsort: Deutscher Studien-Verlag. ISBN 978-3-89271-221-3
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Matthes, Eva, 2011. Geisteswissenschaftliche Pädagogik – Ein Lehrbuch. München: Oldenbourg. ISBN 978-3-4865-9792-9
Nohl, Arnd-Michael, 2006. Bildung und Spontaneität: Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern – Empirische Rekonstruktionen und pragmatische Reflexionen. Opladen: Barbara Budrich. ISBN 978-3-8664-9048-2
Picht, Georg, 1964. Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten/​Freiburg im Breisgau: Walter
Roth, Heinrich, 1962. Die realistische Wendung in der Pädagogischen Forschung. In: Neue Sammlung: Göttinger Blätter für Kultur und Erziehung 2(2). S. 481–490. ISSN 0028-3355
Schäfer, Karl-Hermann und Schaller, Klaus, 1971. Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik. Utb: Stuttgart. ISBN 978-3-4940-2001-3
Stojanov, Krassimir, 2006. Philosophie und Bildungsforschung. Normative Konzepte in qualitativ-empirischen Bildungsstudien. In Ludwig A. Pongratz, Michael Wimmer und Wolfgang Nieke, Hrsg. Bildungsphilosophie und Bildungsforschung (S. 66–85). Bielefeld: Janus. ISBN 978-3-938076-33-0
Verfasst von
Prof. Dr. David Kergel
Professor für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule
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Es gibt 1 Lexikonartikel von David Kergel.
Zitiervorschlag
Kergel, David,
2024.
Bildungsforschung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 08.07.2024 [Zugriff am: 08.02.2025].
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