Erziehungswissenschaftliche Theorien
Dr. Stefan T. Siegel
veröffentlicht am 26.05.2023
Erziehungswissenschaftliche Theorien sind strukturierte Aussagensysteme über Erziehungs- und Bildungsphänomene, die durch wissenschaftliche Forschung entstehen, sich durch sie legitimieren und dabei helfen, Vermittlungs- und Aneignungsprozesse besser beschreiben, verstehen, erklären, vorhersagen und gestalten zu können.
Überblick
- 1 Relevant, aber rar
- 2 Funktionen
- 3 Charakteristika
- 4 Beispiele für erziehungswissenschaftliche Theorien
- 5 (Weiter-)Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Theorien
- 6 Erziehungswissenschaftliche Theorien in internationaler Perspektive
- 7 Quellenangaben
- 8 Literaturhinweise
1 Relevant, aber rar
Eine stichprobenartige Durchsicht aktueller Einführungswerke zeigt, dass der Terminus erziehungswissenschaftliche Theorie(n) nur gelegentlich und meistens nur beiläufig benutzt wird (z.B. Gudjons und Traub 2020; Krüger 2019). Das Auffinden solcher Theorien und einer Definition erweist sich daher als schwierig: Die Fragen, was genau erziehungswissenschaftliche Theorien und ihre Besonderheiten sind, bleiben größtenteils offen. Dies überrascht, da erziehungswissenschaftliche Theorien laut Vogel zu „den Primärmerkmale[n]“ (Vogel 2016, S. 461), also den Grundlagen der Erziehungswissenschaft gehören, sofern man diese als (relativ) eigenständige Disziplin betrachtet, die über eine eigene Identität bzw. eigene Perspektiven, Fragen und Interessen verfügt (Siegel und Matthes 2022).
2 Funktionen
Erziehungswissenschaftliche Theorien sind aufgrund ihrer vielfältigen Funktionen für die erziehungswissenschaftliche Forschung und die pädagogische Praxis gleichermaßen relevant (Biesta 2013, S. 5–8). Diese Theorien zielen darauf ab, Erziehungs- und Bildungsphänomene zu beschreiben, zu erklären, zu verstehen, vorherzusagen und zu verändern. Ihnen wird eine Vielzahl von Funktionen zugesprochen: So können sie beispielsweise
- zur Orientierung und Legitimation der pädagogischen Praxis beitragen,
- die Wahrnehmung pädagogisch relevanter Phänomene fördern,
- die kritische Auseinandersetzung mit pädagogischem Handeln ermöglichen und
- die Weiterentwicklung bestehender Theorien oder Generierung neuer Ansätze unterstützen (Biesta 2013; Hierdeis und Hug 1992; Überblick bei Siegel 2022b, S. 41 f.).
3 Charakteristika
Der Begriff erziehungswissenschaftliche Theorien kann als Sammelbezeichnung für Theorien der Erziehungswissenschaft/Pädagogik in Abgrenzung zu Theorien anderer disziplinärer Provenienz (z.B. psychologischen oder soziologischen Theorien) verstanden werden.
Sie können wie folgt definiert werden:
„Genuin erziehungswissenschaftliche Theorien sind (a) i.d.R. von Erziehungswissenschaftler*innen durch (b) geistes- oder erfahrungswissenschaftliche Forschung, (c) […] nach wissenschaftlichen Standards gewonnene Aussagensysteme, die (d) eine erziehungswissenschaftliche Fragestellung als Ausgangsbasis haben und die (e) sich auf Gegenstände der Erziehungswissenschaft, d.h. Erziehungs- und Bildungsphänomene beziehen sowie (f) helfen, diese zu verstehen, beschreiben, erklären, prognostizieren oder modifizieren“ (Siegel 2022b, S. 38; Biesta 2013, S. 13 f.).
Damit unterscheiden sie sich in ihrem Aufbau, ihrem Geltungsanspruch und ihrer Herkunft von nichtwissenschaftlichen Theorien respektive subjektiven (Alltags-)Theorien. Letztere sind meist unbewusste, durch Erfahrung erworbene Annahmen über Ausschnitte der Realität. (Hierdeis und Hug 1992; Siegel 2022b)
4 Beispiele für erziehungswissenschaftliche Theorien
Der Aussage von Nieke, dass es keinen „Konsens über die fundamentalen Begriffe und Methoden der Erziehungswissenschaft und erst recht nicht über einen fundamentalen Kanon an Theorien und ein daraus resultierendes Kernstudium“ (Nieke 2006, S. 525) gibt, kann auch heute noch Gültigkeit attestiert werden.
Dennoch sind mit genuin erziehungswissenschaftlichen Theorien in erster Linie Erziehungs- und Bildungstheorien gemeint (Vogel 2019, S. 134), aber auch Theorien des Unterrichts, didaktische Theorien oder Curriculumtheorien.
Konkrete Beispiele für erziehungswissenschaftliche Theorien sind etwa
- die allgemeine Erziehungstheorie von Sünkel (2011)
- die Theorie der kategorialen Bildung nach Klafki (1959)
(Erziehungs-)wissenschaftstheoretische Grundkenntnisse sind nötig, um den metatheoretischen Hintergrund (u.a. Kritische Erziehungswissenschaft) einer bestimmten (Objekt-)Theorie (z.B. Klafkis kritisch-konstruktive Bildungstheorie) erkennen und diese angemessen auslegen und bewerten zu können (Krüger 2019, S. 43). Eine Übersicht über zentrale Theorieströmungen der Erziehungswissenschaft liefern z.B. Gudjons und Traub (2020, S. 29–51) oder Krüger (2019, S. 43–115).
5 (Weiter-)Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Theorien
Die Entwicklung von Theorien ist eine wesentliche Aufgabe akademischer Disziplinen (Kerlinger 1967, S. 10). Erziehungswissenschaftliche Theorien entstehen „aus dem bewusst methodischen Umgang mit ausgewählten Gegenständen“ (Hierdeis und Hug 1992, S. 95). Im Unterschied zu pädagogischen (Alltags-)Theorien erfolgt wissenschaftliche Theoriebildung in der Regel durch systematische Forschung mit geistes- und erfahrungswissenschaftlichen Methoden (Zierer et al. 2013, S. 11–13).
„Die Erziehungswissenschaft hat sich der Beobachtung ihrer Theorieproduktion in den vergangenen Jahren kaum systematisch gewidmet“ (Lüders und Meseth 2018; König 1990). Diese Feststellung von Lüders und Meseth bezieht sich sowohl auf (a) die Theorieentwicklung innerhalb der Disziplin auf kollektiver Ebene als auch (b) die individuelle Theoriebildung (Siegel 2022b). Wenngleich die disziplinäre Entwicklung Erziehungswissenschaft als Erfolgsgeschichte, insbesondere mit Blick auf die sekundären Disziplinmerkmale (u.a. Studiengänge, Publikationsorgane) betrachtet werden kann, weisen Meseth und Lüders darauf hin, dass sich die (relative) Autonomie der Disziplin nur in geringem Maße auf die (Weiter-)Entwicklung genuiner Theorien zu ihren Grundbegriffen stützt (Meseth und Lüders 2018, S. 7; Siegel und Matthes 2022).
6 Erziehungswissenschaftliche Theorien in internationaler Perspektive
Obwohl es verlockend ist, den deutschen Begriff erziehungswissenschaftliche Theorien mit educational theories in die englische Sprache zu übersetzen, würde dies den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten dieser Termini nicht Rechnung tragen. Letzterer ist weiter gefasst als das deutsche Pendant.
Dies liegt daran, dass die akademische Beschäftigung mit Erziehungs- und Bildungsphänomenen im anglo-amerikanischen Raum anders organisiert ist als im deutschsprachigen Raum (Siegel und Biesta 2022): Im kontinentalen Verständnis wird die Erziehungswissenschaft als eigenständige Disziplin betrachtet, die über spezifische Fragen, Interessen und Theorien verfügt. Im Gegensatz dazu wird im anglo-amerikanischen Verständnis ,education‘ als ein interdisziplinäres Forschungsfeld angesehen, das sich aus verschiedenen Grundlagendisziplinen wie Psychologie, Soziologie oder Geschichte speist. Demnach ist educational theories eher ein umbrella term, der auch erziehungswissenschaftlich-relevante Theorie aus benachbarten Disziplinen umfasst (Aubrey und Riley 2021; Irby et al. 2013).
7 Quellenangaben
Aubrey, Karl und Alison Riley, 2021. Understanding and Using Challenging Educational Theories. 2. Auflage. London: Sage. ISBN 978-1-4739-5580-6
Biesta, Gert J. J., 2013. On the Idea of Educational Theory. In Beverly J. Irby, Genevieve Brown, Rafael Lara-Alecio und Shirley Jackson, Hrsg. The Handbook of Educational Theories. Charlotte: IAP, S. 5–16. ISBN 978-1-6173-5867-8
Gudjons, Herbert und Silke Traub, 2020. Pädagogisches Grundwissen: Überblick—Kompendium—Studienbuch. 13. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-5523-7
Hierdeis, Helmwart und Theo Hug, 1992. Pädagogische Alltagstheorien und erziehungswissenschaftliche Theorien: Ein Studienbuch zur Einführung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-0702-9
Irby, Beverly J., Genevieve Brown, Rafael Lara-Alecio und Shirley Jackson, Hrsg., 2013. The Handbook of Educational Theories. Charlotte: IAP. ISBN 978-1-6173-5867-8
Kerlinger, Fred N., 1967. Foundations of Behavioral Research. New York: Holt, Rinehart and Winston
Klafki, Wolfgang, 1959. Kategoriale Bildung: Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik. In: Zeitschrift für Pädagogik. 5(4), S. 386–412. ISSN 0044-3247
Krüger, Heinz-Hermann, 2019. Erziehungs- und Bildungswissenschaft als Wissenschaftsdisziplin. Opladen: Budrich. ISBN 978-3-8252-5272-4
Lüders, Manfred und Wolfgang Meseth, Hrsg., 2018. Theorieentwicklungen in der Erziehungswissenschaft: Befunde – Problemanzeigen – Desiderata. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-2265-7
Nieke, Wolfgang, 2006. Erziehungswissenschaft (Studium). In: Dieter Lenzen, Hrsg. Pädagogische Grundbegriffe: Band 1: Aggression—Interdisziplinarität. 8. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 525–535. ISBN 978-3-4995-5487-2
Siegel, Stefan T., 2022a. Auf der Suche nach erziehungswissenschaftlichen Theorien in Einführungswerken der Erziehungswissenschaft. In: Dörte Balcke, Jakob Benecke, Andrea Richter, Michaela Schmid und Herwig Schulz-Gade, Hrsg. Bildungsmedien im wissenschaftlichen Diskurs: Festschrift für Eva Matthes zum 60. Geburtstag. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 127–137. ISBN 978-3-7815-5947-9
Siegel, Stefan T., 2022b. Erziehungswissenschaftliche Theorien und Individuelle Professionalisierung Studien zur Repräsentanz, Relevanz und Rezeption erziehungswissenschaftlichen Wissens in Studium und Lehre. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-5942-4
Siegel, Stefan T. und Gert Biesta, 2022. The problem of educational theory. In: Policy Futures in Education. 20(5), S. 537–548. ISSN 1478-2103 https://doi.org/10.1177/14782103211032087
Siegel, Stefan T. und Eva Matthes, 2022. Education’s Relative Autonomy: A Closer Look at the Discipline’s Past, Present, and Future. In: Nordic Studies in Education. 42(1), S. 13–29. ISSN 1891-5949. https://doi.org/10.23865/nse.v42.3785
Sünkel, Wolfgang, 2011. Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis: Allgemeine Theorie der Erziehung: Band 1. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-7799-1272-9 [Rezension bei socialnet]
Vogel, Peter, 2016. Die Erziehungswissenschaft und ihr Wissen. Selbstkritik, Thematisierungsformen, Analytik. In: Zeitschrift für Pädagogik. 62(4), S. 452–473. ISSN 0044-3247
Zierer, Klaus, Karsten Speck und Barbara Moschner, 2013. Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung. Stuttgart: UTB. ISBN 978-3-8252-4026-4 [Rezension bei socialnet]
Zima, Peter V., 2017. Was ist Theorie?: Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. Auflage. Stuttgart: UTB. ISBN 978-3-8252-4797-3
8 Literaturhinweise
Hierdeis, Helmwart und Theo Hug, 1992. Pädagogische Alltagstheorien und erziehungswissenschaftliche Theorien: Ein Studienbuch zur Einführung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-0702-9
Krüger, Heiz-Hermann, 2019. Erziehungs- und Bildungswissenschaft als Wissenschaftsdisziplin. Opladen: Budrich. ISBN 978-3-8252-5272-4
Siegel, Stefan T., 2022b. Erziehungswissenschaftliche Theorien und Individuelle Professionalisierung Studien zur Repräsentanz, Relevanz und Rezeption erziehungswissenschaftlichen Wissens in Studium und Lehre. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-5942-4
Verfasst von
Dr. Stefan T. Siegel
Universität St.Gallen
Institut für Wirtschaftspädagogik
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Stefan T. Siegel.
Zitiervorschlag
Siegel, Stefan T.,
2023.
Erziehungswissenschaftliche Theorien [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 26.05.2023 [Zugriff am: 12.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29745
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Erziehungswissenschaftliche-Theorien
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