Doppeltes Mandat
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
veröffentlicht am 13.01.2020
Der Begriff Doppeltes Mandat bringt zum Ausdruck, dass Soziale Arbeit einen doppelten Auftrag zu erfüllen hat: Sie muss sich zum einen am Wohl und der Realität der Klient*innen orientieren, sie muss zum anderen aber auch im Auftrag des Staates bzw. der Gesellschaft handeln. Das kann zu Konflikten führen.
Überblick
1 Zwischen Hilfe und Kontrolle
In dieser Definition werden zwei verschiedene Mandate unterschiedlicher Auftraggeber*innen erkennbar, nämlich der Klient*innen und der Gesellschaft bzw. des Staates, deren Interessen dabei unterschiedlich sein können. Sozialarbeitende befinden sich dadurch in einem Spannungsverhältnis zwischen der Vertretung der Interessen ihrer Klient*innen und der Arbeit an deren Problemen sowie denen von Gesellschaft und Staat, die anders gelagert sein können. Deshalb wird auch darauf verwiesen, dass im Doppelmandat ein Strukturproblem von „Hilfe und Kontrolle“ sichtbar wird. Allerdings ist dies nicht ganz nachvollziehbar, da „Hilfe und Kontrolle“ auch im Rahmen eines einzigen Mandats, so in der Straffälligenhilfe, erfolgen kann.
Prinzipiell beinhaltet der Begriff Doppelmandat eine konstitutionelle Grundlage der Sozialen Arbeit, die sich aus unterschiedlichen und mitunter widersprechenden Interessenspositionen ergeben muss und unauflösbar bleibt. Es ist eine zentrale Aufgabe der Sozialarbeiter*innen zwischen diesen Polen zu vermitteln. Um diese Komplexität und die Bedeutsamkeit des Doppelmandats noch genauer zu verstehen muss weiter ausgegriffen werden, dabei ist die darin liegende Polarisierung stärker zu pointieren.
1.1 Mandat der Gesellschaft
Zum einen ist Soziale Arbeit Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen und staatlicher Interessen. Sie soll dazu beitragen, dass „Soziale Probleme“ sich nicht krisenhaft entwickeln und die darin liegende Sprengkraft zum Ausbruch kommt, sondern diese in ihren Folgen bearbeitet und abgemildert werden. Soziale Arbeit soll im staatlichen Auftrag Klient*innen helfend und unterstützend motivieren, damit sie ihr problematisches Verhalten ändern bzw. an ihren Problemen arbeiten um wieder handlungsfähiger zu werden. Darin liegt zugleich eine „Wächterfunktion“, wie es sich in Erzieherischen Hilfen beispielhaft zeigt, nämlich Klient*innen in ihrem Alltag zu unterstützen und zu fördern und sie zugleich zu überwachen bzw. zu überprüfen, ob sie sich normgerecht verhalten und Hilfe, die sie in Anspruch nehmen, auch zu jenem Ziel führt, das mit der Gewährung der Hilfe verbunden ist. Hilfen können deshalb auch Sanktionen umfassen, wenn Klient*innen den mit den Hilfen gewährten Verpflichtungen nicht nachkommen.
1.2 Mandat der Klient*innen
Zum anderen ist Soziale Arbeit aber auch von der Intention geprägt, sich auf die Seite der Klient*innen zu stellen, um aus einem tiefen Verständnis der Lebenswelten heraus sich für deren Belange, notfalls auch gegen Institutionen, einzusetzen. Insofern hat sie immer auch Aspekte einer Parteilichkeit, die dezidiert ihren gesellschaftspolitisch kritischen Standpunkt zum Ausdruck bringt und den ihr eingelagerten politischem Veränderungswillen ausdrückt. Sie ist deshalb immer auch Akteurin einer Rechtsdurchsetzung im Sinnen der Klient*innen. Dass dabei inzwischen ein Bezug zu den Menschenrechten hergestellt wird, ist prinzipiell richtig; diese bilden die Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Dies wurde auch Gegenstand des Tripelmandats, bei dem zusätzlich noch das Mandat der Profession betrachtet wird.
2 Widersprüchlichkeit der Mandate?
Bedürftigkeitsprüfungen, Hilfe, Kontrolle und die Vertretung von Interessen der Klient*innen sowie deren hilfreiche Unterstützung stellen insgesamt eine wesentliche gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit dar, die nicht voneinander getrennt werden können. Deshalb müssen beide Elemente des Doppelmandates trotz oder wegen ihrer Konflikthaftigkeit in der Praxis immer wieder zusammengeführt werden. Dies offenbart, dass sich Soziale Arbeit immer in zwei Funktionen spalten und einen Spagat anstellen muss, was sich in der Praxis oft als schwierig und mitunter widersprüchlich erweist. Diese prinzipielle Widersprüchlichkeit soll als Grundlage Sozialer Arbeit noch einmal vertieft werden.
In ihrem ersten Aspekt ist Soziale Arbeit Ausfluss eines gesellschaftlichen Denkens und Handelns, das zum einen Fehlentwicklungen, Auffälligkeiten und Abweichungen vom herrschenden Normalitätsmodell mit Sanktionen belegen will und zum anderen den Subjekten Hilfestellung bieten möchte, ihre subjektive Problematik zu überwinden, um wieder vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Dieses Denken gehört zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften, die sich ihrer Widersprüchlichkeit bewusst sind, und Menschen unterstützen wollen vollwertiges und aktives Mitglied zu sein: Die Gesellschaft erzeugt strukturell soziale Ungleichheit und somit soziale Probleme. Sie ist sich dessen bewusst und konstruiert Maßnahmen, Gesetze und Institutionen, zur Linderung aber nicht zur prinzipiellen Aufhebung. Das nämlich würde ihre Struktur und deren Widersprüche selbst infrage stellen.
Ihr zweiter Aspekt hingegen steht, bezogen auf die Funktion und die Zielstellung der Hilfe, dem Ersten konträr gegenüber. Menschen (Klient*innen) sollen darin bestärkt werden, sich notfalls auch gegen die Macht der Institutionen zu positionieren um ein „Gutes Leben“ zu führen bzw. ihr Recht zu erhalten. Soziale Arbeit ruht inzwischen auf klar gefassten gesetzlichen Grundlagen und ist deshalb immer auch Rechtsdurchsetzung im Sinne der Klient*innen. Dieses Denken realisiert die sozialkritische Funktion Sozialer Arbeit, das aus „Sozialen Bewegungen“ wie der Arbeiter-, der Frauen- und der Jugendbewegung kommt und wichtige Wurzeln Sozialer Arbeit sind. In diesem Verständnis ist Soziale Arbeit eine kritische Begleiterin der Modernisierung, die stetig auf soziale Probleme hinweist und eine kritische Politik einfordert.
Der Widerspruch, der aus diesen beiden Aspekten resultiert, gehört zur Logik des Doppelmandats. Sozialarbeiterische Praxis ist immer ein Spagat: Sie ist sowohl den Bedürfnissen des Individuums verpflichtet wie auch den Bedingungen und Vorgaben des staatlichen Rechtssystems und der Sozialpolitik. Allerdings kann sie letztere zugunsten der Klient*innen möglichst weit ausdehnen; und sie kann den Klient*innen, auch gegen Widerstände und behördliche Willkür, dazu verhelfen ihre Rechte zu erlangen.
3 Literaturhinweise
Böhnisch, Lothar und Wolfgang Schröer, 2013. Soziale Arbei: eine problemorientierte Einführung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-4024-0 [Rezension bei socialnet]
Graßhoff, Gunter, Anna Renker, und Wolfgang Schröer, Hrsg., 2018. Soziale Arbeit: Eine elementare Einführung Wiesbaden: Springer. ISBN 978-3-658-15665-7 [Rezension bei socialnet]
Lutz, Ronald, 2011. Das Mandat der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS-Verlag. ISBN 978-3-531-17915-5 [Rezension bei socialnet]
Wendt, Peter Ulrich, 2017. Lehrbuch der Methoden der Sozialen Arbeit. 2., überarbeitete Auflage. Weinheim: Juventa. ISBN 978-3-7799-3081-5 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
Soziologe und Anthropologe
Fachhochschule Erfurt
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Zitiervorschlag
Lutz, Ronald,
2020.
Doppeltes Mandat [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 13.01.2020 [Zugriff am: 16.09.2024].
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