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Bühne (Psychodrama)

Thomas Wittinger

veröffentlicht am 16.09.2024

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Englisch: stage

Fassung: Neufassung

Die Bühne ist eines der fünf konstitutiven Instrumente des Psychodramas. Sie ist der Handlungsort psychodramatischer Inszenierungen, die die innere Realität des Protagonisten bzw. der Protagonistin oder der Gruppe ausdrücken.

Überblick

  1. 1 Grundlagen
  2. 2 Die Bühne in Morenos Praxis
    1. 2.1 Stegreifexperimente in Wien
      1. 2.1.1 Das Spiel der Kinder
      2. 2.1.2 Die erste Stegreifbühne
      3. 2.1.3 Das Wiener Stegreiftheater
    2. 2.2 Die erste Psychodramabühne in Beacon, N. Y.
  3. 3 Bühne als praktisches Instrument
  4. 4 Bühne als Realitätsraum
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Literaturhinweise

1 Grundlagen

Die Bühne hat das Wirken von Jacob Levy Moreno (1889–1974) seit seinen Wiener Jahren bestimmt. Sie ist – neben der Gruppe, dem bzw. der Protagonist:in, den Hilfs-Ichen und der Leitung – eines der fünf konstitutiven Instrumente des Psychodramas.

Durch die Verwendung einer Bühne zeigt das Psychodrama zum einen seine Nähe zum Theater. Im klassischen Theater besteht üblicherweise eine klare Abgrenzung zwischen Bühnenspiel und Zuschauerraum, insofern hier die Zuschauer:innen das Drehbuch des Bühnenspiels nicht bestimmen und auch nicht mitspielen. Im Psychodrama sind die Zuschauenden Mitspieler:innen auf der Bühne. Somit gehen im Psychodrama Bühnengeschehen, Gruppenprozess und – in einem erweiterten Sinne – Alltagsrealität ineinander über, wobei gleichzeitig klare Unterscheidungen nicht aufgehoben werden.

Die Verwendung einer Bühne zeigt zum anderen ein wesentliches Grundprinzip: das Primat der Handlung vor dem gesprochenen Wort. Sie ist gleichzeitig Freiraum und Schutzraum des Protagonisten bzw. der Protagonistin oder der Gruppe. In praktischer Hinsicht ist sie einerseits der Ort psychodramatischer Inszenierungen. Für ein Protagonistenspiel ist sie ein von der Gruppe abgegrenzter Bereich. In einem Gruppenspiel sind Bühne und Zuschauerraum nur in der zeitlichen Abfolge, nicht räumlich voneinander abgegrenzt. Konzeptionell steht dahinter Morenos schon in Wien verfolgtes Interesse, dass die Zuschauer:innen gleichzeitig auch Spieler:innen ihrer eigenen Geschichten und Erfahrungen werden. Andererseits ist die Bühne ein Strukturprinzip, indem die Bühne der Ort ist,

  • an dem die innere Wahrnehmung, die Gefühle und die Gedankenwelt von Realität sichtbar und erschlossen werden (Surplus-Reality);
  • an dem sich die dort von dem bzw. der Protagonist:in oder der Gruppe dargestellte Realität von der des Alltags unterscheidet;
  • von dem aus Auswirkungen auf die Realität der Gruppe folgen.

2 Die Bühne in Morenos Praxis

In Morenos eigener Praxis lassen sich verschiedene Formen einer Psychodramabühne beschreiben, die von ihm nachfolgenden Generationen ausdifferenziert und variiert wurden.

2.1 Stegreifexperimente in Wien

In seinen frühen Jahren unternahm Moreno vor allem Theaterexperimente, für die er unterschiedliche Formen von Bühnen verwendete (vgl. Gruppenspiel).

2.1.1 Das Spiel der Kinder

Moreno ermunterte schon vor dem Ersten Weltkrieg Kinder in den Wiener Parks zu Stegreifspielen. Sie hatten deutlich experimentellen Charakter. Die Bühne für diese Stegreifspiele war der Ort, an dem sie gerade waren. Es wurde kein spezieller Bühnenraum eingerichtet.

2.1.2 Die erste Stegreifbühne

In einem 1921 angemieteten Raum im Komödienhaus verwendete Moreno zum ersten Mal eine dem Theater vergleichbare Bühne für sein erstes Theaterexperiment. Erst im Nachhinein bezeichnete er in seiner Autobiografie im Nachhinein diese Stegreifaufführung als das erste Psychodrama.

„Ich stand an diesem Abend alleine auf der Bühne. Ich trat völlig unvorbereitet vor ein Publikum von mehr als 1000 Menschen. Als der Vorhang hoch ging, war die Bühne leer, bis auf einen roten Plüschsessel, der wie ein Königsthron ein vergoldetes Gestell und eine goldene Lehne hatte. Auf der Sitzfläche lag eine vergoldete Krone. Der Großteil der Zuschauer war auf der Suche nach Kuriositäten oder Skandalen. Wenn ich auf jene Nacht zurückblicke, bin ich über meine Kühnheit erstaunt. Ich wollte dieses Publikum von einer Krankheit, einem pathologischen, kulturellen Syndrom heilen oder reinigen. Es gab keine feste Regierung, keinen Kaiser, keinen König, keinen Führer. Das natürliche Thema war die Suche nach einer neuen Ordnung der Dinge, die Prüfung jedes einzelnen im Publikum, der nach Führerschaft strebte, um so vielleicht einen Erlöser zu finden. Ihrer Rolle entsprechend wurden alle von mir eingeladen, auf die Bühne zu treten, auf dem Thron zu sitzen und wie ein König zu handeln. Niemand war vorbereitet. Die Prüfung muss zu schwierig gewesen sein. Niemand bestand sie. Die Welt blieb führerlos“ (Moreno 1995, S. 80).

Morenos ist mit diesem Experiment zwar gescheitert. Es zeigt aber schon zu diesem frühen Zeitpunkt seine Grundidee, die im klassischen Theater übliche Abgrenzung zwischen der durch Schauspieler:innen dargestellten Szene und den lediglich betrachtenden Zuschauer:innen aufzuheben.

2.1.3 Das Wiener Stegreiftheater

Moreno mietete 1922 in der Maysedergasse 2 im ersten Stock eine Wohnung und gab dort mit einer Gruppe Stegreifaufführungen. Die Räumlichkeiten boten Platz für knapp vierzig Personen. Das Publikum setzte sich, wo es wollte. In dem Raum markierten Gegenstände (vor allem Mobiliar) Spielorte. Gespielt wurden Vorschläge aus dem Publikum. Inhaltlich wurden aktuelle Ereignisse gespielt, die Zeitungsartikeln entstammten oder komische, ernste oder auch schockierende szenische Vignetten. Die Spieler:innen entwickelten aus den Vorschlägen einen Szenenablauf. Die Zuschauer:innen waren eingeladen, sich mitspielend in das Geschehen auf der Bühne einzumischen. Auch hier waren die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum letztlich aufgehoben.

2.2 Die erste Psychodramabühne in Beacon, N. Y.

In Beacon baute Moreno die erste Psychodramabühne. Es war eine dreistufige Holzbühne, dazu eine Empore und Beleuchtung. Die Zuschauer:innen saßen in einem offenen Halbkreis vor der Bühne. Auf der untersten Stufe saß das Publikum, auf der zweiten bewegten sich Leitung und Protagonist:in zur Exploration des Themas und der Definition des inhaltlichen Auftrags an die Leitung. Auf der dritten Stufe fand das szenische Spiel statt. Gleichzeitig betonte Moreno, dass diese Form der Bühne nicht zwingend für eine psychodramatische Inszenierung ist. In diesem Sinne wird in der heutigen psychodramatischen Praxis auf die drei Stufen verzichtet.

3 Bühne als praktisches Instrument

Nach der Erwärmungsphase, in der auch geklärt wurde, ob ein Protagonistenspiel oder ein Gruppenspiel inszeniert werden soll, wird die Bühne eingerichtet. Für ein Protagonistenspiel wird im Raum eine Aktionsfläche markiert und die Gruppe setzt sich mit etwas Abstand dazu in einen Halbkreis. Mit Unterstützung der Leitung richtet der bzw. die Protagonist:in dann die erinnerte Szenerie (z.B. durch die wesentlichen Möbel) ein. Entscheidend ist nicht die Vollständigkeit, sondern dass die Atmosphäre ggf. durch Abdunkeln geschaffen wird.

In einem kleinen Raum kann auch ein Tisch als Bühne dienen, auf dem dann ein Rollenspiel mithilfe von symbolisierenden Gegenständen (z.B. Knöpfe, Steine, Muscheln) oder auch Figuren (z.B. Duplo-, Playmobil- oder Holzfiguren) inszeniert wird (vgl. Symbolarbeit).

Für ein Gruppenspiel dient der gesamte Raum als Bühne. Es gibt bis zum Ende der Spielphase keinen Zuschauerraum mehr.

4 Bühne als Realitätsraum

Auf der Bühne wird nach psychodramatischem Verständnis eine Realität von großer Komplexität sichtbar. Dabei ist die dargestellte Realität nie identisch mit der Alltagsrealität. Dies zeigt sich z.B. darin, dass zwar konkrete Gegenstände wie Möbel einer erinnerten oder imaginierten Situation dargestellt werden, es sich aber nicht um die ursprünglichen Gegenstände handelt.

Andererseits wird auf der Bühne über die Alltagsrealität hinaus eine erweiterte Realität dargestellt, die Moreno als Surplus-Reality bezeichnet.

Im Modus der Erprobung wird die Bühne zum Ort einer simulierten Realität.

5 Quellenangaben

Moreno, Jacob L., 1995. Auszüge aus der Autobiographie. Köln: inScenario. ISBN 978-3-929296-01-3

6 Literaturhinweise

Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 2012, 11(2). Bühne. Heidelberg: Springer Verlag

Verfasst von
Thomas Wittinger
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  1. 16.09.2024 Thomas Wittinger [aktuelle Fassung]
  2. 16.08.2021 Inge-Marlen Ropers

Zitiervorschlag
Wittinger, Thomas, 2024. Bühne (Psychodrama) [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 16.09.2024 [Zugriff am: 16.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29888

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