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Bindungstheorie

Prof. Dr. Tanja Jungmann

veröffentlicht am 30.09.2019

Die 1958 durch den britischen Psychoanalytiker John Bowlby begründete ethologische Bindungstheorie beruht auf der Annahme, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, die sich im Laufe des Lebens verändern (Bindung). Sie beschäftigt sich mit den Folgen, die Beeinträchtigungen dieser engen emotionalen Beziehungen für die psychische Gesundheit und die weitere Entwicklung haben können sowie mit Entwicklungseinflüssen auf die Qualität der Anpassung über die Lebensspanne.

Überblick

  1. 1 Historischer Abriss
  2. 2 Komplementäre Verhaltenssysteme: Bindung und Exploration
  3. 3 Bindungstypen
  4. 4 Inneres Arbeitsmodell von Bindung (Bindungsrepräsentation)
  5. 5 Quellenangaben

1 Historischer Abriss

In Abgrenzung von der Triebtheorie Sigmund Freuds, die postuliert, dass sich ein Säugling durch die orale Triebbefriedigung während des Stillens an seine Mutter binde, geht Bowlby davon aus, dass Nähe und Kontakt in bindungsrelevanten Situationen durch ein evolutionsbiologisch angelegtes Bindungsverhaltenssystem sichergestellt werden. Er kritisierte damit traditionelle psychoanalytische Modelle, die sich mit dem kindlichen Phantasieleben beschäftigten und die Auswirkung realer Traumata durch Trennung nicht anerkannten. Gleichzeitig nahm er auch eine konsequente Gegenposition zum Behaviorismus der späten 1920er Jahre ein. Insbesondere John B. Watson warnte davor, Müttern zu erlauben, ihre Kinder zu verhätscheln und zu verzärteln. Ethnologische Studien zur frühen Prägung im Tierreich von Konrad Lorenz, die Untersuchung von Harry Harlow an Rhesusaffen sowie die Deprivationsstudien von René Spitz bestätigten seine eigenen klinischen Beobachtungen von Gefühllosigkeit bei einigen Kindern und Jugendlichen als Auswirkung von Trennungstraumata.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Bowlby von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Auftrag, die psychische Entwicklung von Kriegswaisen und deren elementare Bedürfnisse zu erforschen. Seine Ergebnisse zu den Auswirkungen fehlender mütterlicher Fürsorge veröffentlichte er in seiner Arbeit „Maternal care and mental health“ (1951) und lieferte damit einen wichtigen Beitrag zur entwicklungsgerechten Betreuung von Kleinkindern in Heimen und Kliniken (Stegmaier 2008).

Die Bindungstheorie wurde ursprünglich als klinische Entwicklungstheorie konzipiert, hat jedoch überwiegend Eingang in die Entwicklungspsychologie und die Pädagogik gefunden (Jungmann und Reichenbach 2016). Insbesondere durch die empirischen Untersuchungen der Psychologin Mary Ainsworth (1979), die die Methoden der Feldbeobachtung von James Robertson bei der Konzeption des Fremde Situation Test (Strange Situation) adaptierte (Bindungsdiagnostik) sowie ihre Ausweitung von der Verhaltens- auf die Repräsentationsebene (inneres Arbeitsmodell von Bindung), erlangte sie weite Akzeptanz und Verbreitung.

2 Komplementäre Verhaltenssysteme: Bindung und Exploration

Das Bindungsverhaltenssystem ermöglicht es dem Kind von Geburt an, Bindungsverhalten gegenüber einer, aber auch weiteren ausgewählten Personen zu zeigen. Die aktive Bindung erfolgt an Personen, die über einen längeren Zeitraum besonders feinfühlig und prompt auf seine Bedürfnisse reagieren, es füttern und pflegen, aber auch an jene, die mit ihm liebevoll spielen und interagieren. Allerdings sind die Bindungsbeziehungen hierarchisch geordnet, d.h. das Kind bevorzugt eine Bindungsperson vor den anderen. Hat ein Kind eine Bindung zu einer bestimmten Person aufgebaut, kann diese nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden. Längere Trennungen oder gar der Verlust dieser Bindungsfigur führen zu schweren Trauerreaktionen und großem seelischen Leid.

Während Säuglinge in den ersten Lebensmonaten einfach strukturierte Verhaltensmuster wie Weinen, das Suchen nach Nähe und anklammerndes Verhalten zeigen, wird das Bindungsverhalten im Laufe des ersten Lebensjahres durch das Erreichen von Entwicklungsmeilensteinen im Bereich der Motorik, der Sprache und der Kognition zunehmend komplexer (vgl. auch Bindung).

Das Bindungssystem wird durch Fremdheit, Unwohlsein oder Angst aktiviert. Die entstehenden, zumeist negativen Emotionen, Stress und Erregung werden durch Nähe, liebevollen Körperkontakt und die Interaktion mit der Bezugsperson reguliert und damit beendet.

Das zum Bindungsverhaltenssystem komplementäre Explorationsverhaltenssystem bildet die Grundlage für die Erkundung der Umwelt in jeglicher Form. Somit ist Explorationsverhalten auch die verhaltensbiologische Grundlage von Lernen. Evolutionsbiologisch hat nur die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt zum Finden von Nahrung und zum Erkennen von Gefahren geführt. Somit ist Explorationsverhalten die Voraussetzung für das Überleben. Ein Kind kann sich also beispielsweise nur dann für ein angebotenes Spielzeug oder ein Bilderbuch interessieren, wenn sein Bindungsverhaltenssystem beruhigt ist. Die Voraussetzung für die Umwelterkundung ist eine „sichere Basis“, die es bei seiner Bezugsperson, zu der es eine Bindung aufgebaut hat, findet. Fühlt sich das Kind bei seinen Erkundungsversuchen überfordert (z.B. erschrickt es vor etwas, stellt sich Angst, Müdigkeit, Hunger, Schmerz oder Unwohlsein ein), wird das Bindungsverhaltenssystem aktiviert und der „sichere Hafen“ angesteuert. Bei der Bindungsperson erhält das Kind, meist über Körperkontakt und liebevolle Ansprache, seine emotionale Sicherheit zurück und es kann sich erneut der Erkundung der Umwelt widmen.

Die beiden Systeme verhalten sich komplementär zueinander, d.h. ist das eine System aktiv, kann das andere nicht aktiviert werden. Das Kind ist von Geburt an mit beiden Verhaltenssystemen ausgestattet, die jeweils durch Mangel aktiviert und durch Sättigung beruhigt werden. Beide Systeme sind komplementär und interdependent (Becker-Stoll 2005; Jungmann und Reichenbach 2016).

3 Bindungstypen

Wie flexibel das Kind die Balance zwischen den beiden Verhaltenssystemen gestalten kann und wie bedürfnis- und situationsangemessen es sich dabei verhält, hängt stark von der Feinfühligkeit und der Sensitiven Responsivität der Bezugspersonen ab. In Abhängigkeit davon, aber auch von den temperamentalen Eigenschaften von Eltern und Kind, den kulturellen Erziehungsnormen und den eigenen Bindungserfahrungen der Eltern entstehen drei verschiedene Bindungstypen: die sichere Bindung (Typ B), die unsicher-vermeidende Bindung (Typ A) und die unsicher-ambivalente Bindung (Typ C) (für eine ausführlichere Beschreibung der Bindungstypen, vgl. Bindung).

Die Bindungsdiagnostik im Kleinkindalter (12 bis 18 Monate) erfolgt mit dem Fremde Situation Test nach Ainsworth et al. (1979). Dabei handelt es sich um eine standardisierte Laborsituation, in der das kindliche Bindungsverhalten in acht Episoden zu je drei Minuten ausgelöst und beobachtet wird (s. Kasten 1).

  1. Mutter und Kind betreten das Spielzimmer.
  2. Sie akklimatisieren sich, und das Kind kann den ungewohnten Raum erkunden.
  3. Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf.
  4. Die Mutter geht, und die Fremde bleibt mit dem Kind zurück.
  5. Die Mutter kehrt zurück, und die Fremde geht.
  6. Die Mutter verlässt wieder den Raum, aber das Kind bleibt allein zurück.
  7. Die fremde Person kommt hinzu.
  8. Die Mutter erscheint, und die Fremde geht.

Kasten 1: Acht Episoden des Fremde Situation Test (FST, Ainsworth et al. 1979)

Die Kinder explorierten in Anwesenheit der Mütter deutlich mehr, insbesondere die beiden kurzen Trennungen von der Mutter in fremder Umgebung und die Wiedervereinigungssituationen erwiesen sich als indikativ für die drei verschiedenen Bindungsverhaltensstrategien.

Erst 1986 fügten Main und Salomon (1990) noch eine vierte Kategorie hinzu, die als „desorganisiertes und desorientiertes Muster“ (Typ D) bezeichnet wurde. Diese Kinder zeigen sehr auffällige, in sich widersprüchliche Verhaltensweisen, die zuvor als nicht klassifizierbar galten.

4 Inneres Arbeitsmodell von Bindung (Bindungsrepräsentation)

Die Art und Weise, wie sich das Bedürfnis nach Bindung und Exploration im konkreten Verhalten zeigt, wird laut Bindungstheorie durch innere Arbeitsmodelle gesteuert. Diese beinhalten das mit der Zeit gesammelte und gespeicherte Wissen über Bindungserfahrungen sowie Erwartungen und Vorstellungen hinsichtlich der Reaktionen der Bindungspersonen und über das eigene Selbst. Sie dienen der Interpretation, Planung und Vorhersage von Interaktionen mit ihren Bezugspersonen. Dabei unterliegt die Konstruktion und Organisation von Beziehungserfahrungen im inneren Arbeitsmodell einem Entwicklungsprozess. Nach den Forschungsergebnissen zur Gedächtnisentwicklung werden Beziehungserfahrungen und Erwartungsmuster zunächst im prozeduralen Gedächtnis gespeichert, dessen Inhalte auf (vorsprachlichen) sensomotorischen Lernerfahrungen basieren. So werden z.B. wiederholte Erfahrungen von feinfühligem Eingehen der primären Bezugspersonen auf die kindlichen Bedürfnisse in den ersten anderthalb Lebensjahren dort gespeichert. Etwa um den 18. Lebensmonat des Kindes herum können diese und andere Lernerfahrungen in Abhängigkeit von dem fortschreitenden Spracherwerb zunehmend auch im deklarativen Gedächtnis gespeichert und damit bewusst wieder abgerufen werden. Im Alter von etwa fünf Jahren sind Kinder mit dem Abschluss des Spracherwerbs in der Lage, die im inneren Arbeitsmodell abgespeicherten Beziehungsinformationen über sich selbst und die primären Bindungspersonen auch sprachlich mitzuteilen.

Vor dem Hintergrund des Zusammenspiels zwischen kognitiven, sprachlichen und sozial-emotionalen Entwicklungsprozessen lässt sich die Bedeutung des elterlichen Einflusses auf die Konstruktion von Bindungsrepräsentationen in den inneren Arbeitsmodellen nachvollziehen: So übernimmt das Kind etwa bis zum vierten Lebensjahr die Bewertung der Eltern, wenn es Erfahrungen oder Ereignisse darlegt oder aber vertritt. Damit ist auch erklärbar, wie eng die Entwicklung des eigenen Selbstkonzeptes mit elterlicher Kritik, Abwertung oder aber im positiven Sinne auch Würdigung und Wertschätzung verknüpft ist (Jungmann und Reichenbach 2016).

Bowlby (1980) prägte in diesem Zusammenhang auch den Begriff „multiple Arbeitsmodelle“. Er stellte in klinischen Beobachtungen fest, dass die PatientInnen häufig über mehr als ein Arbeitsmodell verfügten. Dies zeige sich in widersprüchlichen Schilderungen bezüglich derselben Bezugsperson. Er interpretierte dies als einen defensiven Selbstschutzprozess, welcher durch sich widersprechende Erfahrungen in der Wirklichkeit, zustande kam.

5 Quellenangaben

Ainsworth, Mary D. Salter, Mary C. Blehar, Everett Waters und Sally N. Wall, 1979. Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale: Erlbaum. ISBN 978-1-848-72681-9

Becker-Stoll, Fabienne, 2005. Von der Eltern-Kind-Bindung zur Erzieherin-Kind-Beziehung. In: Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen [online]. 83, S. 21–25, [Zugriff am: 14.07.2019]. Verfügbar unter: https://www.hss.de/download/publications/AMZ_83_Bildung_05.pdf

Bowlby, John, 1951. Maternal care and mental health. In: Bulletin of the World Health Organization. 3, S. 355–533.

Bowlby, John, 1959. Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung. In: Psyche. 13(7), S. 415–456. ISSN 0033-2623

Bowlby, John, 1980. Attachment and loss. New York: Basic books. ISBN 978-0-465-07691-8

Jungmann, Tanja und Christina Reichenbach, 2016. Bindungstheorie und pädagogisches Handeln. 4., verbesserte und erweiterte Auflage. Dortmund: Borgmann Verlag. ISBN 978-3-942976-20-6 [Rezension bei socialnet]

Main, Mary und Judith Solomon, 1990. Procedures for Identifying Infants as Disorganized/Disoriented during the Ainsworth Strange Situation. In: Mark T. Greenberg, Dante Ciccetti und E. Mark Cummings, Hrsg. Attachment in the preschool years: theory, research, and intervention. Chicago: University of Chicago Press, S. 121–160. ISBN 978-0-226-30629-2

Stegmaier, Susanne, 2008. Grundlagen der Bindungstheorie. In: Das Kita-Handbuch [online]. [Zugriff am: 15.07.2019]. Verfügbar unter: https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/1722

Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Jungmann
Universität Oldenburg, Professur für Sprache und Kommunikation und ihre sonderpädagogische Förderung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse
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