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Bourdieu, Pierre

Marlen Gnerlich

veröffentlicht am 10.06.2024

GND: 118810758

* 01.08.1930 in Deguin

23.01.2002 in Paris

Pierre Bourdieu, 1996
Abbildung 1: Pierre Bourdieu, 1996 (Bernard Lambert, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Pierre Bourdieu war ein französischer Soziologe, Ethnologe und Philosoph, der sich in seinen sozial- und kulturtheoretischen Arbeiten vor allem mit der Sozialstruktur moderner Gesellschaften, dem Bildungswesen, den Geschlechterverhältnissen sowie Kunst, Sprache, Literatur, Wissenschaft und Politik befasste.

Überblick

  1. 1 Lebens- und Bildungsweg
  2. 2 Grundzüge des bourdieuschen Werkes
    1. 2.1 Theoretische Einflüsse und Referenzen
    2. 2.2 Reflexion der Bedingungen sozialwissenschaftlicher Erkenntnis
    3. 2.3 Praxeologie des Sozialen
    4. 2.4 Grundlegende Parameter sozialer Ordnung: Macht – Distinktion – Ungleichheit
  3. 3 Analytische Konzepte in der Theorie Bourdieus
    1. 3.1 Sozialer Raum – soziale Klassen – Lebensstile
    2. 3.2 Soziale Felder
    3. 3.3 Kapital(-Sorten)
    4. 3.4 Habitus
  4. 4 Zentrale Schriften (Auswahl)
    1. 4.1 Entwurf einer Theorie der Praxis
    2. 4.2 Die Illusion der Chancengleichheit
    3. 4.3 Die feinen Unterschiede
    4. 4.4 Die männliche Herrschaft
    5. 4.5 Das Elend der Welt
  5. 5 Bourdieu als politischer Intellektueller
  6. 6 Aktuelle Bedeutung und Würdigung
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturhinweise

1 Lebens- und Bildungsweg

Pierre Félix Bourdieu [burˈdjøː] wurde 1930 in Denguin, einem kleinen südfranzösischen Dorf am Rand der Pyrenäen, in einfache Lebensverhältnisse hineingeboren und starb im Jahr 2002 als renommierter Soziologe und prominenter politischer Intellektueller. Sein Lebensweg war ein beeindruckender, zugleich aber auch herausfordernder Weg durch das sozial selektive Bildungswesen Frankreichs (Bourdieu 2002, S. 95 ff.).

Bourdieu wuchs in von Bescheidenheit und Ländlichkeit geprägten Umständen auf. Sein Vater arbeitete bei der Post, seine Mutter war Hausfrau. Aufgrund seiner sehr guten Schulleistungen konnte Bourdieu mit nachdrücklicher Unterstützung seiner Eltern den Weg ans Gymnasium (französisch: Lycée) einschlagen. Dieser führte ihn von der französischen Provinz schließlich an das Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nach seinem erfolgreichen Abschluss wurde er an der Elitehochschule École Normale Supérieure de Paris (ENS Paris) angenommen. Im Jahr 1954 beendete Bourdieu sein Philosophiestudium an der Sorbonne als Jahrgangsbester.

Wenngleich er damit eine Bildungslaufbahn absolvierte, die ihn „zum Gipfel der Hierarchie des Bildungswesens“ (a.a.O., S. 12) aufstiegen ließ, erlebte Bourdieu insbesondere seine Gymnasial- und die damit verbundene Internatszeit als schwierig bis leidvoll. So war er in der Schule mit Herablassungen und Stigmatisierungen aufgrund seiner sozialen Herkunft konfrontiert, auf die unter anderem seine regional gefärbte Aussprache hinwies. Zugleich wurde er in seinem Heimatort durch die Tatsache, dass er „eine höhere Lehranstalt besuchte, zu einem Außenseiter“ (a.a.O., S. 116). Diese frühe „Erfahrung des sozialen Unterschieds“ (a.a.O., S. 103) war ebenso ausschlaggebend für sein späteres wissenschaftliches Erkenntnisinteresse wie die Erfahrung von Einsamkeit, Beschämungen und Drohungen. Auch das Miteinander in „Gestalt einer Art von Klassenrassismus“ (a.a.O., S. 110) sowie seine Irritation über die Bedeutung, die „dem körperlichen Erscheinungsbild und der Kleidung als einen Hinweis auf höhere geistige und sittliche Eigenschaften“ (a.a.O., S. 111) zukamen, waren prägend für sein akademisches Wirken.

Nach seinem Studium verließ er zunächst die Pariser „Bildungsaristokratie“ (a.a.O., S. 14) und absolvierte das für ENS-Absolvent:innen übliche Jahr als Lehrender für Philosophie an einem Gymnasium in der nördlichen Provinz Frankreichs, bis er ein Jahr später zum Militärdienst in Algerien einberufen wurde. Nach dessen Beendigung im Jahr 1958 blieb er bis 1960 auf einer Forschungsstelle an der Universität in Algier. Während dieser Zeit widmete sich Bourdieu ethnologischen Studien der algerischen Gesellschaft. Dabei interessierte er sich insbesondere für Sprache, Rituale, Verwandtschaftsbeziehungen, Kleidungsgepflogenheiten sowie vorkapitalistische Wirtschaftsweisen und entwickelte bereits Fragestellungen, Begrifflichkeiten und Theoreme, die seine späteren Arbeiten durchziehen (Müller 2019, S. 19).

Im Zuge seiner Algerien-Forschung erfolgte somit seine „intellektuelle Neuausrichtung […] in der Hinwendung zur Ethnologie und dann zur Soziologie“ (Bourdieu 2002, S. 68), wodurch sich schließlich Möglichkeiten eröffneten, die Bourdieu 1960 mit Unterstützung des Pariser Soziologen Raymond Aron zurück nach Frankreich auf soziologische Karrierepfade führten. So folgte er Angeboten für Stellen an der Sorbonne, an der Université de Lille sowie am Centre de sociologie européene. Er lehrte, forschte und publizierte vornehmlich zu Themen der Kultur- und Bildungssoziologie und gründete 1969 in Folge eines Zerwürfnisses mit Aron ein eigenes Centre de sociologie de l’éducation et de la culture, das er bis 1984 leitete.

Im Jahr 1981 wurde Bourdieu an das prestigeträchtige Collège de France berufen und übernahm den Lehrstuhl für Soziologie. Dort verfolgte er einerseits seine wissenschaftlichen Themen weiter, andererseits bezog er zunehmend öffentlichkeitswirksam Stellung hinsichtlich gesellschaftspolitischer Themen (Jurt 2009, S. 7). Er trat dabei als Intellektueller in Erscheinung, der sich vor allem gegen den Einfluss der „neoliberalen Heimsuchung“ (Bourdieu 2004, S. 9) positionierte. Mit seinen stets an soziale Wirklichkeiten rückgebundenen Äußerungen und seiner Haltung einer kritischen Reflexivität „als unabdingbare Voraussetzung für politisches Handeln“ (Bourdieu 2004, S. 154) erlangte er auch jenseits fachwissenschaftlicher Kreise einen hohen Bekanntheitsgrad und eine weit über die Grenzen Frankreichs hinausreichende Resonanz.

Wie einflussreich, inspirierend und zugleich polarisierend Pierre Bourdieus Denken und Handeln als Wissenschaftler und als Intellektueller waren, zeigte sich an Intensität und Breite der öffentlichen Reaktionen, Kondolationen und Nachrufe infolge seines unerwartet raschen Todes aufgrund eines Krebsleidens (Jurt 2009, S. 9).

2 Grundzüge des bourdieuschen Werkes

Das Werk von Pierre Bourdieu ist sowohl in seiner wissenschaftlichen Ausrichtung als auch in seiner thematischen Spannbreite außergewöhnlich. In expliziter Abgrenzung zu großen, einflussreichen Theorien ist es quantitativ sowie qualitativ ein herausforderndes Angebot zur theoretischen, empirischen, deskriptiven sowie analytischen Auseinandersetzung mit Gesellschaftsverhältnissen. Es ist gekennzeichnet durch methodische Akribie, inhaltliche Komplexität, prozedurale Begrifflichkeiten, eine praxeologische Vorgehensweise und erkenntnistheoretische Reflexivität. Damit weist es nicht nur einen hohen wissenschaftlichen Anspruch, sondern auch eine hohe Anschlussfähigkeit aus.

2.1 Theoretische Einflüsse und Referenzen

In den 1950er-Jahren, der frühen Phase der akademischen Sozialisation Bourdieus, galt die Philosophie als „Königsdisziplin“ (Bourdieu 2002, S. 12) und der Existenzialismus Sartres beherrschte das intellektuelle Feld. Bourdieu attestierte dieser wissenschaftsdisziplinären und intellektuellen Hierarchie eine ausgeprägte Verachtung bzw. Ignoranz von bestimmten Denktraditionen, wie die von Karl Marx, Max Weber oder generell soziologischen Fragestellungen (a.a.O., S. 15).

In Anlehnung an Gaston Bachelard distanzierte sich Bourdieu von dem universellen Deutungsanspruch einer rein theoretischen Erkenntnis, die er an der seinerzeit „geschwätzigen Philosophie“ (Bourdieu 1992, S. 19) kritisierte. Er stellte dem eine soziologische, wissenschaftlich-empirisch basierte und erkenntnisreflexive Perspektive entgegen, denn, so Bourdieu zurückblickend, „letzten Endes ging es mir um Kritik der gesellschaftlichen Ordnung“ (a.a.O., S. 18).

Infolge seiner intensiven Auseinandersetzung mit großen Theorien und deren Hauptvertretern grenzte Bourdieu sein Denken in unterschiedlicher Weise und Intensität von Existenzialismus (Jean-Paul Sartre), Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss) und Phänomenologie (Edmund Husserl, Martin Heidegger, Maurice Merlau-Ponty) ab. Zugleich unterlagen Bourdieus Arbeiten inhaltlich-konzeptionell vielfältigen Einflüssen durch Émile Durkheim, Karl Marx, Max Weber und Norbert Elias, aber auch durch Ernst Cassirer und Marcel Mauss sowie Ludwig Wittgenstein und Noam Chomsky.

Inspiriert von deren Ideen orientierte sich Bourdieu zwar an diesen, verwarf sie aber in gewissen Teilen und richtete sein Denken schließlich in einem eigenen Ansatz aus, mit dem er nicht „in die gängigen Schubladen passt, mit denen die akademische Welt Ordnung zu schaffen sucht“ (Krais 2004, S. 172). Auf Fragen seiner akademischen Selbstverortung zwischen großen Theorien antwortete er:

„Offen gestanden habe ich noch nie in solchen Kategorien gedacht. Und in der Regel wehre ich derartige Fragen auch schlichtweg ab. […] Gemeinhin steckt dahinter doch eine polemische klassifizierende Absicht, Schubkastendenken. […] Die Antwort auf die Frage, ob einer Marxist, Weberianer oder Durkheimianer ist, vermittelt nicht die Spur einer Information über ihn. Meiner Meinung nach stellt dieses Schubladendenken des akademischen und politischen Diskurses sogar ein Haupthindernis für wissenschaftliche Forschung und deren Fortschritt da, weil es intellektuelle Innovationen unterbindet, weil es verhindert, daß falsche Antinomien und falsche Trennungen überwunden werden. Aber weitergehend noch verhindern derartige Etiketts das in meinen Augen richtige Verhältnis zu den Schriften und Denkern der Vergangenheit. Für mich sind es gewissermaßen Gefährten, auf die man in schwierigen Situationen als Helfer zurückgreifen kann“ (Bourdieu 1992, S. 40).

2.2 Reflexion der Bedingungen sozialwissenschaftlicher Erkenntnis

Einer der wichtigsten Grundsätze, die Bourdieu als Wissenschaftler vertrat, war, sich seines eigenen Eingebundenseins in die soziale Welt klar zu sein. Dazu präzisierte er: „Der Fortschritt der Erkenntnis setzt bei den Sozialwissenschaften einen Fortschritt im Erkennen der Bedingungen der Erkenntnis voraus“ (Bourdieu 1987, S. 7). Wird das eigene Verhaftetsein in spezifischen kulturellen und sozialen Verhältnissen nicht ausreichend als Einflussgröße im Erkenntnisprozess reflektiert, unterliegen Einblicke unweigerlich der Denk- und Interpretationslogik der jeweiligen gesellschaftlichen Verortung (Bourdieu et al. 1991, S. 83 ff.). Dies führt dazu, dass bestehende Sozialgefüge unreflektiert (re-)produziert werden, statt deren Konstruktionslogiken zu verstehen.

Dem lässt sich Bourdieu zufolge nur begegnen, wenn das eigene Wahrnehmen, Denken und Handeln konsequent zum Gegenstand der Erkenntnispraxis werden (Bourdieu 1995, S. 48 ff.). Erst eine solchermaßen „teilnehmende Objektivierung“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 98) ermöglicht eine Reflexivität, die aus Beobachtungen der sozialen Welt abgeleitete Erkenntnisse und Aussagen in die Umstände ihres Entstehens einordnet. Damit distanzierte sich Bourdieu gleichsam von universalen Gültigkeitsansprüchen und Determinismen, wie sie seiner Ansicht nach in Begriffen und Theorien allzu häufig transportiert werden (a.a.O., S. 216 f.).

2.3 Praxeologie des Sozialen

In engem Zusammenhang mit dem Grundsatz einer reflexiven Haltung und der Ablehnung von Universalismen stand Bourdieus frühzeitige Kritik an Dualismen. Deren einander ausschließend konstruierte Entgegensetzungen sah er als Produkt akademischer Trennungen (Bourdieu 1976, S. 146 ff.). „Eines der typischsten Beispiele für eine derartige wissenschaftliche absurde Gegenüberstellung ist die von Individuum und Gesellschaft“, so Bourdieu (1992, S. 43). Diese und weitere vorherrschende Polarisierungen, wie z.B. die von Objekt und Subjekt oder von Struktur und Akteur, problematisierte er wiederkehrend mit Verweis auf deren erkenntnisverzerrende Effekte. Nach seinem Dafürhalten verstellen Dualismen den Blick für verbindende Relationen, die durch soziale Praxis hergestellt werden. Bourdieus Arbeiten sind deshalb stets eine „Theorie der Praxis“ (1976) bzw. als Praxeologie zu verstehen. Die „praxeologische Erkenntnisweise“ (a.a.O., S. 148) integriert das Denken in Relationen und die Fokussierung von sozialer Praxis, wodurch sich herausfinden lässt, was diese in ihrer Eigenlogik ausmacht, statt die Logik der Forschenden auf sie zu projizieren (Bourdieu et al. 1991, S. 275).

2.4 Grundlegende Parameter sozialer Ordnung: Macht – Distinktion – Ungleichheit

Entsprechend seinem relationalen Denken verstand Bourdieu Gesellschaftsverhältnisse als Gesamtkomplex praktisch hergestellter Beziehungen und identifizierte als deren Wesensmerkmal Unterschiede bzw. Unterscheidungen. Das heißt, als beteiligte Akteure nehmen Individuen innerhalb des von ihnen gebildeten Sozialgefüges stets so Bezug aufeinander, dass sie sich voneinander unterscheiden, z.B. in der Art zu reden, sich zu kleiden, in der Freizeitgestaltung, hinsichtlich Bildungswegen, in der Körperhaltung u.v.m.

Indem Individuen in all ihren Bezugnahmen die Merkmale ihrer jeweiligen sozialen Verortung repräsentieren, vollziehen sie damit handelnd Unterscheidungen, die als soziale Unterschiede sichtbar werden. Dieser permanent ablaufende Prozess der Distinktion ist nicht neutral, weil er klassifizierend wirkt, das heißt, mit unterschiedlichen Wertigkeiten gekoppelt ist. Diese Wertigkeiten beruhen auf unterschiedlichen und insofern gesellschaftlich umkämpften Bedeutungszuschreibungen, die mittels Macht durchgesetzt werden. Über die Praktiken der sozialen Akteure werden diese Wertigkeiten zu Klassifikationen und damit zu manifesten Unterschieden, mit denen gesellschaftliche Bevor- oder Benachteiligungen sowie Status und Prestige verbunden sind. Daraus resultiert schließlich soziale Ungleichheit, die sich im Zusammenspiel aus Distinktion und Macht fortsetzt.

Bourdieus übergeordnetes Erkenntnisinteresse war es stets, die hinter gesellschaftlichen (Ungleichheits-)Verhältnissen liegenden Distinktionsverhältnisse zu beleuchten und die damit verbundenen, vor allem im Verborgenen wirkenden Mechanismen der Macht in ihrer Funktionslogik offenzulegen (Gnerlich 2013).

3 Analytische Konzepte in der Theorie Bourdieus

Im Zuge seiner Forschungen entwickelte Bourdieu mithin Theorieelemente, die als systematisierende „Werkzeuge“ (Bourdieu et al. 1991, S. 5) dem Verstehen, dem Beschreiben und dem Analysieren von gesellschaftlichen Verhältnissen dienen. Sie lassen sich als konzeptionelle Instrumente verstehen, die ihr Erkenntnispotenzial schließlich im Zusammenspiel entfalten.

3.1 Sozialer Raum – soziale Klassen – Lebensstile

Mit dem Konzept des sozialen Raums lassen sich gesellschaftliche Verhältnisse abbilden (Bourdieu 1995, S. 9 ff.). Es handelt sich um ein mehrdimensionales theoretisches Modell, das genutzt wird, um eine interpretierte, nicht um eine substanzielle soziale Realität darzustellen. Das Gesamtbild des sozialen Raums fügt sich aus dem Raum der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile zusammen. Mithilfe dieses Konzepts lässt sich eine Vorstellung darüber gewinnen, wie sich soziale Akteure und Gruppen in Beziehung zueinander zu einem sozialen Gefüge formieren und welche Sozialstruktur dabei entsteht.

Ähnlich einem Koordinatensystem lassen sich die Akteure im Raum der sozialen Positionen über den Besitz von Kapital verorten, der sich in folgende Dimensionen differenziert:

  • das verfügbare Kapitalvolumen, d.h. der Gesamtumfang des Kapitalbesitzes
  • die Kapitalstruktur, d.h. die Zusammensetzung des Kapitalbesitzes aus ökonomischem und kulturellem Kapital
  • die Kapitalentwicklung, d.h. die mögliche Veränderung des Kapitalbesitzes im Lebensverlauf.

Sich abzeichnende Cluster in der Verteilungsstruktur der Positionen sind als soziale Gruppierungen zu verstehen, die Bourdieu als theoretische soziale Klassen „auf dem Papier“ (a.a.O., S. 23) konzipierte.

Analog zum Raum der sozialen Positionen bildet der Raum der Lebensstile unterschiedliche Arten der Lebensführung ab. Bourdieu bezieht damit Handlungen, Präferenzen, Meinungsäußerungen, Einstellungen, Bildungsentscheidungen und Konsumgüter als praktische Ausdrucksweisen verinnerlichter Existenzbedingungen in die Darstellung ein. Da Praktiken sozial klassifiziert sind, das heißt, innerhalb einer Gesellschaft als mehr oder weniger legitim oder erstrebenswert gelten, wirken sie zugleich klassifizierend, indem sie durch ihren Vollzug auf die Herkunft bzw. die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Sinne einer sozialen Klasse hinweisen. Damit kommt der jeweiligen Praxis der Akteure sozial distinktive Bedeutung zu, denn durch sie werden soziale Unterschiede einerseits symbolisch vermittelt und andererseits konkret erfahrbar.

Mit der Verbindung zwischen sozialer Position und Lebensstil verdeutlicht das bourdieusche Konzept des sozialen Raums, wie die wechselseitige Beziehung von Klassenlage und Lebensstil gesellschaftliche Grenzziehungen realisiert, manifestiert und reproduziert. Der soziale Raum ist insofern vorrangig als „ein Raum von Unterschieden“ (Bourdieu 2023, S. 26) zu interpretieren.

Schema aus Die feinen Unterschiede
Abbildung 2: Schema aus „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 2020, S. 212–213); vereinfacht und auf einige signifikante Indikatoren für Getränke, Sport, Musikinstrumente oder Gesellschaftsspiele verkürzt. Die Punktlinie zeigt die politische Orientierung an (Bourdieu 2023, S. 19).

3.2 Soziale Felder

Mit der Konzeptualisierung der sozialen Felder führte Bourdieu eine weitere Kategorie zur Analyse der Gesellschaft ein. Damit greift er die Vielfalt ausdifferenzierter gesellschaftlicher Bereiche auf, in denen soziale Akteure aufeinandertreffen (a.a.O., S. 148 ff.). Beispiele für soziale Felder sind die Wissenschaft, die Kunst, die Ökonomie oder die Politik. Sie weisen eine jeweilig eigene Charakteristik auf, das heißt, ein soziales Feld zeichnet sich durch seine spezifische Ausrichtung sowie durch spezifische Regularien, Bedeutungen und Wertigkeiten aus. Es ist eine Art „mit eigenen Gesetzen ausgestatteter Mikrokosmos“ (Bourdieu 1998, S. 18).

Soziale Felder gründen darin, dass soziale Akteure hinsichtlich eines gemeinsam verfolgten Interesses zueinander in Beziehung treten und nach kollektiv geteilten Spielregeln um Status, Einfluss und Prestige innerhalb des Feldes konkurrieren. Über die jeweilige soziale Stellung in den einzelnen sozialen Felder bestimmt sich schließlich die soziale Stellung der Akteure im gesellschaftlichen Gesamtgefüge (Bourdieu 1995, S. 10). Je nach Ausrichtung eines sozialen Feldes spielen für den Erfolg im Wettbewerb um soziale Stellungen verschiedene Kapitalsorten eine unterschiedliche Rolle.

3.3 Kapital(-Sorten)

Welch vorteil- oder nachteilhafte soziale Position Akteure innerhalb der Gesellschaft einnehmen, hängt von Kapitalverfügbarkeit ab. Kapital ist nach Bourdieu ein Träger sozialer Energie, welche Geltungs- und Einflusschancen eröffnet. Entscheidend ist folglich, wie viel Kapital und welche Art von Kapital Akteuren zur Verfügung steht. Folgende Kapitalsorten lassen sich nach Bourdieu (2015, S. 49 ff.) unterscheiden:

  • ökonomisches Kapital, d.h. Geld und materielles Eigentum (a.a.O., S. 52)
  • soziales Kapital, d.h. die Verfügbarkeit „eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens“ (a.a.O., S. 63)
  • kulturelles Kapital, das in objektiviertem, institutionalisiertem und inkorporiertem Zustand existiert (a.a.O., S. 53).

Während objektiviertes kulturelles Kapital durch materielle Kulturgüter, wie Gemälde, Instrumente, Bücher u.Ä. in Erscheinung tritt, zeigt sich institutionalisiertes kulturelles Kapital in Form von Bildungstiteln, Zeugnissen oder Zertifizierungen. Ihr volles Potenzial als Währung entfalten diese beiden Erscheinungsformen von Kulturkapital in Verbindung mit inkorporiertem kulturellem Kapital, denn dieses drückt sich über angeeignetes Wissen, erlernte Fähigkeiten und eingeübte Kompetenzen aus, die es zum adäquaten Umgang mit und Einsatz von objektiviertem sowie institutionalisiertem Kulturkapital braucht. So gehört beispielsweise zu einem gekonnten Violinenspiel nicht nur das Vorhandensein des entsprechenden Instruments, sondern auch die Fähigkeit des Notenlesens, ein geschultes Gehör sowie eine komplexe Fingerfertigkeit.

Der Begriff symbolisches Kapital unterstreicht die gesellschaftliche Anerkennung, die mit dem Besitz oder dem Erwerb von Kapital verbunden ist und die dem innehabenden Akteur eine selbstverständlich und deshalb legitim anmutende Bedeutung sowie eine besondere Glaubwürdigkeit und Einflussnahme verleiht.

Die verschiedenen Kapitalsorten greifen einerseits ineinander und sind andererseits konvertierbar (a.a.O., S. 70 f.). Dabei bildet das ökonomische Kapital die Grundlage, um kulturelles Kapital, etwa in Form von karriereförderlicher Bildung einschließlich der dazugehörigen Zertifikate, zu erwerben oder auch um soziales Kapital, etwa über eine kostspielige Vereinsmitgliedschaft, zu erschließen. Prozesse solcher Kapitalumwandlungen dienen dem Erhalt und dem Ausbau des Kapitalbesitzes, weil die Aneignung und die Weitergabe unter dem Anschein von Talent, Intelligenz und Fleiß erfolgen und damit die eigentlich wirksam werdende ökonomische Privilegierung verschleiert wird.

Vor allem der Besitz und der Erwerb von kulturellem Kapital, wie das gekonnte Sprechen von Fremdsprachen, erwecken den Eindruck eines rein persönlichen Interesses, einer natürlichen Begabung oder vermeintlicher Zweckfreiheit. Dadurch entfaltet insbesondere kulturelles Kapital, vornehmlich inkorporiertes kulturelles Kapital, Wirkung als symbolisches Kapital. Es verbirgt besonders effizient, dass es grundlegend aus finanziellen Spielräumen privilegierter Sozialpositionen herrührt, die von Zwängen der Lebensunterhaltssicherung entlasten und damit notwendige zeitliche sowie mentale Kapazitäten für förderliche Investitionen in soziales und kulturelles Kapital freisetzen (a.a.O., S. 72 f.).

Mit der Aufschlüsselung der Kapitalsorten gelang es Bourdieu, deren Eigenlogiken hinsichtlich Erwerb, Weitergabe und Umwandlung aufzuzeigen und damit den Zusammenhang zwischen sozialer (Klassen-)Lage, Existenzbedingungen und lebensstilspezifischen Praktiken weiter zu erhellen. Zur vollständigen Erklärung dieser wechselseitig reproduktiven Relationen bedarf es nun noch der genaueren Bestimmung der zwischen ihnen vermittelnden Instanz, die Bourdieu als Habitus konzipierte.

3.4 Habitus

Mit dem Konzept des Habitus fügte Bourdieu seinen Sozialanalysen das entscheidende Verbindungselement zwischen sozialer Welt und Akteur hinzu. Dessen Funktionsweise charakterisiert sich durch die Speicherung vorherrschender Sozialstrukturen einerseits und durch die Erzeugung davon geprägter Praktiken andererseits (Bourdieu 2020, S. 277 f.). Der Habitus ist folglich Produkt und Produzent von Sozialverhältnissen. Damit lässt sich der Habitus als ein sozialisatorisch erworbener, mental sowie körperlich verankerter und insofern relativ stabiler Komplex aus Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata verstehen, die durch die sozialpositionalen Umstände ihrer Entstehung gekennzeichnet sind.

Aus dieser „Dialektik von sozialer Lage und Habitus“ (a.a.O., S. 281) gehen sozial(-strukturell) sinnhafte Orientierungen und passfähige Handlungsweisen hervor. Handlungsleitendes Prinzip ist dabei der Geschmack im Sinne eines Werturteils, durch das – oft unreflektiert – Präferenzen wirksam werden, etwa für bestimmte Kleidung, Musikstücke, Freizeitaktivitäten u.v.m. (a.a.O., S. 283 f.). Gebündelt bilden solcherlei Präferenzen klassenspezifisch geprägte Lebensstile, die ebenso wie der Geschmack als habituelles Element nichts rein Persönliches sind. Vielmehr haben sie sozialen Charakter, denn über Geschmacksurteile weisen sich soziale Akteure hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit aus und bestätigen sie.

Weil der Habitus in seiner Funktionslogik nach Übereinstimmung der durch ihn hervorgebrachten Praktiken mit den sozialen Gegebenheiten seiner ihn prägenden Klassenzugehörigkeit strebt, werden die von ihm per Geschmacksurteil produzierten Präferenzen ihre Entstehungsverhältnisse und damit die bestehende (ungleiche) Sozialordnung tendenziell eher bestätigen, statt verändern (a.a.O., S. 283).

Dadurch reproduziert sich auch die Verteilungsstruktur des Kapitalbesitzes mit der Konsequenz der Verstetigung sozialer Ungleichheit. Insofern bildet der Habitus den Schlüsselbegriff für Verständnis, Analyse und Kritik bestehender Gesellschaftsverhältnisse mit der bourdieuschen Sozialtheorie.

4 Zentrale Schriften (Auswahl)

Aus den 40 Jahren seines sozialtheoretischen Schaffens sind insgesamt 37 Bücher sowie 1800 weitere Publikationen von Pierre Bourdieu hervorgegangen (Müller 2019, S. 11). Im Folgenden soll eine kleine Auswahl zentraler Schriften einen Einblick in sein beeindruckendes Werk geben.

4.1 Entwurf einer Theorie der Praxis

In seinem 1976 deutschsprachig publizierten „Entwurf einer Theorie der Praxis“ spiegelt sich Bourdieus ethnologisches und schließlich soziologisches Interesse an gesellschaftlichen Verhältnissen, deren Renitenz und Transformation wider. Basierend auf drei seiner Studien über die Kabylen im Algerien der 1960er-Jahre fokussierte Bourdieu zentrale Fragestellungen und Begrifflichkeiten, die sein ganzes Lebenswerk prägten. Dabei forcierte er die soziale Praxis als Ausgangspunkt von Theoriebildung und verdichtete diesen Ansatz auf den Begriff der Praxeologie. Seinen praxeologischen Fokus zwischen struktur- und handlungstheoretischen Perspektiven auslotend entwickelte er sein begriffliches und analytisches Instrumentarium und arbeitete insbesondere sein Habituskonzept aus.

4.2 Die Illusion der Chancengleichheit

Bereits der Titel des 1971 gemeinsam mit Jean-Claude Passeron veröffentlichten Buches „Die Illusion der Chancengleichheit“ offenbart das zentrale Ergebnis ihrer Untersuchungen des französischen Bildungswesens in den 1960er-Jahren, dass das Versprechen eines für jede:n möglichen sozialen Aufstiegs durch Bildungsanstrengung ein Mythos ist. Stattdessen identifizierten Bourdieu und Passeron Reproduktionsstrategien, die sich aus der sozialen Vererbung von Bildung als Kulturkapital, einer von Bildungsinstitutionen getragenen Begabungsideologie und der klassenspezifischen Eliminierungsfunktion eines konservativ ausgerichteten, ungleiche Gesellschaftsverhältnisse verstetigenden Bildungssystems speisen.

Während die gegenwärtige und nationenübergreifende Aktualität des Befunds frappierend erscheint, ernüchtert auch die Schlussfolgerung, dass ökonomische Transfers die kulturellen Reproduktionsstrategien kaum berühren und eher ihrer Legitimierung dienen würden. Die Einblicke in das Bildungswesen sind nicht nur in Frankreich, sondern auch in der deutschen Bildungs- und Ungleichheitsforschung eingehend rezipiert worden.

4.3 Die feinen Unterschiede

Die 1982 auf Deutsch erschienene Sozialstrukturstudie „Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ ist die bekannteste Arbeit Bourdieus. Mit ihr legte er eine äußerst umfangreiche, empirisch reichhaltig untersetzte und forschungsmethodisch innovative Untersuchung zum Zusammenhang von Klassenlagen und Lebensstilen vor. Zudem integrierte und profilierte er sein analytisches Instrumentarium, wie das des sozialen Raums, der Kapitalsorten und des Habitus. Damit setzte er bis heute nachwirkende Impulse vor allem zur soziokulturellen Klassentheorie und zur Ungleichheitsforschung. Der im von Bourdieu gewählten Originaltitel „La distinction“ enthaltene und über die Bedeutung von „Unterschied“ bzw. „Unterscheidung“ hinausgehende semantische Anklang von „Auszeichnung“ bzw. „Vornehmheit“ weist die Studie zudem als Beitrag zu Aufklärung, Gesellschafts- und Wissenschaftskritik aus.

4.4 Die männliche Herrschaft

In „Die männliche Herrschaft“ (Bourdieu 2005) zentrierte Bourdieu seinen Blick auf den Herrschaftsaspekt von sozialer Ordnung. Hierfür beleuchtete er das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis. In Bezug auf die kulturell-symbolisch vermittelte Distinktionslogik sozialer Praxis verdeutlichte Bourdieu, wie Herrschaft über die habituelle Funktionsweise durch kollektive geteilte, selbstverständlich anmutende Wahrnehmungen und Bewertungen hergestellt und stabilisiert wird. Die aufgezeigte symbolische Facette von Herrschaft verweist auf eine leicht übersehbare Form ihrer Ausübung, die der Reproduktion bestehender ungleicher Gesellschaftsverhältnisse – in diesem Fall ungleicher Geschlechtsverhältnisse – dient.

4.5 Das Elend der Welt

Mit der 1997 deutschsprachig veröffentlichten Studie erforschte Bourdieu zusammen mit mehr als einem Dutzend Mitautor:innen prekäre lebensweltliche Realitäten, um Einblick in „Miseren“ des Lebens in kapitalistisch-neoliberal geprägten Gesellschaftsverhältnissen zu geben. Es ging Bourdieu explizit darum, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Die zahlreichen erhobenen Interviews, welche thematisch stets an den Befragten ausgerichtet wurden, stellen auf den ersten Blick sehr persönliche Berichte über schulisches Scheitern, Ausgrenzungserfahrungen, soziale Abstiegsängste oder Hoffnungen in rechtspolitische Versprechungen dar.

Analytisch legte Bourdieu den Fokus indes auf die gesellschaftlichen Ursachen des „Elends der Welt“. Deshalb reicht der Gehalt dieser Studie, wie dies auch bei allen anderen Arbeiten Bourdieus der Fall ist, über französische Gegebenheiten hinaus. In der Essenz konfrontiert sie damit, dass Miseren prekärer Sozialpositionen ihre Konkurrenz-, Konflikt- und Marginalisierungseffekte auch in zeitgenössischen Wohlstandsgesellschaften entfalten. „Das Elend der Welt“ ist insofern eine Zeit- und Gesellschaftsdiagnose mit gesellschaftskritischem und politischem Impetus.

5 Bourdieu als politischer Intellektueller

Für Bourdieu war seine wissenschaftliche Arbeit immer auch eine gesellschaftskritische und politische Praxis, die deshalb eine permanente kritische Selbstreflexivität erfordert. Intellektuelle, das heißt, „Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler […], die sich in die Politik einmischen“ (Bourdieu 2004, S. 155), sah er insofern stets in der Verantwortung, der Spielregeln des wissenschaftlichen Feldes habhaft zu werden, indem sie ihre eigene Einbindung in bestehende machtvolle Strukturen reflektieren, bevor sie politisch Stellung zu einem Thema beziehen (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 220 ff.).

Im Rahmen seiner politischen Interventionen betrachtete Bourdieu seine Rolle als die eines „kollektiven Intellektuellen“ (Bourdieu 2004, S. 155). Da er seinerzeit die Ansicht vertrat, dass „die Zeit der Intellektuellen als Propheten vorbei ist“ (Bourdieu 1992, S. 48), erteilte er Jean-Paul Sartres Konzept eines „universellen Intellektuellen“, der zu allem Stellung nimmt, eine Absage. Stattdessen verband er das von Michel Foucault geprägte Modell eines „spezifischen Intellektuellen“, welcher sich basierend auf der jeweils eigenen wissenschaftsbasierten Kompetenz einbringt, mit einem gemeinsamen Engagement von Intellektuellen. Nur mittels „Kompetenz und Autorität des Kollektivs“ (Bourdieu 2004, S. 155) sollten Intellektuelle demnach Autonomie untergrabende Entwicklungen öffentlichkeitswirksam kommentieren (a.a.O., S. 153 ff.).

Indes resultierten Bourdieus eigene Stellungnahmen zu Themen wie der Hegemonie neoliberaler Ideen, dem Abbau des Sozialstaats, der Distanz zwischen Bevölkerung und politischer Klasse sowie den sozialen Folgen der Globalisierung, stets aus seinen Sozialanalysen (Krais 2004, S. 188 f.). In zeitlicher Nähe zur Studie „Das Elend der Welt“ engagierte er sich u.a. als Unterstützer von Streiks, war Gründungsmitglied von Attac und trat als Kritiker von Politik und Medien auf. Das brachte ihm vielfach den Vorwurf des Moralisierens, des Polemisierens, der Überschreitung wissenschaftlicher Grenzen sowie der Selbstinszenierung ein, aber auch internationale Anerkenntnis als politischer Intellektueller.

6 Aktuelle Bedeutung und Würdigung

In der Gesamtschau ist Bourdieus Beitrag sowohl in wissenschaftlicher als auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht kaum zu überschätzen. Seine Arbeiten erlangten nicht nur innerhalb der Soziologie große Bedeutsamkeit, sondern fanden auch in vielen anderen Disziplinen eingehende Beachtung, von den Erziehungs-, Sprach-, Geschichts-, Wirtschafts- und Medienwissenschaften über die Kulturanthropologie und die Sozialgeografie bis hin zur Physik. Dies schlägt sich in der Rezeption seines Werkes entsprechend nieder: Pierre Bourdieu ist nach Michel Foucault der philosophisch-sozialwissenschaftlich meistzitierte Autor weltweit (Lenger et al. 2013, S. 17 f.).

Nicht nur der immense quantitative sowie qualitative Umfang der Schriften Bourdieus, sondern auch sein ganz eigener Blick auf die soziale Welt weckten vielfach ein weitergehendes Erkenntnisinteresse an seinen Forschungsthemen. Zugleich lädt sein als offen, labyrinthisch und unabgeschlossen geltendes Œuvre bis heute zu verschieden ausgerichteten Anschlüssen sowie zu kritischen Auseinandersetzungen ein (Müller 2019, S. 342). Letztere brachten gleichsam zahlreiche Einwände und Verweise auf Diskrepanzen in seinen Arbeiten hervor. Bourdieu selbst hat im Zuge des steigenden Interesses an seinen Arbeiten immer wieder versucht sein Anliegen, sein Werk und dessen Lesarten besser verständlich zu machen (exemplarisch: Bourdieu 1989).

Neben seinem unermüdlichen Bestreben, soziale Praxis als Ursprung, Kristallisationspunkt und Legitimationsstrategie gesellschaftlicher Ordnung begreifbar zu machen, besteht das Verdienst Bourdieus nicht zuletzt in seiner Haltung zu jedweden, auch zu den eigenen Erkenntnisgewinnen:

„Das wirklich Schwierige und Seltene ist nicht, sogenannte ‚eigene Einfälle‘ zu haben, sondern sein Scherflein dazu beizutragen, jene nicht personengebundenen Denkweisen zu entwickeln und durchzusetzen, mit denen die verschiedensten Menschen Gedanken hervorbringen können, die bisher nicht gedacht werden konnten“ (Bourdieu 1987, S. 12).

7 Quellenangaben

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8 Literaturhinweise

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Schwingel, Markus, 2023. Pierre Bourdieu zur Einführung. 9., ergänzte Auflage. Hamburg: Junius. ISBN 978-3-88506-380-3

Verfasst von
Marlen Gnerlich
Dipl.-Päd., M. A.
Technische Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften
Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Marlen Gnerlich.

Zitiervorschlag
Gnerlich, Marlen, 2024. Bourdieu, Pierre [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 10.06.2024 [Zugriff am: 09.11.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/345

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