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Biopsychosoziales Modell

Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen

veröffentlicht am 19.11.2024

Weitere Schreibweise: Bio-psycho-soziales Modell

Abkürzung: BPS-Modell

Englisch: biopsychosocial model; bio-psycho-social model

Das biopsychosoziale Modell beinhaltet das Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren mit ihren Wechselwirkungen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und der Gesundheit. Es wurde 1976 vom amerikanischen Internisten und Psychiater George L. Engel (1913–1999) beschrieben und ist ein international anerkanntes Krankheitsmodell.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Entwicklungen des Modells
    1. 2.1 BPS-Modell nach Engel
    2. 2.2 Gestaltkreis
    3. 2.3 Der Ansatz von Thure von Uexküll
    4. 2.4 Weitere Konzepte
    5. 2.5 Differenzierung des Konzeptes durch Egger
  3. 3 Die Bedeutung des Modells in verschiedenen Kontexten
    1. 3.1 Gesundheitsdefinition der WHO und ICF
    2. 3.2 Biopsychosoziale Medizin
    3. 3.3 Beratung und Psychotherapie
      1. 3.3.1 Humanistische Psychotherapie
      2. 3.3.2 Systemische Perspektive
      3. 3.3.3 Modell der strukturellen Kopplung
      4. 3.3.4 Kritische Perspektiven
    4. 3.4 Soziale Arbeit und Klinische Sozialarbeit
      1. 3.4.1 Biopsychosoziale Beratung
      2. 3.4.2 Gestaltungsdiagnostik
    5. 3.5 Psycho-neuro-immunologische und psychobiologische Forschung
  4. 4 Kritik am biopsychosozialen Modell
  5. 5 Kritik an der noch nicht vollzogenen Umsetzung
  6. 6 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Bei Störungen des menschlichen Wohlbefindens sind in biopsychosozialen Modellen (BPS-Modell) immer zugleich, wenn auch jeweils in einem unterschiedlichen Ausmaß, körperlich-leibliche, psychische und soziale Systeme beteiligt. Das biopsychosoziale Modell wurde insbesondere von George L. Engel (1976) formuliert. Es ist das mit Abstand häufigste zitierte Paradigma (Egger 2008a), obwohl das biomedizinische Modell, welches auf Descartes zurückgeführt wird, mit seiner strikten Trennung zwischen Soma (Körper) und Psyche, heute immer noch in weiten Bereichen der klassischen Medizin ein gängiges Modell ist.

Mit der Entwicklung des BPS-Modells wurde ein Paradigmenwechsel von der klassisch naturwissenschaftlichen Annahme linear-kausaler und analytisch zu erforschender Zusammenhänge hin zu nicht-linearen oder zirkulären Verursachungs-Zusammenhängen vorgenommen.

2 Entwicklungen des Modells

Seit den 1950er-Jahren werden biologische, soziale und psychische Risikofaktoren zum Krankheitsgeschehen systematisch untersucht. Thematisiert wurden z.B. genetische Dispositionen, eine niedrige soziale Schicht, kritische Lebensereignisse, gesundheitsschädigendes Verhalten und Persönlichkeitseigenschaften. Die methodischen Anforderungen einer solchen epidemiologischen Risikofaktorenforschung waren eine große Herausforderung, um das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren aufzudecken und in Ätiologie- und Verlaufsmodelle zu integrieren (Pauls 2013, S. 16).

2.1 BPS-Modell nach Engel

In den 1970er-Jahren entwickelte Engel (1976) das BPS-Modell, welches Kranksein nicht mehr in Teilbestandteile trennt, um diese isoliert zu untersuchen und isoliert zu behandeln (Gahleitner et al. 2013, S. 3) und somit die Trennung in „Psyche“ und „Soma“, die aus der Vorstellung eines psychophysischen Dualismus (nach Descartes) stammt, zu überwinden. Das von Engel (1976) beschriebene Modell beinhaltet das Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren mit ihren Wechselwirkungen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und kann somit als „ganzheitliche“ Sichtweise betrachtet werden. Deutlich wurde dies z.B. bei der Erforschung chronischer Erkrankungen (z.B. chronische Rückenschmerzen). Hier reichte das traditionelle, rein biomedizinisch orientierte Krankheitsverständnis mit seiner dichotomen Betrachtung nicht mehr aus, da sich viele Erkrankungen nicht auf einen somatogenen oder psychogenen Kern oder eine bloße Addition somatischer und psychischer Faktoren reduzieren lassen.

Begründet und weiterentwickelt wurde das BPS-Modell von vielen Autor:innen (z.B. Uexküll 1996; Egger 2020a; Kriz 2023; Petzold 1993).

2.2 Gestaltkreis

Viktor von Weizsäcker ersetzte die kausale und individuumszentrierte Orientierung in der Neurologie und Psychosomatik durch die „Verklammerung von Organismus und Umwelt“ (1973, S. 191). Er bezeichnete dies als Gestaltkreis, mit dem er die implikative Einheit von Wahrnehmen und Bewegen erklären wollte, um die Subjektivität in eine strukturelle Beziehung zur Umwelt zu stellen und die in der Biologie und Medizin verfestigte sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung infrage zu stellen und zu überwinden.

2.3 Der Ansatz von Thure von Uexküll

Thure von Uexküll (1996) beschrieb im Standardwerk der „Psychosomatischen Medizin“ ein biopsychosoziales Modell der Entstehung von Krankheiten, indem er Erkenntnisse der Physik, Biologie, Psychologie und Soziologie auf verschiedenen Ebenen integrierte. Von Uexküll gründet seinen Ansatz auf die Semiotik, ein von ihm weiterentwickeltes Modell des Funktionskreises, und auf die Systemtheorie. Das Modell eines Funktionskreises entwickelte sein Vater, der Biologe Jakob von Uexküll. Dieser beschreibt den Aufbau der Umwelt eines Lebewesens in drei Schritten eines Zeichenprozesses (Semiose), nämlich das Zeichen (z.B. die Wahrnehmung eines „Etwas“ in einem Baum), der Interpretant (das Zeichen erweckt eine Vorstellung beim Interpreten, z.B. die Vorstellung eines Apfels) und das Bezeichnete (der Apfel).

Er geht davon aus, dass Wirklichkeit nicht vorgefunden wird, sondern im Umgang mit Objekten erzeugt werden muss und kommt so zu der Feststellung, dass Gesundheit und das Erzeugen von Wirklichkeit zusammengehören und damit zur Wiedereinführung des Subjekts in die Medizin.

Im Zusammenspiel der Systeme geht von Uexküll von sogenannten „Aufwärts- und Abwärtseffekten“ in einem hierarchischen System aus. Zeichensysteme (Hormone und Nervenaktivitätsströme) übernehmen zwischen den Organen und den Ebenen den Informationsaustausch. Auf der nächstkomplexeren Ebene vermitteln psychische Prozesse die Verbindung zwischen Organismus und Umgebung. Dieser Vorgang geschieht mittels bedingter Reflexe, wie sie Pawlow beschrieb, nämlich mithilfe der Übersetzung von Nachrichten aus einem von von Üexküll sogenannten psychischen Zeichensystem in ein System somatischer Zeichen und umgekehrt (Uexküll 1996; Egger 2008a). Bei dieser Übersetzung kommt eine Verbindung zwischen der psychischen und somatischen Ebene zustande. Diese Bedeutungskoppelungen treten nur periodisch auf. D.h. sie sind nur in Situationen möglich, in denen die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind, oder wie es von Uexküll formuliert, eine entsprechende „Stimmung“ vorhanden ist, die als vulnerable Phase verstanden werden kann.

Die Bedeutungskopplung erteilt einem zuvor neutralen, d.h. für den Organismus nicht existenten Ausschnitt der Umgebung, eine Bedeutung als ein psychisch erlebtes Zeichen für die Steuerung des Verhaltens. Gleichzeitig stellt die Bedeutungskopplung einen Zusammenhang zwischen dem bedeutungsvoll erlebten Umgebungsausschnitt und dem biologischen System her. Allerdings versteht von Uexküll die Hierarchie der Systeme nicht im Sinne einer Herrschaftsordnung, vielmehr organisieren sich die Systeme als autopoietische kreisförmige Zeichenprozesse. Erleben und Verhalten werden so durch Beziehungen verknüpft, in denen die Rollen von Sender und Empfänger wechseln. Hierbei erfolgen die Reaktionen auf die Anstöße (Perturbationen) biografisch, d.h. aufgrund der Geschichte des Systems. Von Uexküll geht davon aus, dass prägende Bedeutungskoppelungen meist bereits in der frühen Kindheit geknüpft werden.

2.4 Weitere Konzepte

Weitere wichtige Hinweise entstanden aus Studien zur Allgemeinen Systemtheorie und deren Anwendung aus der Biologie als auch in den Sozialwissenschaften durch Gregory Bateson (1972) und Ludwig von Bertalanffy (1949). Ausformuliert und benannt wurde das BPS insbesondere von George L. Engel (1976). Weitere bedeutsame Autoren sind z.B. der Gestalttherapeut Paul Goodman, Herbert Weiner und der Nobelpreisträger Eric Kandel (2006), der dieses Modell zur Entwicklung einer Theorie der Materie-Geist-Einheit nutzte. Auch Hilarion Petzold mit seinem Konzept einer Humantherapie (1993) oder Vertreter:innen der Gesundheitspsychologie (health psychology) (z.B. Grawe 2004) und der Psychoimmunologie (z.B. Schubert 2015) entwickelten das Modell weiter. Auf Joseph W. Egger (2005, 2008a, 2008b, 2020a) als der heutige bedeutsamste Vertreter soll etwas ausführlicher eingegangen werden.

2.5 Differenzierung des Konzeptes durch Egger

Für Egger (2020a) ist das BPS-Modell, die Theorie der Körper-Geist-Einheit, das gegenwärtig kohärenteste, kompakteste und auch bedeutendste Theoriekonzept, innerhalb dessen der Mensch in Gesundheit und Krankheit erklärbar und verstehbar wird. Egger (2020a) geht von einer allgemeinen Systemtheorie (Bertalanffy 1949) als Kontinuum von Einheiten (Systemen) aus, in der größere, komplexere Einheiten (= Systeme oder Ganzheiten) hierarchisch weniger komplexen Einheiten gegenüberstehen. Jedes System in dieser Hierarchie (s.u.) repräsentiert ein dynamisches System (oder eine Ganzheit) mit ganz spezifischen Eigenschaften. Dabei sind alle Ebenen prinzipiell verbunden.

Der Mensch ist in dieser Hierarchie ein Teil umfassender Systeme und zugleich stellt er selbst ein System dar, das aus vielen Subsystemen besteht. Bereits Engel (1976, zitiert nach Egger 2008, S. 13) nennt folgende Ebenen: Biosphäre, Gesellschaft, Nation, Kultur, Subkultur, Gemeinde, Familie, Dyade, Peron, Nervensystem, Organe/​Organsystem, Gewebe, Zellen, Organellen, Moleküle, Subatomarer Bereich. Im Kern geht es darum, dass die Natur auf einem Kontinuum geordnet ist (Egger 2005, S. 4), wobei die komplexeren, größeren Einheiten, jeweils über den weniger komplexen, kleineren Einheiten, in einer hierarchischen Ordnung von Systemen aufgebaut sind. Egger führt dazu aus:

„Jedes Niveau in dieser Hierarchie repräsentiert ein organisiertes dynamisches System (oder ‚Ganzheit‘) und jedes System weist Qualitäten und Beziehungen auf, die für dieses Organisationsniveau typisch sind. Nichts existiert isoliert, alle Ebenen der Organisation sind verbunden, so dass eine Änderung auf einer Ebene im Prinzip auch eine Änderung in den anderen, v.a. den angrenzenden Systemebenen bewirken kann. Ein Ereignis läuft aufgrund der vertikalen und horizontalen Vernetzung mehr oder minder gleichzeitig auf verschiedenen Dimensionen ab, was technisch dem Prinzip der parallelen Verschaltung entspricht“ (Egger 2005, S. 5).

In der Folge bedeutet dies,

„dass die Gleichung von genetisch = biologisch und von psychologisch = umweltbedingt gleichermaßen falsch ist wie die Dichotomisierung zwischen biologisch und psychologisch. Vererbt sind genetisch codierte Prädispositionen für die Entwicklung von Ereignissen oder Prozessmustern, die ihrerseits wieder verstanden werden können in sowohl biologischen wie psychologischen Begriffen“ (a.a.O. S. 9).

Egger konstatiert, dass ein Ereignis aufgrund der vertikalen und horizontalen Vernetzung mehr oder minder gleichzeitig auf verschiedenen Dimensionen abläuft, was technisch dem Prinzip der parallelen Verschaltung entspricht, aber nicht beinhaltet, dass alle Effekte zur gleichen Zeit einsehbar sind. Wechselwirkungen innerhalb und zwischen den Systemebenen sind zu beobachten. Im Normalfall können alle beteiligten Faktoren nicht aufgeschlüsselt werden, so verbleibt eine Rest-Unschärfe (Egger 2005, S. 4). Es gilt, so Egger (2005, S. 3), dass bei jedem Krankheitsprozess psychosoziale Faktoren als potenzielle Einflussgrößen zu kalkulieren sind. Für Egger (2008a, S. 18) beinhalten die sozialen Ebenen auch öko-soziale Daten (physiko-chemische, soziale Umwelten, funktionelle Bereiche).

Ein zentraler Begriff in diesem Modell ist die Emergenz. Dies meint das Hervorbringen von Phänomenen, die auf der jeweils darunterliegenden Systemebene nicht vorhanden sind und die deswegen dort auch nicht als Erklärungsgrundlage zur Verfügung stehen. Beispielsweise kann ein psychologisches Konstrukt wie die „Selbstsicherheit“ auf der physiologischen Ebene nicht gefunden werden. Dort finden wir lediglich vielfältige nervöse oder biochemische Erregungsmuster, die ohne Kenntnis der übergeordneten Funktion in ihrer psychologischen Bedeutung nicht zu verstehen sind. Jede dieser Ebenen ist nach systemischen Überlegungen aus der jeweils darunterliegenden, geringer komplexen Ebene durch den Vorgang der Emergenz hervorgegangen (Schubert 2015, S. 419).

Für Egger (2005, S. 5) sind alle Krankheits- und Gesundheitsprozesse potenziell multideterminiert, wobei immer hemmende und fördernde Prozessanteile mitgedacht werden müssen. Emergenz beschreibt das Phänomen, dass sich ab einem gewissen Komplexitätsniveau eine nächsthöhere Ebene, ein neues System, mit neuen Eigenschaften herausbildet. Diese Eigenschaften lassen sich nicht aus der Summe seiner Bestandteile erklären, d.h. das Ganze ist mehr, es ist etwas Anderes.

„Da das ‚Ganze‘ einer Krankheit (oder Gesundheit) – und damit sind alle relevanten Systemebenen gemeint – als solches nicht fassbar ist, macht es natürlich weiterhin Sinn, für die Detailauflösung dimensional vorzugehen“ (Egger 2008a, S. 15).

In diesem Kontext weist Egger darauf hin, dass als eine weitere Folge dieses Konzeptes der Begriff der Komorbidität so zu verstehen sei, dass wahrscheinlich die „meisten“ Störungen auf (qualitativ) unterschiedlichen Regelkreisen ablaufen. Diese Kreise sind als parallel ablaufende Vorgänge mit oder ohne erkennbare Wechselwirkungen auf den angrenzenden hierarchischen Systemen zu verstehen sind. Aufgrund der zugrunde liegenden unterschiedlichen Rhythmen können sie auch zeitlich verschoben in Erscheinung treten (Umgangssprachlich: „Man kann Läuse und Flöhe gleichzeitig haben“ (a.a.O., S. 8 f.).

Egger führt 2015 (S. 43 ff.) ergänzend aus, dass sich mit einem erweiterten biopsychosozialen Modell das logische und empirisch-wissenschaftliche Problem der „Psychosomatik“ auf systemtheoretischer (und semiotischer) Basis einigermaßen zufriedenstellend lösen ließe. Demnach könne es keine psychosomatischen Krankheiten geben. Krank ist ein Mensch,

„wenn der Organismus die autoregulative Kompetenz zur Bewältigung von auftretenden Störungen auf beliebigen Ebenen des Systems ‚Mensch‘ nicht ausreichend zur Verfügung stellen kann und relevante Regelkreise für die Funktionstüchtigkeit des Individuums überfordert sind bzw. ausfallen. Wegen der parallelen Verschaltung der Systemebenen ist es nicht so bedeutsam, auf welcher Ebene oder an welchem Ort eine Störung generiert oder augenscheinlich wird, sondern welchen Schaden diese auf der jeweiligen Systemebene, aber auch auf den unter- oder übergeordneten Systemen zu bewirken imstande ist“ (Egger 2015, S. 12).

Krankheit und Gesundheit sind somit nicht ein Zustand, sondern ein dynamisches Geschehen.

3 Die Bedeutung des Modells in verschiedenen Kontexten

Nachfolgend werden ausgewählte Aspekte aus verschiedenen Wissenschaften/​Arbeitsfeldern benannt.

3.1 Gesundheitsdefinition der WHO und ICF

Gesundheit wird seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert als Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen. Dieser ganzheitliche Ansatz fokussiert die Wechselwirkung von Körper, Seele und Geist, die in einem Verbund stehen und sich reziprok beeinflussen. Die WHO geht bei ihrer Definition von Gesundheit von einem umfassenden biopsychosozialen Modell aus. Darin ist eine deutliche Abkehr von einem rein organisch orientierten Gesundheitsverständnis zu erkennen. Persönlichkeitsmerkmale und Umweltfaktoren erhalten ein bedeutsames Gewicht.

Mit dem ICF (International Classification of Function, Disability and Health 2005) wird dieser Grundgedanke weitergeführt. Im ICF werden Komponenten von Gesundheit gemeinsam mit einigen zusammenhängenden Komponenten wie Erziehung, Bildung und Arbeit klassifiziert. Diese Klassifikation bietet eine systematische Betrachtung von Gesundheitsproblemen des Menschen anhand der Kategorien Körperfunktionen (inklusive mentaler Funktionen), Körperstrukturen, Aktivitäten, Teilhabe, Umweltfaktoren und personalen Faktoren.

Umweltfaktoren können gesundheitsförderlich sein oder als gesundheitliche Barrieren eingeschätzt werden (sowohl defizitorientiert als auch ressourcenorientiert). Im ICF werden Komponenten von Gesundheit gemeinsam mit einigen mit der Gesundheit zusammenhängenden Komponenten von Wohlbefinden wie Erziehung, Bildung und Arbeit klassifiziert.

3.2 Biopsychosoziale Medizin

Die biopsychosoziale Medizin versteht sich als notwendige Ergänzung der bisher vorherrschenden biomedizinisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung der Humanmedizin. Das wissenschaftliche Maschinenparadigma („der Mensch als komplexe Maschine“) wird durch ein ganzheitliches Modell erweitert, das den Menschen als körperlich-seelisches Wesen in seinen öko-sozialen Lebenswelten betrachtet. Die biopsychosoziale Medizin ergänzt somit das biomedizinische Modell der Humanmedizin, indem sie die herkömmliche Psychosomatik mit ihrer Dichotomie von Körper und Seele überwindet. Sie thematisiert die Gleichzeitigkeit von psychischen und physiologischen Prozessen innerhalb ein und desselben Ereignisvorgangs im Kontext der öko-sozio-kulturellen Rahmenbedingungen. In diesem Verständnis ist ein psychisches Ereignis (jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Handlungsimpuls etc.) immer zugleich auch ein physiologisches Ereignis. Bestätigungen für diese „parallele Verschaltung“ kommen u.a. aus der Psychoimmunologie, Neurobiologie, Verhaltensmedizin und Gesundheitspsychologie.

Für die Praxis bedeutet dies, dass für die Diagnostik der Krankheitsphänomene alle relevanten Informationen aus den physiologischen, psychologischen und lebensweltbezogenen Bereichen parallel erfasst und integriert werden. Auch Interventionen erfolgen in einer parallel organisierten Therapie bezogen auf alle Systembereiche.

In den 1990er-Jahren war das „biopsychosoziale Modell“ für die Psychiatrie ein Leitmotiv. Einerseits ist das biopsychosoziale Modell heute weitgehend akzeptiert, andererseits führt das Soziale in der Medizin als mit zu berücksichtigende/​behandelnde Ebene im Gesundheitswesen ein Nischendasein (Pauls 2013).

Kritiken aufnehmend stellt Egger (2015, S. 47 f., 2020b) aufbauend ein Modell zur Simultandiagnostik und Simultantherapie vor. Für die Umsetzung dessen mache es Sinn, sich zunächst interdisziplinär über ein gemeinsames, die jeweilige Disziplin überschreitendes Verständnis der entsprechenden Störung wenigstens ansatzweise zu einigen.

3.3 Beratung und Psychotherapie

3.3.1 Humanistische Psychotherapie

Für die humanistische Psychotherapie weist Kriz (2023, S. 27) auf eine Definition des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (AGHPT) von 2012 hin, nach der mit „Gesamtgegebenheiten“ keineswegs nur äußere (materielle und soziale) Faktoren, sondern auch die biopsychosozialen Strukturen im Laufe der bisherigen Biografie, sowie essenziell auch die nach selbstbestimmter, intentionaler, sinnorientierter Entfaltung drängenden vital-kreativen Kräfte und Potenziale des Menschen gemeint sind.

„Nosologisch gesehen können diese Gesamtgegebenheiten in der Entwicklung des Menschen auf materieller, somatischer, psychischer oder interaktioneller Ebene zur Herausbildung von Mustern in den Lebensprozessen (wozu auch Erleben und Verhalten gehört) geführt haben, die besonders für neue Entwicklungsaufgaben und Bedingungen nicht adaptiv sind“ (Kriz 2023, S. 27).

Kriz (a.a.O., S. 48) konstatiert zudem, dass die Humanistische Psychotherapie vor der Aufgabe steht, sich mit ihrem Menschenbild und ihren Konzepten in der konkreten psychotherapeutischen Arbeit von der Fülle an Passungsproblemen zwischen objektiv beschreibbaren und subjektiv erfahrbaren, biopsychosozialen Prozessen, ihren Manifestationen im Körper, in den Biografien, in den interpersonellen und kulturellen Strukturen und vor allem der Gestaltung der therapeutischen Beziehung leiten zu lassen.

3.3.2 Systemische Perspektive

Aus einer systemischen Perspektive nach Simon (1993) sind Lebewesen füreinander Umwelten, in der jedes die anderen aus dem Gleichgewicht bringen, in „Krisen stürzen“ und damit neue Passungen erforderlich machen kann. Bei der Kopplung von einfacheren zu komplexeren Systemen, den Übergängen von der Ebene anorganischer Stoffe zu biologischen Systemen und weiter zu psychischen und sozialen Systemen treten sprunghaft neue Phänomene (Emergenz) auf, die es auf der Ebene der Subsysteme oder Elemente nicht gibt. Für die Reaktion des Subsystems ist nicht nur der äußere Vorgang entscheidend, sondern auch der innere Zustand (die Reaktionsbereitschaft) des Systems. So wird beispielsweise ein Organismus nicht primär durch Reize, sondern durch Bedürfnisse (z.B. nach Nahrung, Wärme.) veranlasst zu reagieren. Emotionen dienen als Mittler zwischen Individuum und Umwelt. Das kausale Ursache-Wirkungs-Prinzip (Reizreaktionsmodell) wird so durch kreisförmige Modelle ersetzt, wobei zur Befriedigung eines Bedürfnisses nur das von Bedeutung ist, was von einem System dafür anerkannt worden ist. Alles andere, was in der Umgebung sonst vorhanden sein mag, existiert für den Betrachter, jedoch nicht für das System.

Unterschiedlich werden systemtheoretisch die Kopplungen von Körper, Psyche und soziale Welt im Kontext ihrer jeweiligen Selbstorganisation betrachtet, d.h. insbesondere, ob die anderen Bereiche jeweils als „operational geschlossen“ betrachtet werden oder ob ihnen ein gemeinsamer „Raum“ zugeschrieben wird (z.B. Levold und Wirsching 2014, Lambers 2010, Beushausen 2013).

3.3.3 Modell der strukturellen Kopplung

Luhmann (1994) geht in seinem Modell der „strukturellen Kopplung“ (Interpenetration) davon aus, dass Systeme voneinander abhängig sind, sie können ohne andere nicht existieren und operieren. Im Prozess der strukturellen Kopplung vollziehen Systeme einen Entwicklungsprozess, indem jedes System die Überlebensbedingungen und Selektionskriterien für das Verhalten und die Strukturen anderer Systeme beeinflusst. Es gibt für Luhmann keinen Einbau von Operationen des einen Systems in ein anderes, sondern nur Irritationen, mit der Folge, dass im irritierten System Unsicherheiten entstehen, für die dann eine Lösung gesucht werden muss, die mit der Fortsetzung der Autopoiese des Systems kompatibel ist (Luhmann 1995). Damit es zu einer strukturellen Kopplung kommt, sind Wiederholungen in den Interaktionen notwendig. Für die Entwicklung von Systemen ist daher entscheidend, an welche Umwelten es dauerhaft gekoppelt ist. Im Rahmen des Prozesses der strukturellen Kopplung begrenzen Systeme gleichzeitig ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Ein System verhält sich so lange entsprechend der Logik ihrer internen Organisation, bis es „gestört“ (perturbiert) wird und das Gleichgewicht verliert. Die internen Strukturen organisieren sich neu, bis die Störung kompensiert ist und ein neues Gleichgewicht entwickelt ist. Bei der nächsten Störung wird der Zyklus erneut durchlaufen (Luhmann 1994). Für die Entwicklung von Systemen ist daher entscheidend, an welche Umwelten sie dauerhaft gekoppelt werden.

Aus dieser systemischen Perspektive sind für Luhmann biologische, psychische und soziale Systeme füreinander Umwelten. Diese Annahme schließt aus, dass Systeme und Umwelten direkt aufeinander einwirken bzw. aus sich heraus in die Operationen anderer Systeme einwirken können. Die Annahme, dass Psyche und soziale Umwelt füreinander wechselseitig Umwelt sind, ist für Luhmann eine „heilsame Radikalkur gegen die alte Krankheit des Holismus, der alles verschlingenden Ganzheitseuphorie“ (Luhmann 1995, S. 31).

Durch eine Perturbation, darauf verweist Simon (2012), gerät ein System in eine „Krise“ und verlässt den Ruhezustand. Die alten Operationen verlieren ihren Nutzen, was nicht nur negativ, sondern auch positiv sein kann und führen zu einer neuen Anpassung, da ein System sich verändern muss, wenn es überleben will. Ohne Perturbationen und „Krisen“, ohne „Störungen“ von Ruhe und Ordnung gibt es keine Evolution. Somit sind Perturbationen Störungen und Anregungen und gleichzeitig Chancen und Gefahren.

3.3.4 Kritische Perspektiven

Die Vorstellung von Luhmann, der das Ineinandergreifen von Systemen auf die System-Umwelt-Frage reduziert und damit Input- und Output-Beziehungen ausschließt, wird z.B. von Kriz (1999) kritisch bewertet. Der Ausschluss dieser Beziehungen ist für ihn ein Mangel, neben der Bedeutung, die die Rekursivität besitzt, gibt es durchaus noch Linearität bzw. Kausalität. Historische Ereignisse erfolgen nacheinander, es gibt somit Interaktionen, die in einem linearen Modell besser erfasst werden können als in einem geschlossenen zirkulären Modell. Zu bedenken sei zudem: Auch wenn wir den inneren Zustand einer anderen Person nicht instruktiv festlegen können, haben wir beispielsweise gegenüber einem Kind genügend Mittel, durch Sozialisation zu prägen, Verhalten und Entwicklung einzugrenzen und zu manipulieren. Daher unterscheidet Simon (2012) die harte (z.B. die Gewalt eines Erwachsenen gegenüber einem Kind) und die weiche (z.B. ein Konflikt auf der Arbeit) Wirklichkeit. Die jeweilige Härte von Strukturen sei im individuellen Fall möglicherweise härter, also prägender.

Luhmann konzentriert sich hauptsächlich auf die Verbindung (Kopplung) zwischen psychischen und sozialen Systemen. Die Rolle des Organismus und die Bedeutung der organischen/​leiblichen Ebenen für soziale und psychische Systeme bleibt für ihn weitgehend unbeantwortet (Luhmann 1997).

Offen ist zudem: Wenn der Mensch und somit auch sein Gehirn aus lauter Atomen besteht, wie können Atome Bewusstsein haben? Wie wird aus Nervenimpulsen Bewusstsein? Diese Fragen können die Psychologie und die Soziologie nicht beantworten. Hierzu werden u.a. grundlegende Beiträge der Neurobiologie und der Quantenphysik benötigt (z.B. Schubert 2015).

Die Autor:innen systemischer Ansätze sind sich einig, dass keine funktionale Einheit monokausal ursächlich bestimmend ist (Lieb und Baumann 2022, S. 221). In systemischen Ansätzen liegt der Fokus bei der Betrachtung der sozialen Ebene auf Kommunikation, während bedeutsame soziale Faktoren wie Arbeit und Wohnungssituation vernachlässigt werden.

3.4 Soziale Arbeit und Klinische Sozialarbeit

Bereits 2002 kritisierten Ortmann und Schaub, dass „der biologische Zugang der gesellschaftlich akzeptierte, der psychologische der in Grenzen gewollte und der soziale als der vernachlässigte angesehen werden kann“ (Ortmann und Schaub 2002, S. 35). In der Folgezeit wurden insbesondere in der Klinischen Sozialarbeit, aber auch z.B. in der psychosozialen Traumatologie und in der Sozialen Diagnostik BPS-Modelle genutzt. Auf einige Autor:innen soll hingewiesen werden:

3.4.1 Biopsychosoziale Beratung

Wälte und Borg-Laufs (2021, S. 102) stellen ein Konzept einer biopsychosozialen Beratung und speziell der Diagnostik vor, in das komplexe Informationen in die Erklärungskonzepte der psychosozialen Probleme der Klient:innen einfließen. In der Beratung können diese Problemkonstellationen der Klient:innen beobachtbar, analysierbar und erklärbar werden, also nicht nur Störungen, sondern auch Konflikte, Krisen, Belastungen, Ressourcen und ambivalente Motivationen in den Wechselwirkungen zwischen Körper, Psyche und sozialer Situation auf unterschiedlichen Systemebenen der Klientel (Person, Paar, Familie, Gruppe, bei Beratungsprozessen auch im Team und der Organisation). Mit dieser Betrachtungsweise werden Probleme der Klient:innen in ihren komplexen individuellen biopsychosozialen Bezügen eingeordnet und es wird der aktive Status der Klient:innen betont.

In diesem Modell entstehen Probleme dadurch, dass eine Person ihre autoregulativen Bewältigungskompetenzen, die innerhalb oder außerhalb der Person entstehen können, nicht mehr aufrechterhalten kann (Wälte und Borg-Laufs 2021, S. 103). Hierbei ist die Ätiologie der Probleme durch die dynamische Wechselwirkungen der biologischen, psychischen und sozialen Faktoren multifaktoriell bedingt. Das Modell ermöglicht eine hypothetische Gewichtung der Faktoren für spezifische psychosoziale Problemkonstellationen. So ist beispielsweise der Einfluss biologischer Faktoren bei der akuten Intoxikation durch psychotrope Substanzen erheblich, allerdings sind hier soziale Einflüsse (z.B. die Trinkkultur im jeweiligen Netzwerk) und psychische Faktoren beeinflussend. Andererseits können psychische Faktoren von besonderer Gewichtung sein. Dies träfe, so Wälte und Borg-Laufs (2021, S. 105), z.B. für die Entstehung und den Verlauf von spezifischen Phobien zu. Allerdings würde, so z.B. Ningel (2001, S. 44), den sozialen Dimensionen im Gesundheitswesen nicht der ihr zukommende Platz eingeräumt.

3.4.2 Gestaltungsdiagnostik

Gahleitner et al. (2014, S. 138) sprechen im Kontext der Sozialen Diagnostik von einer Gestaltungsdiagnostik als praxisnahe, biopsychosoziale Diagnostik zum Zweck der konkreten Interventionsgestaltung. Sie müsse medizinische, psychologische, soziologische, pädagogische und kulturwissenschaftliche Wissensbestände nutzen. Für Pauls (2013) analysiert eine psychosoziale Diagnostik Lebenslagen, -weisen und -krisen, sowie ihre Veränderungen unter den jeweiligen Kontextbedingungen, das Verstehen von Zusammenhängen und das fachliche Begründen von psychosozialen Interventionen. Im Dialog zwischen Klient:innen und Sozialarbeiter:innen werden die zu bearbeitenden Aufgaben besprochen und Interventionen festgelegt. Solch eine lebensweltorientierte Diagnostik umfasst die „Passung“ zwischen Subjekt und Außenwelt. Dafür sind sozial- und lebensweltorientierte diagnostische Instrumente eine zentrale Hilfe (Gahleitner et al. 2014). Klassische sozialarbeiterische Instrumente für das Fallverstehen und die Diagnostik, beispielsweise eine Zeitleiste, das Genogramm, Ressourcen- und Netzwerkkarten können eingesetzt werden.

In der psychosozialen Traumatologie wird ebenfalls Bezug auf das Modell von Engel genommen (z.B. Gahleitner et al. 2022; Hoch 2022, Beushausen und Schäfer 2021).

3.5 Psycho-neuro-immunologische und psychobiologische Forschung

Vertreter:innen dieser Forschungsansätze (z.B. Schubert 2015) weisen auf vielfältige Zusammenhänge zwischen psychosozialen Belastungen, einer Vulnerabilität, Bewältigungsressourcen, immunologische und hormonalen Reaktionen hin. Schubert (2015, S. 419) bezieht sich hierbei u.a. auf das biosemiotisch-systemische Paradigma von von Uexküll.

4 Kritik am biopsychosozialen Modell

Das von George L. Engel 1976 begründete Modell weist wissenschaftstheoretisch einige gravierende Schwachstellen auf. Egger (2020b) entwickelte als Erweiterung eine „Theorie der Körper-Seele-Einheit“. Diese neueste Fassung besitzt, so der Autor, die bisher größte Kompetenz zur Integration der relevanten Datenmengen aus den beteiligten Systemebenen. Aber auch hier verbleibt ein Problem auf der semantischen Ebene, da es keine einheitliche Sprache für die physiologischen Phänomene einerseits und für die psychologischen Phänomene anderseits gib, d.h. die Phänomene werden weiterhin in zwei unterschiedlichen Terminologien beschrieben (in einer Sprache für „Körperliches“ und in einer für „Seelisches“), obwohl sie zu einer einzigen Wirklichkeit gehören.

In der Sozialen Arbeit besteht Konsens, dass der Mensch als physisch-psychische Reproduktion in seiner sozialen Situation, einschließlich der Ressourcen, erfasst werden kann. Kröger et al. (2024, S. 86) weisen darauf hin, dass der Salutogenese, hier verstanden als Kompetenz sich mit potenziell schädigenden Anforderungen auf konstruktive Art auseinandersetzen zu können, eine besondere Bedeutung zukommt. Diese Widerstandsressourcen können auf den unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein.

Wälte und Borg-Laufs (2021, S. 107) bemängeln vor allem die pathogenetische Ausrichtung, mit der die Frage ausgeblendet wird, was den Menschen gesund hält. Diese Kritik lässt sich allerdings gut aufnehmen, wenn generell die inneren und äußeren Ressourcen fokussiert werden.

Ergänzend sollte bedacht werden, dass soziale Umwelten immer auch ökologische Zusammenhänge inkludieren. Petzold betonte bereits ab 1975 (1993) die Einflüsse ökologischer Faktoren in einem Lebensspannenkonzept, welches bereits pränatal beginnt. Solch ein sozialökologischer Ansatz bezieht konzeptionell die lebenslang anhaltenden, komplexen Wechselwirkungsprozesse zwischen Erleben und Verhalten des Menschen und seinen gesellschaftlich-politischen, kulturellen, rechtlichen und ökonomischen Faktoren in stetigen dynamischen Wechselbeziehungen ein.

Deutlich wird, dass der Begriff „bio“, bzw. der Körperbegriff, sehr unterschiedlich begriffen wird. Die systemischen Therapien nutzen insbesondere den Körperbegriff, in der Psychosozialen Traumatologie wird u.a. von Körpergedächnis gesprochen, während in der Integrativen Therapie (z.B. Petzold 1993) der Leibbegriff genutzt wird. Für Petzold wird oft der Leib Ort des Geschehens, er wird zum Ausdrucksort von Symptomen, d.h. wir erkranken immer leibhaftig. Leibsubjekt und Lebenswelt sind miteinander verschränkt. Alle seelischen Vorgänge, das Wahrnehmen, Empfinden, Nachdenken, in Kontakt treten u.a. sind parallel auch leibliche Vorgänge. Der Begriff „Leib“ umschließt so die Dimensionen Körper, Seele, Geist und Sozialität, während der Begriff „Körper“ lediglich die materielle Grundlage des Menschen meint. Petzold geht in diesem Leibkonzept von der „Enkulturation“ und der „Sozialisation des Körpers“ aus, durch die sich der Leib als „individual and social body“ entwickelt. Der Leib ist somit ein soziales Phänomen, er ist intersubjektiv gestaltet und schließt kognitive und affektive Aspekte ein. Die biologische und die gesellschaftliche Existenz des Menschen können nicht unabhängig voneinander, sondern nur als ein Wirkungszusammenhang gedacht werden (Petzold 1993).

5 Kritik an der noch nicht vollzogenen Umsetzung

Gahleitner et al. (2013, S. 9) kritisieren, dass insbesondere im Gesundheitsbereich die Diskurse nach wie vor stark vom biomedizinischen Modell dominiert werden. Pauls (2013, S. 20) konstatiert für die Klinische Sozialarbeit einen starken Bezug auf das BPS-Modell, allerdings fände man häufig in den Sozialarbeits-Fakultäten eine ideologisch fixierte Ablehnung der Einbeziehung der biologischen und der psychischen Ebene. Hingegen würde (a.a.O., S. 24) in der Neurobiologie, bzw. der Hirnforschung die soziale Ebene nur eine marginale Rolle spielen.

Gahleitner et al. fassen zusammen:

„Für konstruktive Weiterentwicklungen bedarf es aktueller Konzepte, die versuchen, das Modell von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Neben psychosomatischen und psychoanalytischen Ansätzen sowie gestalttheoretischen und sozialpsychologischen Überlegungen sind hier Überlegungen aus dem Spektrum der Systemischen Therapie, der Integrativen Therapie, der Klinischen Sozialarbeit und der Common-factor-Forschung zu nennen. Obwohl das biopsychosoziale Modell in seiner Entstehung ein weitgehend einheitliches positives Echo ausgelöst hat, hat es sich inzwischen in viele Einzeldiskurse zerstreut“ (Gahleitner et al. 2013, S. 5).

An diesem Befund hat sich wenig geändert: In Kontexten der Sozialen Arbeit, der Klinischen Sozialarbeit und in Teilen der Medizin wird als wichtige Grundlage das biopsychosoziale Modelle betont, in der Praxis findet jedoch häufig, auch aus berufsständischen Interessen, eine Verkürzung statt. Dies spiegelt sich auch in den genutzten Begriffen. In der Medizin wird dies am Begriff der Psychologischen Medizin oder der Psychosomatik deutlich. Eine solche Dichotomie, so Egger (2020a, S. 3) sei auf der Basis des biopsychosozialen Modells aber weder logisch richtig noch wissenschaftlich nützlich. Für die Soziale Arbeit zeigt sich dies anhand der Begriffe Psychosoziale Beratung, psychosoziale Arbeitsfelder, Soziale Diagnostik und psychosoziale Professionen.

Deutlich wird, es gibt nicht die eine biopsychosoziale Perspektive, sondern ein relativ abstraktes Paradigma, welches verschiedene Modelle und Kategoriensysteme einschließt. Das BPS-Modell benötigt zumindest Mehrperspektivität und Interdisziplinarität, in der die Methoden einer Disziplin in den Bereich einer anderen übertragen werden und möglichst Transdisziplinarität, die die wissenschaftlichen Disziplinen „übersteigt“. Das BPS-Modell bietet für die Theorie und die Praxis Möglichkeiten einer besseren Kooperation verschiedener Berufsgruppen für die Diagnostik und die Fallarbeit.

6 Quellenangaben

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Verfasst von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Beushausen, Jürgen, 2024. Biopsychosoziales Modell [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 19.11.2024 [Zugriff am: 13.12.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29091

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