Bindung
Prof. Dr. Tanja Jungmann
veröffentlicht am 30.09.2019
Bindung ist definiert als eine enge und überdauernde emotionale Beziehung von Kindern zu ihren Eltern (und anderen Bezugspersonen).
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Phasen der Bindungsentwicklung
- 3 Bindungstypen
- 4 Konsequenzen für den weiteren Entwicklungsverlauf
- 5 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Nach der ethologischen Bindungstheorie von Bowlby (2016) wird die Bindungsentwicklung über ein evolutionsbiologisch angelegtes Verhaltensprogramm gesteuert, das Nähe, Kontakt und Interaktion sicherstellt. Das Kind sendet in Abhängigkeit von seinem Alter bei Verunsicherung, Schmerz oder Angst Bindungssignale an seine soziale Umgebung (zunächst Weinen und Anklammern, später – mit zunehmenden Kompetenzen im sprachlichen und motorischen Bereich – Rufen und Nachfolgeverhalten). Die Personen, die am zuverlässigsten auf die Bindungssignale mit Fürsorgeverhalten reagieren, werden zu primären Bindungspersonen, zu denen sich im Verlauf des ersten Lebensjahres ein stabiles emotionales Band entwickelt. Im Laufe der Zeit bildet sich in Abhängigkeit von weiteren sprachlichen und kognitiven Entwicklungsschritten eine überdauernde kognitiv-emotionale Repräsentation von sich selbst und seinen Bezugspersonen in der Bindungsbeziehung, die auch als inneres Arbeitsmodell bezeichnet wird und nicht nur aktuelle, sondern langfristige Bedeutung für die kindliche Entwicklung. Bindung und Exploration stellen komplementäre Verhaltenssysteme dar (Viernickel 2013; Jungmann und Reichenbach 2016).
2 Phasen der Bindungsentwicklung
- Vorphase der Bindung (0 bis 3 Monate). Für den Säugling steht die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse im Vordergrund. Je älter er wird, umso größer wird sein Verlangen nach Nähe und Zuwendung. In den ersten Lebenswochen wird der Säugling vertraut mit den Personen, die ihn füttern, pflegen, auf den Arm nehmen, mit ihm sprechen und spielen. Seine Signale richtet der Säugling unspezifisch an die Personen in seiner Umwelt und macht im positiven Fall die Erfahrung, dass seine Bedürfnisse zuverlässig befriedigt werden.
- Phase der personenbezogenen Ansprechbarkeit (3 bis 6 Monate). Zu den Personen, die die Bindungssignale zuverlässig und prompt beantworten, ihm ein Gefühl von Nähe und Sicherheit geben, beim Füttern und in Pflegesituationen streicheln, es ansprechen und anlächeln, entwickelt das Kind nach und nach eine Bindung. Soziale Routinen in alltäglichen Situationen geben dem Kind ein intensives Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit, die Grundlage für erste Explorationen der Umwelt und damit Lernerfahrungen.
- Phase der eigentlichen Bindung (6 bis 24 Monate). Wenngleich der Säugling bereits im Alter von einem Monat spürt, wenn er von verschiedenen Personen aufgenommen wird, äußert er erst ab der Phase der eigentlichen Bindung Ablehnung bis hin zu offensichtlichem Fremdeln. Die Voraussetzung hierfür ist zum einen das Erreichen des kognitiven Meilensteins der Personen- und Objektpermanenz, zum anderen das Erreichen des motorischen Meilensteins der Lokomotion, womit das Kind dann auch selber Nähe und Distanz regulieren kann. Der Höhepunkt der Phase der eigentlichen Bindung wird im Alter von 12 bis 18 Monaten erreicht und fällt zusammen mit der Entwicklung des Selbst-Andere-Konzepts im sozial-kognitiven Bereich und dem Wortschatzschatzspurt im sprachlichen Bereich. Damit wird das Kind auch verbal zunehmend zum kompetenten Interaktionspartner.
- Phase der zielkorrigierten Partnerschaft (24 bis 36 Monate). Zwischen dem Alter von zwei bis drei Jahren wird dem Kind zunehmend bewusst, dass auch seine primären Bezugspersonen Bedürfnisse haben, die nicht immer und unbedingt mit den eigenen Wünschen übereinstimmen müssen. Die Entwicklungsherausforderung besteht nun darin, eigene Anliegen auch zurückstellen bzw. auf einen späteren Zeitpunkt verschieben zu können (Frustrationstoleranz, Bedürfnisaufschub). Solche Aushandlungsprozesse bleiben ein Leben lang Entwicklungsthema.
3 Bindungstypen
In Abhängigkeit von der Feinfühligkeit (Sensitive Responsivität), mit der die betreuenden Personen in den regelmäßigen Interaktionssituationen auf die Signale des Kindes reagieren, kristallisieren sich vier verschiedene Bindungstypen in dem klassischen Fremde-Situations-Test heraus (Bindungsdiagnostik) (Ainsworth et al. 1979).
- Unsicher-vermeidende Bindung (Typ A). Unsicher-vermeidend gebundene Kinder reagieren auf der Verhaltensebene in der Trennungssituation kaum. Zumeist spielen sie mit den im Raum befindlichen Spielsachen weiter. Auch in der Wiedervereinigungssituation wird Kontakt und Nähe zur Bezugsperson eher vermieden. Zunächst glaubte man, dass es sich bei diesen Kindern um die sicher gebundenen handelt, da das gezeigte Verhalten als sehr selbstständig interpretierbar ist. Spätere Studien von Spangler und Grossmann (1999) zeigten allerdings, dass diese Kinder den größten Stress in der Fremden Situation empfanden. Dies wurde über den Gehalt des Stresshormons Cortisol im Speichel gemessen. Die Entstehung des unsicher vermeidend gebundenen Typs wird damit erklärt, dass diese Kinder die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Bindungsperson bei Furcht, Kummer, Erschöpfung oder Unsicherheit nicht verfügbar war und keinen Trost gespendet hat. Aufgrund dieser Erfahrungen wird das Bindungsverhalten minimiert, da dieses in der Vergangenheit nicht zum erhofften Erfolg geführt hat. Die Emotionen des Kindes können nicht reguliert werden, was den hohen Stresspegel erklärt.
- Sichere Bindung (Typ B). Sicher gebundene Kinder zeigen in den Trennungssituationen, wenn die Bezugsperson (zumeist die Mutter) den Raum verlässt, eine deutliche Aktivierung des Bindungssystems. Dies drückt sich durch Weinen oder Versuche, erneut Nähe und Kontakt herzustellen, aus. Sie lassen sich nur schwer von der fremden, im Raum befindlichen Person trösten. In den Wiedervereinigungssituationen mit der Mutter beruhigen sie sich jedoch schnell wieder, zeigen offene Freude, schmiegen sich an und widmen sich nachfolgend wieder der Exploration ihrer Umgebung. In der Studie von Spangler und Grossmann (1999) waren die Kinder des B-Typs am wenigsten durch Stress belastet, wie die Messungen des Cortisolgehalts im Speichel ergaben. Sicher gebundene Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bindungsperson auf ihre Emotionen feinfühlig und unmittelbar reagiert und diese durch Trost und Nähe reguliert. Entsprechend zeigen sie einen offenen emotionalen Ausdruck gegenüber Bezugspersonen im Vertrauen darauf, dass Emotionen wie Furcht und Kummer adäquat beantwortet werden. So ist zu erklären, dass der Stresspegel selbst in der Fremden Situation gering bleibt.
- Unsicher-ambivalente Bindung (Typ C). Unsicher-ambivalent gebundene Kinder reagieren in der Trennungssituation mit sehr starker emotionaler Erregung. Sie sind nur sehr schwer oder gar nicht zu beruhigen. In der Wiedervereinigung mit der Bindungsperson zeigen sie ein Verhalten, das von der Suche nach Nähe bei gleichzeitigem Widerstand gegen Kontakt gekennzeichnet ist. Sie sind in den anderen Episoden der Fremden Situation eher passiv und zeigen wenig Explorationsverhalten. Diese Kinder sind stärker stressbelastet als die B-Typ-Kinder, aber geringer als die A-Typ-Kinder. Unsicher ambivalent gebundene Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bindungsperson mal sehr feinfühlig und prompt, in anderen Situationen aber nicht auf ihren Emotionsausdruck reagiert. Entsprechend wird dieser stark überzeichnet, um Furcht und Kummer unmissverständlich zu kommunizieren. In der Wiedervereinigungssituation sind diese Kinder dann hin- und hergerissen, ob es sich um eine Situation handelt, in der ihre Gefühle adäquat beantwortet werden oder nicht.
- Desorganisierte Bindung (Typ D). Bei dem desorganisierten oder desorientierten Bindungsmuster ist eine klare Bindungsstrategie nicht erkennbar. Kinder des D-Typs zeigen bizarre Verhaltensweisen (z.B. Einfrieren des Gesichtsausdrucks oder Körpers, Grimassieren) und widersprüchliche Bindungsverhaltensstrategien( z.B. jähe Unterbrechungen des Suchens von Nähe). Desorganisierte Bindungsmuster kommen gehäuft bei misshandelten Kindern vor (Lyons-Ruth und Jacobvitz 2018), sodass diese Kategorie für den klinischen Bereich von besonderer Relevanz ist. Sie zeigen sich aber auch nach langen Trennungen sowie an Entwicklungsübergängen. Somit sind die genannten bizarren Verhaltensweisen nicht immer ein Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung oder Ausdruck einer Bindungsstörung.
Während die mütterliche Feinfühligkeit in den klassischen Studien von Ainsworth, Bell und Stayton (1974) hoch mit der Bindungsqualität korrelierte, konnten diese Zusammenhänge in nachfolgenden Studien nicht in vergleichbarer Stärke repliziert werden. Anscheinend stehen weitere Interaktionsmerkmale, wie das Ausmaß der Synchronisation bzw. die gelingende Abstimmung zwischen den Verhaltensweisen des Säuglings und denen der Bezugsperson, das Erleben von positiver Gegenseitigkeit (de Wolff und van IJzendoorn 1997) sowie das kindliche Temperament (Zentner 2000) in engem Bezug zur Bindungsqualität. Untersuchungen zur Vater-Kind-Bindung zeigen, dass auch Verhaltensweisen, die die Explorationsbereitschaft und die Sicherheit des Kindes in der Exploration fördern, zur Beziehungssicherheit beitragen (Kindler und Grossmann 2019).
4 Konsequenzen für den weiteren Entwicklungsverlauf
Kinder mit sicheren Bindungsbeziehungen scheinen eine Reihe von Vorteilen in ihrer weiteren Entwicklung zu haben. Sie zeigen in sozialen Situationen größere Selbstsicherheit und häufiger prosoziales Verhalten als Kinder mit unsicheren Bindungen, sind sozial kompetenter und engagierter, gestalten ihre Freundschaftsbeziehungen positiver und kooperativer und nehmen oftmals eine Führungsposition unter Gleichaltrigen ein.
Eine sichere Vater-Kind-Bindung ist mit guten schulischen Anpassungsleistungen, geringerer Ängstlichkeit und geringerem sozialem Rückzug assoziiert (Lohaus und Vierhaus 2015, S. 196).
Unsicher-vermeidend gebundene Kinder zeigen sich dagegen Fremden gegenüber häufiger als kontaktscheu und sozial distanziert. Ihnen fällt es schwerer, mit Peers zu kooperieren. Von ihren Eltern und pädagogischen Fachkräften werden sie als weniger gehorsam und anpassungsfähig beschrieben (zusammenfassend Siegler et al. 2005).
5 Quellenangaben
Ainsworth, Mary D. Salter, Silvia M. Bell und Donelda J. Stayton, 1974. Infant-Mother-Attachment and Social Development: ‘Socialisation’ as a product of reciprocal responsiveness to signals. In Martin Richards, Hrsg. The integration of a child into a social world. Cambridge: University Press, S. 99–136. ISBN 978-0-521-20306-7
Ainsworth, Mary D. Salter, Mary C. Blehar, Everett Waters und Sally N. Wall, 1979. Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale: Erlbaum. ISBN 978-1-848-72681-9
Bowlby, John, 2016. Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. 7. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02665-4
De Wolff, Marianne S. und Marinus H. van IJzendoorn, 1997. Sensitivity and attachment: A meta-analysis on parental antecedents of infant attachment. In: Child Development. 68(4), S. 571–591. ISSN 0009-3920
Jungmann, Tanja und Christina Reichenbach, 2016. Bindungstheorie und pädagogisches Handeln. 4., verbesserte und erweiterte Auflage. Dortmund: Borgmann Verlag. ISBN 978-3-942976-20-6 [Rezension bei socialnet]
Kindler, Heinz und Karin Grossmann, 2019. Vater-Kind-Bindung und die Rolle der Väter in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder. In Lieselotte Ahnert, Hrsg. Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. 4. Auflage. München, Basel: Ernst Reinhardt, S. 240–255. ISBN 978-3-497-02857-3
Lohaus, Arnold und Marc Vierhaus, 2015. Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters. 3. überarb. Auflage. Berlin: Springer. ISBN 978-3-662-45528-9 [Rezension bei socialnet]
Lyons-Ruth, Karlen und Deborah Jacobvitz, 2018. Attachment Disorganization: Unresolved loss, relational violence, and lapses in behavioral and attentional strategies. In: Jude Cassidy und Phillip R. Shaver, Hrsg. Handbook of Attachment: Theory, Research and Clinical Applications. 3. Auflage. New York: Guilford Press, S. 520–554. ISBN 978-1-4625-3664-1
Siegler, Robert S., Judy S. DeLoache und Nancy Eisenberg, 2005. Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Heidelberg: Spektrum Verlag. ISBN 978-3-8274-1490-8 [Rezension bei socialnet]
Spangler, Gottfried und Karin Grossmann, 1999. Individual and physiological correlates of attachment disorganization in infancy. In: Judith Solomon und Carol George, Hrsg. Attachment Disorganization. New York: Guilford Press, S. 95–124. ISBN 978-1-57230-480-2
Viernickel, Susanne, 2013. Soziale Entwicklung. In: Margrit Stamm und Doris Edelmann, Hrsg. Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 633–652. ISBN 978-3-531-18474-6 [Rezension bei socialnet]
Zentner, Marcel R., 2000. Das Temperament als Risikofaktor in der frühkindlichen Entwicklung. In: Franz Petermann, Kay Niebank und Herbert Scheithauer, Hrsg. Risiken in der frühkindlichen Entwicklung. Göttingen: Hogrefe, S. 257–282. ISBN 978-3-8017-1351-5
Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Jungmann
Universität Oldenburg, Professur für Sprache und Kommunikation und ihre sonderpädagogische Förderung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse
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