Ethik der Sozialen Arbeit
Prof. Dr. Ruth Großmaß
veröffentlicht am 09.11.2023
Die Ethik der Sozialen Arbeit beschäftigt sich damit, wie ein gutes berufliches Leben gestaltet werden kann bzw. wie Sozialarbeiter:innen ihre berufliche Rolle angemessen ausfüllen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Historische Einordnung
- 3 Die gesellschaftliche Organisation der Sozialen Arbeit als Rahmen für Ethik-Diskurse
- 4 Ethik der Sozialen Arbeit als akademische Disziplin – zentrale Merkmale
- 5 Unterschiedliche Ansätze und Konzeptionen
- 6 Grundzüge einer Professionsethik für die Soziale Arbeit
- 7 Beiträge der Philosophie zur Ethik der Sozialen Arbeit
- 7.1 Normativ gehaltvolle Begriffe
- 7.1.1 Gerechtigkeit
- 7.1.2 Verteilungsgerechtigkeit
- 7.1.3 Soziale Gerechtigkeit
- 7.1.4 Verantwortung
- 7.1.5 Anerkennung/​Respekt
- 7.1.6 Rechte und Pflichten
- 7.1.7 Solidarität
- 7.1.8 Caring/​Sorgen
- 7.1.9 Moralische Gefühle
- 7.1.10 Moralische Intuitionen
- 7.1.11 Ethische Urteile
- 7.2 Interessante Theorien
- 7.3 Philosophische Methoden in der Professionsethik
- 7.1 Normativ gehaltvolle Begriffe
- 8 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Der Begriff „Ethik“, der in den sozialen Berufen verwendet wird, stammt aus der europäischen Tradition der Philosophie. Ethiken beschäftigen sich damit, was man tun muss, um ein gutes Leben zu führen. Anders als bei der Moral, die normative Regelungen von Gemeinschaften umfasst, fokussiert Ethik die Perspektive einer handlungsfähigen Person und untersucht die Aspekte des Lebens, auf die jede:r Einzelne gestaltend Einfluss nehmen kann. Dass man auch Ethiken speziell für das berufliche Handeln entwickelt, ist noch gar nicht so lange üblich. Erst das Aufkommen von sozialen, pädagogischen und psychologischen Berufen, die in die Lebenssituation anderer Menschen eingreifen und dabei Gutes tun oder Schaden anrichten können, hat zur Beschäftigung mit dem Thema beigetragen.
Ausgehend von einer ersten Definition entfaltet der Artikel historische, theoretische und methodische Aspekte von Ethik in der Sozialen Arbeit. Skizziert werden unterschiedliche Ansätze für die Ethik des sozialarbeiterischen Handels, die wir heute im fachlichen Diskurs antreffen – unterschiedlich hinsichtlich der Auffassung von der normativen Dimension der Sozialen Arbeit, unterschiedlich auch hinsichtlich der genutzten Konzepte aus Moral- und Sozialphilosophie. Im Anschluss wird eine professionsethische Konzeption von Ethik vorgestellt, Themen und Methoden professionsethischer Reflexion werden erläutert. Der Beitrag schließt ab mit einer Erläuterung der philosophischen Begriffe und Konzepte, auf die in der Ethik der Sozialen Arbeit zurückgegriffen wird.
2 Historische Einordnung
Soweit wir heute wissen, haben alle menschlichen Gesellschaften Formen der wechselseitigen Unterstützung und der Nothilfe entwickelt – jeweils verbunden mit moralischen Verpflichtungen, die je nach sozialem Stand, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit unterschiedlich ausfielen. Soziale Unterstützung als gesellschaftliche Institution wird – das zeigt der historische Vergleich – in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gestaltet, sie hat jedoch immer auch eine normative (moralische, sozialrechtliche, ethische) Dimension. Die heute vor allem in den „westlichen“ Ländern bestimmende Form der sozialen Arbeit – Soziale Arbeit als Beruf bzw. Profession – ist, historisch gesehen, relativ neu. Sie ist in mehreren Etappen gesellschaftlicher Veränderung entstanden, ein Prozess, der immer auch mit gesellschaftlichen Kämpfen verbunden war. Das Thema einer expliziten Ethik wurde akut, als soziale Hilfen zu beruflichen Tätigkeiten geworden waren.
2.1 Vorläufer beruflicher sozialer Arbeit
Die Geschichte der sozialen Arbeit in Europa reicht – wie die der Kranken- und Armenpflege – bis in die Antike zurück. Bereits im Mittelalter und der frühen Neuzeit entstehen Vorläufer einiger der uns heute vertrauten Institutionen. Diese waren nach dem Prinzip der sozialen Nähe organisiert und nicht für jedermann zugänglich. Einrichtungen der sozialen Hilfe wurden von dörflichen, religiösen oder städtischen Gemeinden getragen. Besondere Initiativen gingen auf Stiftungen einzelner Adliger oder Bürger:innen zurück. Die Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gemeinschaft war die Voraussetzung dafür, Hilfe zu bekommen (Lambers 2018, S. 28–183).
2.2 Soziale Arbeit als Beruf
Sozialhistorische Veränderungen in den europäischen Ländern – meist als westliche Moderne gefasst – haben seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Soziale Arbeit als Beruf hervorgebracht. Vor allem drei Besonderheiten kennzeichnen die damit einsetzende Entwicklung: Es gibt eine Dynamik fortschreitender Ausdifferenzierung und Spezialisierung von Hilfeformen. Damit verbunden ist die Ablösung der beruflichen Tätigkeiten von den lebensweltlichen Praktiken. Dies wiederum hat Änderungen der normativen Dimension zur Folge; an die Stelle vorwiegend informeller moralischer Pflichten treten explizite normative Regelungen.
2.3 Von der moralischen Pflicht zu gesellschaftlich organisierter Solidarität
Bis ins 19. Jahrhundert war soziale Unterstützung vorwiegend partikular organisiert. D.h., wer von wem wie viel Hilfe erwarten konnte, war in ländlichen Regionen anders als in den Städten, in christlichen Gemeinden anders als in jüdischen Communities und für Mitglieder der Handwerksgilden anders als in bäuerlichen Familienstrukturen. Die Hilfe erfolgte nach den moralischen Normen der Geber. Wer soziale Unterstützung leistete, „tat Gutes“. Dies änderte sich im 19. Jahrhundert mit den sich entwickelnden Wohlfahrtsstaaten. Die Industrialisierung brachte Wohlstand und Kapitalbesitz für Teile der bürgerlichen Gesellschaft, Armut für große Teile der Arbeiterschaft, verbunden mit Unruhen und politischen Konflikten. Soziale Unterstützung wurde vor diesem Hintergrund zunehmend als gesellschaftliche Aufgabe gesehen. Wachsender gesellschaftlicher Reichtum (durch Maschineneinsatz in der Produktion und koloniale Ausbeutung von Bodenschätzen und menschlicher Arbeitskraft) machte es möglich, diese Aufgabe durch ein staatliches Wohlfahrtssystem zu lösen. In einer Phase von ca. 70 Jahren wurden Einrichtungen der staatlichen Armenfürsorge geschaffen, mit entsprechenden sozialrechtlichen Regelungen (Lambers 2018, S. 109–140).
2.4 Professionalisierung des Berufes
Die neuen Formen der sozialen Unterstützung sind nicht mehr mit lebensweltlicher Erfahrung allein zu bewältigen. Wissen über die Probleme der „Armen“ und die vorhandenen Möglichkeiten der Unterstützung wird genauso erforderlich wie die Klärung von Anspruchsberechtigungen und die Entwicklung angemessener Umgangsformen. Soziale Arbeit wird zu etwas, das man lernen muss. Fachlich begründete Interventionen und ausgearbeitete Handlungsmethoden verschaffen den beruflichen Akteuren Spielräume für eigenständige Entscheidungen in der Praxis. Diese sind normativ an sozialrechtliche Bestimmungen gebunden und pragmatisch immer auch von materiellen und zeitlichen Ressourcen abhängig. Was jedoch im Einzelfall richtig ist zu tun und wirksam hilft, lässt sich aus diesen Rahmenbedingungen nicht direkt ableiten, sondern folgt der Expertise und der moralischen Grundhaltung der handelnden Sozialarbeiter:innen. In der Folge werden für die Tätigkeiten der Sozialarbeiterin, des Armenhelfers und Sozialpädagogen spezielle Ausbildungen erforderlich – Fachschulen und erste Studiengänge entstehen – die Soziale Arbeit erhält Merkmale einer Profession.
2.5 Entstehung von Ethik-Bedarf
Die Funktionalisierung der Sozialen Arbeit durch den Nationalsozialismus sowie die Brüche und Diskontinuitäten des Berufes während des Zweiten Weltkrieges hatten gezeigt, dass die Bindung der Sozialen Arbeit an das „Gute“ keine Selbstverständlichkeit ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt zudem die Professionalisierungsdynamik der Sozialen Arbeit noch einmal zu. Die Arbeitsfelder differenzieren sich weiter aus, die Aufgaben erweitern sich in Richtung Sozialpädagogik und Beratung. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse der „Bezugswissenschaften“ werden zur Grundlage des beruflichen Handelns und die Ausbildung wird akademisiert. Erneut vergrößern sich die Handlungsspielräume der beruflichen Akteure. Auch die Kriterien dafür, was eine gute Praxis ausmacht und wie mit der Einbindung in gesellschaftliche Machtverhältnisse umzugehen ist (Großmaß 2015), bedürfen nun der expliziten Reflexion und Begründung. Die Soziale Arbeit benötigt eine auf diese Bedingungen des beruflichen Handelns bezogene (Professions-)Ethik.
2.6 Neue Anforderungen durch inter- bzw. transnationale Arbeitsbereiche
Spätestens seit Beginn des 21. Jh. öffnen sich auch in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit zunehmend Perspektiven, die globale Entwicklungen wahrnehmen, Konzepte internationaler Sozialer Arbeit entwickeln sowie soziale Probleme – auch im eigenen Land – transnational einordnen und entschlüsseln. Damit entsteht ein neues Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Ebenen normativer Bestimmungen, die in der Sozialen Arbeit zu berücksichtigen sind. Denn die sozialrechtlich abgesicherten Anspruchsberechtigungen sind nationalstaatlich gebunden. Unterstützungsleistungen, wie sie durch die Genfer Flüchtlingskonvention und die UN-Menschenrechte zugesichert werden, haben dagegen universale Geltungsansprüche (Staub-Bernasconi 2019) und können mit nationalstaatlichen Regelungen in Konflikt geraten. Hinzukommen unterschiedliche kulturgebundene Moral(en) nicht nur aufseiten der Klientel, sondern auch bei einzelnen Trägern und Kooperationspartner:innen. Zudem wird die Notwendigkeit immer deutlicher, hierarchisierende Praxis-Konzepte und Begrifflichkeiten der sozialen Analyse kritisch zu prüfen. Es geht um den in der Sozialen Arbeit wirksamen Paternalismus gegenüber den Armen, es geht um sexistische Bilder von Geschlecht sowie um die durch die Kolonialzeit geprägte Idee zivilisatorischer Überlegenheit. Gegenüber diesen Anforderungen bekommt die Ethik der Sozialen Arbeit nun auch die Aufgabe, den normativen Rahmen für Metareflexionen zur Verfügung zu stellen (Banks 2022, S. xx f.).
Die Soziale Arbeit ist ein Beruf, der sich immer im Zustand der Veränderung befindet (Banks 2022, S. 1) und so befinden sich auch die Themen und Anforderungen der (Professions-)Ethik in einem diskursiven Prozess.
3 Die gesellschaftliche Organisation der Sozialen Arbeit als Rahmen für Ethik-Diskurse
Die Soziale Arbeit ist – trotz der für alle Gesellschaften gleichen Aufgabe (soziale Unterstützung und Nothilfe), trotz der weitgehend ähnlichen Strukturen von Arbeitsfeldern und trotz der sich zunehmend angleichenden Methodik – in den einzelnen Ländern organisatorisch unterschiedlich in die Gesellschaft eingebunden. Es gibt Länder, in denen die Soziale Arbeit weitgehend auf sozialrechtlichen Regelungen basiert, mit entsprechend großen wohlfahrtsstaatlichem Einfluss. In anderen Ländern stellen Fachverbände für Soziale Arbeit die zentrale Organisationsform dar, deren Aufgabe es ist, die Qualitätsstandards zu sichern und die Praktiker:innen per Mitgliedschaft zu integrieren. Und es gibt Soziale Arbeit auch in Trägerschaft von NGOs – dies vor allem in internationalen/​transnationalen Arbeitsfeldern. Entsprechend unterschiedlich wird der Ethik-Bedarf wahrgenommen, sowohl hinsichtlich des inhaltlichen Umfangs als auch bezogen auf den Zeitpunkt, zu dem ethische Fragen akut werden. Professionsethische Diskurse finden daher in verschiedenen organisatorischen Rahmungen statt, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
3.1 Die Rolle der Berufsverbände
Vielfach sind es die Berufsverbände (der Sozialarbeiter:innen) bzw. die Fachverbände für Soziale Arbeit, in denen gemeinsame Anliegen der Profession zum Thema gemacht werden. Solche Zusammenschlüsse gibt es auf nationaler, auf europäischer und auf internationaler Ebene. Mit Beginn der 1990er-Jahre wird Ethik in vielen dieser Verbände zum Thema. Es werden Debatten zur Berufsethik organisiert und deren Ergebnisse in Ethik-Kodizes gefasst. Ethik-Kodizes sind Instrumente zur Klärung der normativen Ansprüche an die Mitglieder des jeweiligen Verbandes. Sie fassen kommunikativ erarbeitete Übereinkünfte zur Berufsmoral (englisch: ethics) zusammen und sind damit ein wichtiger Baustein, um Qualität und Fachkompetenz nach innen und außen sichtbar zu machen (z.B. British Association of Social Workers [BASW] 2014; National Association of Social Workers [NASW] 2021). Die Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension des beruflichen Handelns und die daraus hervorgehenden Ethik-Kodizes sind zudem ein Mittel, um die Eigenständigkeit des fachlichen Handelns zu stärken, indem sichtbar gemacht wird, dass man die professionelle Fachlichkeit verantwortlich einsetzt. Eine besondere Rolle für die Koordinierung der Diskussionen und die Weiterentwicklung und Verbreitung ethischer Standards spielt heute die „International Federation of Social Workers“ (IFWS).
3.2 Die Rolle der Hochschulen
Neben den Berufsverbänden bieten Hochschulen und Universitäten einen wichtigen organisatorischen Rahmen für professionsethische Diskussionen. Dies gilt nicht nur für die Ausbildung der Studierenden und den damit verbundenen Einfluss auf deren spätere Praxis. Auch zentrale theoretische Arbeiten sind im universitären Kontext entstanden. Verwiesen sei hier besonders auf die britische Tradition der Erarbeitung ethischer Theorien für die Soziale Arbeit (Ife 2012; Banks 2022).
3.3 Besonderheiten der deutschen Debatte
Auch in Deutschland ist die Ethik-Debatte von der gesellschaftlichen Organisation der Sozialen Arbeit geprägt. Dabei fallen (im internationalen Vergleich) zwei Besonderheiten auf:
- Die weitgehende sozialrechtliche Regelung der Sozialen Arbeit bietet einen starken normativen Rahmen – Ethik-Bedarf wird daher vergleichsweise spät wahrgenommen.
- Das für die Trägerschaft der fallbezogenen Hilfe geltende Subsidiaritätsprinzip gibt den Wohlfahrtsverbänden viel Gestaltungsspielraum. Von diesen ist ein großer Teil christlich-konfessionell bestimmt – christliche Moral und Sozialethik prägen dann auch die Vorstellung von Helfen und Caring sowie das Arbeitsethos der beruflichen Akteure.
Beide Besonderheiten haben u.a. zur Folge, dass der Einfluss von Berufsverbänden geringer bleibt als beispielsweise in den angelsächsischen Ländern. Diskussionen zur Ethik der Sozialen Arbeit begannen in den 1990er-Jahren nicht in den Fachverbänden, sondern an den (Fach-)Hochschulen. Eine generelle Etablierung des Faches Ethik mit den dazugehörigen akademischen Debatten und Publikationen erfolgte an den deutschen Hochschulen erst in den 2000er-Jahren, häufig inspiriert durch internationale Initiativen. Die Berufsverbände – Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit e.V. (DGSA) und Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH) – nahmen die Fragen der Ethik spät auf und lehnen sich dabei eng an die Materialien und den Ethik-Kodex der Internationalen Vereinigung (IFSW: Policies, ab 2012) an.
4 Ethik der Sozialen Arbeit als akademische Disziplin – zentrale Merkmale
In einem allgemeinen Sinne umfasst die Ethik der Sozialen Arbeit alle Diskussionen, Reflexionen und Theorien, die sich der Frage stellen, wie die soziale Arbeit nicht nur fachlich fundiert, sondern auch im ethischen Sinne gut ausgeübt werden kann. Im Zentrum stehen dabei die Handlungsoptionen der professionellen Akteure; manchmal ist dieser Akteur eine einzelne Person, manchmal ein Team bzw. eine Einrichtung; es können aber auch alle in einem Fachverband organisierten Sozialarbeiter:innen angesprochen sein.
In einem engeren Sinne nennt man dann auch die Ergebnisse solcher Debatten „Ethik“. Nicht nur die Ethik-Kodizes von Berufsverbänden, auch theoretisch erarbeitete Konzeptionen für eine gute berufliche Praxis führen „Ethik“ im Titel (z.B. Lob-Hüdepohl und Lesch 2007; Gruber 2009; Großmaß und Perko 2011; Dallmann und Volz 2017; Banks 2022).
Diese theoretischen Konzeptionen gehen davon aus, dass ethische Überlegungen andere Personen dafür gewinnen wollen, die normative Dimension der Sozialen Arbeit ernst zu nehmen und den Regeln und Prinzipien in der beruflichen Praxis zu folgen. Eine Ethik kann daher nicht einfach festgelegt und top-down verordnet werden. So werden Begründungen und Ableitungen geliefert, die zeigen sollen, warum die eingeführten Prinzipien und Regeln Geltung beanspruchen können. Diese Begründungen nutzen einen aus der Moralphilosophie bekannten Argumentationstyp. Die Abfolge der einzelnen Argumente zielt nicht darauf, empirische Gegebenheiten nachzuweisen – es geht nicht darum zu beweisen, was der Fall ist. Man will vielmehr davon überzeugen, wie etwas sein oder werden soll. D.h. wir haben es mit Bewertungen und normativen Aussagen zu tun, deren Anspruch auf Geltung in aufeinander aufbauenden Überlegungen und Begründungen aufgezeigt wird. Am Beginn einer ethischen Argumentation allerdings steht immer eine erste Setzung. Meist handelt es sich um grundlegende Werte und Ziele, von denen man annimmt, dass alle an der Diskussion Beteiligten ihnen zustimmen können.
In der Sozialen Arbeit ist der Ausgangspunkt meist eine (explizit oder implizit vorgenommene) Bestimmung der Aufgaben und Ziele der Sozialen Arbeit. Solche Bestimmungen oder Definitionen von Sozialer Arbeit werden zwar oft wie Faktenbeschreibungen formuliert – „… die Soziale Arbeit ist …“ – sie schließen jedoch normative Bestimmungen ein. So soll die Soziale Arbeit z.B. einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten, sie verpflichtet sich zum Respekt vor der Würde des Einzelnen, sie fördert das Wohlergehen ihrer Klientel, verschreibt sich der Stärkung von Solidarität und bekämpft Diskriminierung (Banks 2022, S. 8 f.). Von solchen Werten und Zielen ausgehend, entwickelt die Ethik der Sozialen Arbeit dann mit Bezug auf die berufliche Praxis Regeln, Schlussfolgerungen und situationsbezogene Handlungskonzepte. Unter Nutzung moralphilosophischer Modelle und Methoden wird aufgezeigt, warum es gut und richtig ist, die Ziele der Sozialen Arbeit mit bestimmten ethischen Prinzipien zu verknüpfen und eine Haltung zu entwickeln, die das Gute im praktischen Handeln wirksam werden lässt. Ethische Argumentationen beweisen nicht, sondern legen aus, wenden an, zeigen Konsequenzen von Fehlverhalten auf und analysieren Möglichkeiten des Guten in beruflichen Alltagssituationen.
Diese Besonderheit – auf Auslegung und Interpretation angewiesen zu sein – teilt die Ethik sowohl mit rechtlichen Vorgaben als auch mit moralischen Normen. Auch bei diesen geht es nicht darum, wie etwas faktisch ist, sondern darum, wie etwas sein soll. Es gibt allerdings Unterschiede zwischen Gesetzen, Moral und Ethik. Unterschiedlich ist zum einen der Gegenstandsbereich, auf den sich die jeweiligen Regelungen beziehen. Gesetze bilden den normativen Rahmen eines staatlichen Gemeinwesens. Als Moral bezeichnet man die (meist informellen) Regeln, die das sittliche Leben von Gruppen und Gemeinschaften bestimmen. Und eine Ethik entwickelt Regularien für das individuelle Handeln (Düwell et al. 2002, S. 2). Ein zweiter Unterschied liegt in der Behandlung von Normverstößen. Gesetzesverstöße werden mit rechtsstaatlich festgelegten Strafen sanktioniert, Verstößen gegen die Moral können mit Achtungsentzug bzw. Verachtung gestraft werden (Luhmann 2008, S. 256 f.), in rigiden Moralsystemen auch mit Gewalt. In der berufsbezogenen Ethik beschädigen Verstöße gegen die Berufsmoral das professionelle Renommee der einzelnen Sozialarbeiterin bzw. des einzelnen Sozialarbeiters, der Einrichtung oder der Profession als ganzer. Mitglieder von Berufsverbänden müssen zudem mit Verfahren der zuständigen Kommission rechnen.
5 Unterschiedliche Ansätze und Konzeptionen
Auch wenn in den meisten Entwürfen einer berufsbezogenen Ethik ähnliche Themen diskutiert werden, auch wenn sich ein Kern von geteilten Grundregeln findet, so haben wir es doch nicht mit einer einheitlichen Fassung von zutun. Differenzen ergeben sich durch unterschiedliche Akzentsetzungen bei der Definition von Sozialer Arbeit und den damit verbundenen normativen Schwerpunkten. Auch wenn am Anfang immer eine Bestimmung der Aufgaben und Ziele von (professioneller) Sozialer Arbeit steht, so erfolgt dies doch mit verschiedener Gewichtung der einzelnen Merkmale und einer unterschiedlichen Herausarbeitung von Grundwerten und -einstellungen. Man kann die wohlfahrtsstaatliche Einbindung betonen oder eine internationale Perspektive einnehmen. Man kann die Bedeutung der verschiedenen Arbeitsfelder unterschiedlich gewichten oder eine bestimmte Form der Klientelbeziehung ins Zentrum setzen. Jede Definition von Sozialer Arbeit enthält normative Elemente, die der Interpretation bedürfen, um auf einzelne berufliche Handlungen bezogen werden zu können. Für solche Auslegungen werden philosophische Theoreme, Methodenentscheidungen und moralische Positionen herangezogen, um dann schrittweise Argumentationen für eine berufsbezogene Ethik zu entwickeln. Bereits bei der Wahl eines Ausgangspunktes werden Akzente gesetzt, die manche Argumentationswege naheliegender machen als andere und die Auswahl der einbezogenen Theoreme (mit-)bestimmen. In der aktuellen Diskurslandschaft lassen sich vor allem die folgenden Typen von Ethikkonzepten und Theorien ausmachen.
5.1 International und transnational gedachte Konzepte
Die auf internationale Kooperation ausgerichtete Soziale Arbeit orientiert sich weitgehend an den in der „International Federation of Social Workers“ (IFSW) erarbeiteten Standards. Die „Ethical Principles“ der IFSW sind (seit den 1990er-Jahren) aus einem längeren, auf Konsens setzenden Kommunikationsprozess hervorgegangen; es wurden Richtlinien und Verhaltenskodizes in Kommissionen entwickelt, dann auf Kongressen diskutiert und verabschiedet (IFSW fortlaufend). Ausgangspunkt ist eine anspruchsvolle Definition von Sozialer Arbeit, die einen gesellschaftspolitischen Auftrag einschließt und menschenrechtliche Aspekte hervorhebt. Um Spielräume für die Ausarbeitung von nationalen Kodizes zu lassen, konzentrieren sich die „Ethical Priciples“ auf die Formulierung von sehr allgemeinen Prinzipien. Gefordert wird z.B. die Anerkennung der menschlichen Würde, die Stärkung der Menschenrechte, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Diskriminierung, eine ganzheitliche Sicht auf Personen und die Wahrung der professionellen Integrität. Die einzelnen Prinzipien werden mit Bezug auf die berufliche Praxis erläutert, bleiben aber insgesamt auslegungsbedürftig. Die Quellen für die formulierten Prinzipien sind heterogen – Kodizes sind philosophisch gesehen inkohärent (Banks 2022, S. 129). Ihre argumentative Überzeugungskraft leitet sich weniger aus einer inneren logischen Systematik ab, sie basiert vielmehr auf dem kommunikativen Prozess ihrer Erarbeitung.
5.2 Partikulare oder werteorientierte Ansätze
Neben universell und transnational gedachten Konzepten gibt es auch partikulare, auf bestimmte nationale oder kulturelle Normen rekurrierende Ansätze. Ableitungen aus weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen können als Theorien gefasst werden, sie können die Form eines Kodex haben oder Teil der Selbstdarstellung einer Einrichtung sein. In der deutschen Debatte dominieren zwei Typen von werteorientierter Ethik. Häufig anzutreffen ist die Verpflichtung der Sozialen Arbeit auf „demokratische Werte“ (Oehler 2018, S. 253 ff.). Vorgenommen wird die normative Einbindung des Berufes in die Geschichte demokratischer staatlicher Strukturen. Basis ist eine liberale Grundhaltung (mit der Betonung von individuellen Rechten und Partizipation). Ein zweiter Typ werteorientierter Sozialer Arbeit, der in der BRD über das System der Wohlfahrtsverbände einflussreich ist, nimmt christliche Werte und Haltungen zum Ausgangspunkt und verbindet Hilfe und Caring mit christlicher Nächstenliebe und Spiritualität (Mahler 2018).
5.3 Spannungsfeld zwischen Sozialer Arbeit und Gesellschaft
Ein dritter Typ ethischer Grundorientierungen wird häufig eher implizit im Kontext von Theorien der Sozialen Arbeit herausgearbeitet. Analysen zum Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gesellschaft liefern Hinweise auf Konflikte und Dilemmata, die in der Praxis der Sozialen Arbeit ethische Reflexionen herausfordern. Ein nach wie vor wichtiges Theorem ist das des doppelten Mandats. In diesem Theoriekontext ist „Gerechtigkeit“ die Leitkategorie für ethische Überlegungen – generell als soziale Gerechtigkeit gefasst oder spezifischer als Chancen- oder Befähigungsgerechtigkeit (Bielefelder Arbeitsgruppe 2008, S. 25–61). Soziale Arbeit wird zum Träger des sozialen Zusammenhalts und zur Agentur des Ausgleichs von Ungerechtigkeiten. Ein Konzept, das die Position der Sozialen Arbeit als die des Dritten zwischen Gesellschaft und Individuum bestimmt, ist das von Silvia Staub-Bernasconi entwickelte Theorem der drei Mandate. Das doppelte Mandat wird durch ein drittes Mandat ergänzt, das sich aus der eigenständigen Professionalität der Sozialen Arbeit und ihrer immer schon gegebenen Bindung an die Menschenrechte ergibt (Staub-Bernasconi 2019, S. 83–97). Neben das Fachwissen und die Handlungsmethoden tritt die Ethik der Sozialen Arbeit als wichtiger Baustein professionellen Handelns.
5.4 Professionsethische Konzeptionen
Ein vierter Typ ethischer Grundorientierung geht von der Einordnung der Sozialen Arbeit als (neuer) Profession aus. Es handelt sich in der Regel um ausgearbeitete Theorien bzw. Lehrbücher. Die Begründung für professionsethische Normen wird argumentativ aus den Spezifika des Berufes ableitet, die zum Bedarf an Ethik geführt haben. Zum relevanten Merkmal werden dann die im Professionalisierungsprozess entwickelten fachlichen Handlungsspielräume (s.o. Historische Einordnung). Dahinter steht die Einsicht, dass das, was in einer konkreten Situation gut ist zu tun, sich nicht direkt aus dem Fachwissen, aus sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Praxiserfahrungen ableiten lässt. Die gesetzlichen Vorgaben und der gesellschaftliche Arbeitsauftrag geben zwar einen Rahmen vor, bedürfen aber der Auslegung, will man sie auf den Einzelfall anwenden. Bei dieser Sicht gehen bereits in das Fallverstehen normative Aspekte ein, die dann für die Handlungsentscheidung noch einmal genauer bedacht werden müssen. Professionsethiken gehen von den gesellschaftsspezifischen Anforderungen an die Praxis der Soziale Arbeit aus; Konfliktfelder – wie die Einbindung in Macht, Ressourcenknappheit oder die Auseinandersetzung mit lebensweltlicher Moral – werden untersucht; normative Widersprüche herausgearbeitet. Theoreme und Methoden aus der praktischen Philosophie (= Rechtsphilosophie, Moral- und Sozialphilosophie, Ethik) werden herangezogen, um ethische Urteile und Entscheidungen begründet vornehmen und in der Fachcommunity diskutieren zu können.
6 Grundzüge einer Professionsethik für die Soziale Arbeit
Beispielhaft wird hier eine professionsethische Konzeption vorgestellt, an der sich der Weg ethischer Reflexion gut aufzeigen lässt: Das theoretisch angeleitete Nachdenken über normative Fragen nimmt die berufliche Praxis zum Ausgangspunkt; die Ergebnisse des Nachdenkens werden dann wieder in die Praxis eingebunden.
6.1 Herausforderungen aus der Praxis der Sozialen Arbeit
Die Professionsethik richtet die Themen, mit denen sie sich auseinandersetzt, an der professionellen Praxis und den damit verbundenen Herausforderungen aus. Einige Themen – Einbindung in gesellschaftliche Macht, professionelle Integrität, Gerechtigkeit beim Einsatz materieller und zeitlicher Ressourcen, Balance der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen – sind durchgängig zu berücksichtigen. Sie ergeben sich aus dem Spezifikum von Professionen, im Auftrag des Gemeinwesens einzelnen Personen und Gruppen fachlich fundierte Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. Andere Themen ergeben sich aus den je aktuellen gesellschaftlichen Problemen, die dazu führen, dass sich Arbeitsfelder verschieben und die Konfliktlinien andere werden. Armut hat heute in den westlichen Gesellschaften eine andere Bedeutung als vor 30 Jahren, sie bedeutet verstärkt Kinderarmut und ungleiche Bildungs- und Entwicklungschancen. Die Integration von eingewanderten und die Inklusion von behinderten Menschen stellen vergleichsweise neue Arbeitsfelder dar. Ähnliches gilt für die Versorgung geflüchteter Menschen. Nicht nur in diesen Arbeitsfeldern bekommt die Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus besonderes Gewicht. Fragen der Gleichstellung der Geschlechter und der Wahrnehmung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten begleiten heute den Alltag der Sozialen Arbeit. Solche Herausforderungen zu analysieren und hinsichtlich der fachlichen Handlungsmöglichkeiten und -methoden zu beschreiben, ist nicht Aufgabe der Ethik, sondern der kontinuierlichen fachwissenschaftlichen Diskussion und Theoriebildung. Die Professionsethik greift auf deren Ergebnisse zurück und arbeitet die darin liegenden normativen Anforderungen heraus (Banks 2022, S. 21–41). Aus der Praxis der Sozialen Arbeit benötigt die Ethik einen offenen, fehlerfreundlichen Umgang mit schwierigen und belastenden Erfahrungen. Dann kann die ethische Reflexion auf (möglichst differenzierte phänomenologische) Beschreibungen von Handlungssituationen aus der Praxis zurückgreifen – diese sind das Material, an dem die ethische Analyse geprobt und entwickelt werden kann. Ziel der Professionsethik ist die Ermöglichung ethisch geschulter Urteilsbildung und Entscheidung in der beruflichen Praxis.
6.2 Zentrale Themen ethischer Reflexion
Die Themen der ethischen Reflexion ergeben sich zum einen aus dem gesellschaftlichen Auftrag und dem Status der Profession. Dazu gehören die Wahrnehmung und der angemessene Umgang mit (politischer) Macht (Großmaß 2015, S. 224) sowie die Notwendigkeit, Verantwortung zu übernehmen und getroffene Entscheidungen verantworten zu können. Auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ergeben sich aus dem gesellschaftlichen Auftrag der Sozialen Arbeit. Andere Themen entstehen aus gesellschaftlich aktuellen Problemen, die in die berufliche Praxis hineinwirken. Hier sind die Forderung von Respekt und Anerkennung einzuordnen, ebenso Fragen der sexuellen oder ethnischen Identität sowie die Auseinandersetzung mit Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus. Im Zentrum professionsethischer Reflexion aber stehen all die Themen, die unmittelbar mit der Praxis des Helfens zusammenhängen. Helfen findet sowohl lebensweltlich als auch professionell statt, immer in einer asymmetrischen Beziehung. Im professionellen Helfen ist die Asymmetrie allerdings deutlich größer als im lebensweltlichen Kontext. Denn fachliche Expertise – „sozialwissenschaftliches Wissen über soziale Probleme und Konfliktfelder; Kompetenz im Umgang mit sozialstaatlichen Anspruchsberechtigungen; wirksame Kommunikations- und Handlungsmethoden“ (Großmaß 2016, S. 97) – ist die Grundlage des beruflichen Handelns. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung für die Gestaltung der helfenden Beziehung. Schadensvermeidung (Missbrauch der Beziehungsmacht eingeschlossen), respektvoller Umgang mit den involvierten Personen (Klient:innen wie lebensweltliche Helfer:innen) und Fragen der sozialen Gerechtigkeit werden zu Themen der ethischen Reflexion. Joan Tronto hat ein Modell für Caring-Beziehungen generell vorgelegt, das sich auch in der Professionsethik nutzen lässt (Tronto 2013, S. 22 f.; 34 f.).
6.3 Die ethische Fallreflexion als Kernstück einer berufsbezogenen Ethik
Die ethische Kompetenz von Sozialarbeiter:innen erweist sich im beruflichen Handeln in allen Situationen, in denen eine Intervention geplant, die Fallarbeit reflektiert oder eine getroffene Entscheidung gegenüber der Klientel/dem Träger/der Öffentlichkeit zu verantworten ist. Ethische Reflexion (engl. ethical reasoning) muss erlernt werden – im Studium, in Teambesprechungen und in der Supervision. Die ethische Fallreflexion tritt jedoch nicht an die Stelle der fachlichen Analyse (Fallverstehen und Herausarbeitung von Handlungsoptionen), sondern ergänzt diese. Die Einhaltung einer klaren methodischen Schrittabfolge erleichtert die Etablierung ethischen Nachdenkens im beruflichen Alltag:
- Erarbeitung einer phänomenologischen Beschreibung der Handlungssituation: Da das Fallverstehen mit dem Ziel einer sozialen Diagnose, d.h. aus Sicht der Profession erfolgt, ist ein zweiter Blick auf die Handlungssituation erforderlich. Wer ist beteiligt (lebensweltliche und professionelle Akteure)? Welche Erfahrungen/​Erlebnisse wurden mitgeteilt? Welche lebensweltlichen Werte/​Beziehungen spielen eine Rolle? Was ist schwierig und aus welcher Perspektive? Eine möglichst genaue, nicht wertende Beschreibung aller Wahrnehmungen ist dann die Grundlage für ethisches Nachdenken.
- Wahrnehmung von Gefühlen und Intuitionen: Jeder Akteur in einer Handlungssituation ist auch emotional beteiligt; intensive Gefühle – insbesondere moralische Gefühle – verweisen auf ein moralisches Involviert-Sein. Es lohnt sich, diese Gefühle wahrzunehmen und mitzuteilen, auch wenn sie sehr persönlich sind. Intuitiv sich einstellende Ideen dazu, was zu tun gut bzw. vorrangig ist, enthalten Hinweise auf die Richtung einer auch im ethischen Sinne guten Hilfe. Vollständig und eindeutig richtungsweisend aber sind weder Gefühle noch Intuitionen; sie bedürfen der Reflexion, der Erweiterung durch Perspektivwechsel und der Überprüfung durch professionsethisches Wissen.
- Lösung ethischer Konflikte und Dilemmata: Im Zentrum ethischer Fallreflexionen stehen meist Schwierigkeiten, die in der Praxis als unmittelbar bedrängend erlebt werden bzw. Ohnmachtsgefühle auslösen. Bedrängend werden ethische Konflikte, wenn materielle Interessen oder fachliche Ziele (Loyalität zu Kolleg:innen, Identifikation mit den Zielen der Einrichtung, Ressourcenknappheit, persönlicher Ehrgeiz, aber auch fachlich-methodische Effektivität) gegen ethische Normen stehen. Ohnmächtig fühlt man sich bei ethischen Dilemmata. Ein Dilemma ergibt sich, wenn mehrere Normen Geltung beanspruchen, nicht aber gleichermaßen umgesetzt werden können. Dies ist z.B. der Fall, wenn rechtliche Vorgaben kritisch hinterfragt werden müssen, aber auch wenn wichtige moralische Normen Geltung beanspruchen, nicht aber gleichzeitig erfüllt werden können. Jeder einzelne Konflikt, jedes Dilemma bedarf der Analyse. Auch wenn es keine perfekten Lösungen gibt, muss man in der Praxis nach Wegen suchen, die den Normenkonflikt (bei Dilemmata) oder den Ziel- bzw. Interessenkonflikt (bei moralischen Konflikten) für den jeweiligen Fall in verantwortbare Kompromisse verwandeln. Bei moralischen Konflikten sucht man nach Ausweichmöglichkeiten, die der Norm gerecht werden, die anderen Interessen aber eher schonend behandeln. Bei moralischen Dilemmata muss man klären, welche der Normen in diesem konkreten Fall Priorität hat bzw. haben soll. Bei der Umsetzung wird man auf Wege und Methoden zurückgreifen, die hinsichtlich der verletzten Norm eine Schadensbegrenzung darstellen. (Großmaß 2013, S. 221 f.)
- Ethische Beurteilung des Falls/der Handlungssituation: Ein ethisches Urteil basiert auf der Einbeziehung aller für den Fall Geltung beanspruchenden ethischen und rechtlichen Normen. Diese werden auf den diskutierten Fall hin konkretisiert und die Bedeutung der sich daraus ergebenden Handlungsanforderungen wird in einem offenen Austausch gegeneinander abgewogen. Für ethische Konflikte und Dilemmata gilt es begründete Entscheidungen zu treffen – unter Berücksichtigung der Konsequenzen, die sich daraus für die weitere Arbeit ergeben.
- Integration der ethischen Dimension in die fachlichen Handlungsoptionen: Im letzten Schritt der ethischen Fallreflexion kehrt man zur fachlichen Perspektive zurück, sichtet die bestehenden professionellen Handlungsoptionen und folgt dem ethischen Urteil in der Entscheidung für eine gute Lösung.
7 Beiträge der Philosophie zur Ethik der Sozialen Arbeit
Für Diskussionen und Argumentationen der Professionsethik sind Rückgriffe auf die philosophische Tradition in dreifacher Hinsicht nützlich/​erforderlich.
- Für die Klärung normativ gehaltvoller Begriffe wie Gerechtigkeit, Verantwortung liefern Moralphilosophie und philosophische Ethik Definitionen und Erläuterungen.
- Zudem liegen im philosophischen Diskurs ausgearbeitete Konzeptionen vor, in denen Argumente entwickelt werden für den Geltungsanspruch ethischer Kategorien und Anforderungen.
- Einzelne methodische Konzepte aus der Philosophie lassen sich auch in der Professionsethik nutzen.
Zu allen drei Bereichen im Folgenden eine Übersicht.
7.1 Normativ gehaltvolle Begriffe
7.1.1 Gerechtigkeit
In politischen und medialen Debatten über soziale Probleme kommt der Begriff „Gerechtigkeit“ häufig vor. „Gerechtigkeit“ hat einen hohen normativen Gehalt und lässt sich schnell mit „sollen“ und „müssen“ verbinden. Der Begriff signalisiert, dass Ungerechtigkeiten angeprangert werden sollen. Für ethische Überlegungen lässt er sich nur nutzen, wenn die inhaltliche Bedeutung genauer geklärt ist. In der philosophischen Tradition spielt der Begriff eine prominente Rolle, Gerechtigkeit wird vielfältig diskutiert und ist mit unterschiedlichen Theorien verbunden (Mazouz 2002, S. 365 ff.) Für die Soziale Arbeit sind vor allem zwei spezifische Formen von Gerechtigkeit relevant: Verteilungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit.
7.1.2 Verteilungsgerechtigkeit
Verteilungsgerechtigkeit bezieht sich auf die Zuteilung von Anteilen eines (meist materiell gedachten) Gutes. Im Grundmodell von Verteilungsgerechtigkeit geht man davon aus, dass es gerecht ist, jeder:m denselben Anteil zukommen zu lassen. Abweichungen von diesem „Selben“ gelten als begründungspflichtig. (Mazouz 2002, S. 368). Etwas genauer kann man eine verteilungsgerechte Entscheidung fassen, indem man das Kriterium benennt, in Bezug auf das Personen gleich sein sollen. Die Anspruchsberechtigungen des Sozialrechts beruhen auf dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit: Allen hinsichtlich desselben Kriteriums Bedürftigen steht dieselbe Unterstützung zu.
7.1.3 Soziale Gerechtigkeit
Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ist nicht quantitativ, sondern qualitativ gefasst und antwortet auf faktisch gegebene Ungleichheiten hinsichtlich der Möglichkeit vitale und existenzielle Bedürfnisse zu befriedigen. Nicht nur in sozialpolitischen Diskussionen, auch in der Sozialen Arbeit spielen Fragen der sozialen Gerechtigkeit eine große Rolle (Ebert 2015, S. 461–468). Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es, hinsichtlich bestehender sozialer Ungerechtigkeiten ausgleichend tätig zu werden. Dies setzt eine sozialwissenschaftlich fundierte Analyse der sozialen Ungleichheiten voraus, auf die hin Interventionen der Sozialen Arbeit erfolgen (sollen). Ein interessantes Modell für die menschlichen Ausdrucks- und Betätigungsfelder, die mit Leben füllen zu können jede:r Anspruch hat, bietet der Capability Approach (Nussbaum 2011).
7.1.4 Verantwortung
„Verantwortung“ gehört zu den ethischen Kategorien, die auf ungleichen Möglichkeiten und Kompetenzen beruhen. Verantwortung übernimmt, wer in einer Handlungssituation über Entscheidungsmacht verfügt; und genau auf diesen Überschuss an Möglichkeiten bezieht sich die Verantwortungsübernahme. Für die getroffenen Entscheidungen muss man sich dann auch verantworten (können). Die logische Struktur von Verantwortung wird als vierstellige Relation beschrieben: Jemand (= das handelnde Subjekt) ist für etwas (Gegenstand) vor oder gegenüber jemandem (Instanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Normhintergrund) verantwortlich (Großmaß und Perko 2011, S. 127). Folgt man der Konzeption der drei Mandate, dann gibt es auch drei Instanzen, vor denen ein:e Sozialarbeiter:in eine Intervention verantworten können muss: das Auftrag gebende Gemeinwesen, der oder die Klient:in und die Profession.
7.1.5 Anerkennung/​Respekt
„Anerkennung“ ist seit den 1990er-Jahren nicht nur als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie in Gebrauch, sondern auch als Kategorie der Moralphilosophie/​Ethik. Grundlage vieler Debatten in der Sozialen Arbeit ist die von Axel Honneth ausgearbeitete Theorie der Anerkennung (Honneth 1994). Honneth unterscheidet drei Formen intersubjektiver Anerkennung: Liebe, Respekt und soziale Wertschätzung. Jede dieser Formen bezieht sich auf eine andere soziale Sphäre – Liebe ist die Anerkennung in privaten Beziehungen (z.B. als Kind, Familienmitglied oder Freund:in), Respekt ist die Anerkennung in der politischen Sphäre (z.B. als Staatsbürger:in oder Mitglied einer Hochschule), soziale Wertschätzung ist die Anerkennung, die ein Sozialverband bietet (bezogen auf den Beitrag, den der oder die Einzelne leistet und hinsichtlich der Solidarität, die man sich im gesellschaftlichen Zusammenleben schuldet). Im Kontext der Sozialen Arbeit ist es hilfreich, die drei Formen nicht zu vermischen. Denn die helfende Beziehung ist keine Primärbeziehung, es geht nicht um Liebe; respektvollen Umgang dagegen kann jede:r erwarten (als Staatsbürger/Träger von Menschenrechten); soziale Wertschätzung bezieht sich in der Sozialen Arbeit vor allem auf den Beitrag der Einzelnen zur helfenden Praxis.
7.1.6 Rechte und Pflichten
Seit die Bezugnahme auf Menschenrechte auch als normative Grundlage der Sozialen Arbeit wichtig geworden ist, wird manchmal sehr unspezifisch von „Rechten“ gesprochen. Zwischen gesetzlich festgelegten Rechten und Rechten im Sinne moralischer Ansprüche zu unterscheiden, ist jedoch für die berufliche Praxis von Bedeutung – Verpflichtungsgrad und Deutungsspielräume sind jeweils unterschiedlich (Brieskorn 2002, S. 480 f.). Rechte im juristischen Sinne gelten für jede:n, der oder die der definierten Bezugsgruppe angehört; die Pflicht der Gewährleistung liegt jeweils bei den zuständigen staatlichen Institutionen – im Sozialrecht sind dies (im deutschen Wohlfahrtssystem) die kommunalen Verwaltungen/Ämter; hinsichtlich der Grundrechte alle staatlichen Einrichtungen; bezogen auf die Menschenrechte die jeweiligen Nationalstaaten. Rechte im moralischen Sinne basieren auf wechselseitigen Verpflichtungen in einer Gemeinschaft oder Vereinigung. Sie sind weniger präzise definiert als legale Rechte, benötigen deshalb im konkreten Handeln eine möglichst präzise Auslegung. Die Vorstellungen davon, wer welche moralischen Rechte hat, können unterschiedlich und kontrovers sein. Für die ethischen Pflichten der Sozialarbeiter:innen ist die Profession die relevante Gemeinschaft/​Vereinigung.
7.1.7 Solidarität
„Solidarität“ als ethisch-moralische Kategorie ist kein unproblematischer Begriff. Er wird häufig in (sozial-)politischen Debatten als forderndes Schlagwort verwendet, zugleich aber selten genauer definiert. Angesprochen wird ein Verpflichtungsverhältnis, das Gleichheit (alle jeweils Angesprochenen werden zu Solidarität aufgerufen) und Ungleichheit (aktive Solidarität gilt jeweils den Schwächeren/Bedürftigen) zusammenzudenken versucht. Obwohl es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche Versuche gegeben hat, Solidarität als universell (= auf die Menschheit bezogen) zu begründen (Röttgers 2011, S. 40 ff.), wird der Begriff doch meist partikular verwendet (= nationale Solidarität, Solidarität mit der sozialen Klasse, Solidarität mit dem Geschlecht …).
7.1.8 Caring/​Sorgen
Der Begriff der Fürsorge ist so eng mit der Sozialen Arbeit verbunden, dass er lange Zeit als Bezeichnung für die berufliche Tätigkeit selbst verwendet wurde. Heute wird er weiter gefasst und mit der historisch weniger belasteten englischen Bezeichnung „care“ zusammengefügt. Für die Ethik hat der englische Begriff zudem den Vorteil einer klaren logischen Struktur, die sich einem paternalistischen Verständnis von „Fürsorge“ widersetzt. Die ethische Reflexion des fürsorglichen Handelns muss dem Spannungsverhältnis von Abhängigkeit und Eigenständigkeit gerecht werden, das jede helfende Beziehung prägt. Dabei hilft das Bedeutungsspektrum von „care“: „to care about“ bedeutet zunächst einmal nur, dass etwas Bedeutung in der eigenen Wahrnehmung erhält. „taking care of“ markiert den Übergang zur fürsorglichen Praxis; „to give care“ bezeichnet die helfende Handlung selbst; und „to receive care“ thematisiert die partizipative Einbeziehung derjenigen, für die man sorgt. Jede einzelne Etappe eines so strukturierten Hilfe-Prozesse ist mit ethischen Anforderungen verbunden (Tronto 2013, S. 22).
In der aktuellen Diskussion steht meist der Begriff „Care-Arbeit“ im Mittelpunkt. Dabei dominiert der Blick der Professionen auf das berufliche Handeln, von dem ausgehend sich ökonomische Fragen gut klären lassen. Für die Ethik der Sozialen Arbeit ist es jedoch wichtig, die lebensweltlichen Praktiken des Sorgens nicht aus dem Blick zu verlieren und die Beziehungen, in denen Caring stattfindet, nicht auf ihre ökonomische Seite zu reduzieren.
7.1.9 Moralische Gefühle
In ethischen Diskussionen wird es häufig emotional. Aufkommende Gefühle sind Hinweise darauf, dass Moral eine Rolle spielt, manchmal in kontroverser Weise. Einige Gefühle sind enger mit Moral verknüpft als andere. Sie werden in der Philosophie als „moralische Gefühle“ diskutiert. Dies gilt für Scham und Schuldgefühl, für Zorn und Empörung sowie für Mitgefühl (Landweer 2002, S. 360). Moralische Gefühle signalisieren, dass in der Situation, in der sie auftauchen, die ethische Seite der professionellen Kompetenz besonders gefragt ist. Drei Typen moralischer Gefühle können unterschieden werden. Schuldgefühle und Scham (Typ 1) signalisieren das eigene Verstricktsein in ethisch-moralische Konflikte. Mitgefühl oder Mitleid (Typ 2) zeigen an, von welchen Bedürfnissen und Lebenssituationen der Anderen wir uns emotional berühren lassen. Gefühle wie Empörung oder Zorn (Typ 3) signalisieren ein Gespür für Ungerechtigkeit.
Ob und in welcher Weise die durch Gefühle angezeigte Moral für den jeweiligen Fall Geltung beanspruchen kann, lässt sich aus dem Gefühl nicht ableiten. Dies erfordert Wissen, Reflexion und Austausch (Großmaß 2013, S. 217 f.).
7.1.10 Moralische Intuitionen
Moralische Intuitionen sind spontan sich einstellende Ideen dazu, was in einer gegebenen Situation gut/richtig wäre zu tun, was schlecht/​falsch ist bzw. wo man durch Unterlassung schuldig wird. Sie beruhen auf Erfahrungen, in die normative Bewertungen eingegangen sind. Ob und inwieweit sie Geltung haben können, bedarf in der Philosophie der eigenständigen Analyse und der Entwicklung argumentierender Begründungen. Die Skepsis gegenüber dem, was einem spontan als moralisch richtig bzw. gut einfällt, ist durchaus berechtigt, ist doch das intuitive Situationsverstehen (wie das moralische Gefühl) als sozialisationsbedingtes an die je eigene Lebenswelt gebunden. Kultureller Differenz gegenüber sind moralische Intuitionen daher oft taub und hinsichtlich der eigenen Eingebundenheit in Machtstrukturen bleiben sie in der Regel blind. Dennoch ist es klug, den eigenen Intuitionen Aufmerksamkeit zu schenken: Sie sind meist etwas langsamer als Gefühle, aber deutlich schneller als Nachdenken und Analysieren und sie geben (anders als Gefühle) eine Richtung dafür an, wo das moralische Problem zu suchen ist, um welchen moralischen Konflikt es sich handeln könnte und wo das moralisch Gute anzusiedeln ist (Großmaß 2013, S. 219).
7.1.11 Ethische Urteile
Innerhalb der philosophischen Ethik spielen moralische Urteile eine zentrale Rolle. Ethische Urteile begründen den Geltungsanspruch von Regeln und Normen bezogen auf das jeweils diskutierte Thema. In der Sozialen Arbeit greift man dafür auf gesetzliche Regelungen und Professionsstandards zurück sowie auf philosophische Theorien. Handlungsrelevant werden ethische Urteile nur dann, wenn sie angemessen auf konkrete Situationen bezogen sind. Dies erfordert eine eigene Kompetenz des Urteilens, die in Studium, Praxisreflexion und Supervision eingeübt wird. Denn was im Einzelfall richtig/gut ist zu tun, lässt sich nicht direkt aus dem „Guten“ ableiten. Aristoteles nannte diese Kompetenz Klugheit (Aristoteles 2008, S. 199 f.); Hannah Arendt hebt demgegenüber hervor, dass es des bewussten Einsatzes des Vorstellungsvermögens bedarf, um eine Situation, an der andere beteiligt sind, angemessen in den Blick zu bekommen (Arendt 2006, S. 140 ff.).
7.2 Interessante Theorien
7.2.1 Pflichtenmoral
Die philosophische Theorie, auf die am häufigsten zurückgegriffen wird, wenn man über moralische Pflichten und ethische Prinzipien diskutiert, ist die von Immanuel Kant (1724–1804). Kant bindet moralische Entscheidungen an die praktische Vernunft, die mithilfe des kategorischen Imperativs vernünftige Willensentscheidungen treffen kann. Den so gefundenen Grundsätzen (Maximen) gilt es zu folgen.
7.2.2 Tugendethik
Weniger an Prinzipien, denn an den Haltungen der Akteure orientiert sind Tugendethiken. Tugenden stellen so etwas wie Charaktereigenschaften dar, die am „Guten“ ausgerichtet sind und durch Nachdenken und (Selbst-)Erziehung kultiviert werden. Wichtige Autoren sind Aristoteles (384–322 v.Chr.) und Ernst Tugendhat (1930–2023).
In professionsethischen Debatten sind tugendethische Konzepte immer dann hilfreich, wenn man über gelingende Klientelbeziehung nachdenkt. Auch das Ziel, ethische Urteils- und Entscheidungsfindung in Form eines Ethos zum Teil der professionellen Handlungskompetenz zu entwickeln, basiert auf tugendethischen Konzepten.
7.2.3 Utilitaristische Konzepte/​Konsequentialismus
Anders als die beiden deontologische Konzepte (Pflichten- und Tugendethik), die das Gute/das moralisch Geforderte zu bestimmen versuchen, versuchen utilitaristische Konzepte die zu erwartenden Folgen einer Handlung (die unbeabsichtigten eingeschlossen) abzuschätzen und davon ausgehend zu bestimmen, was zu tun zulässig ist. Klassische utilitaristische Ethiken (Jeremy Bentham 1748–1832; John Stuart Mill 1806–1873) nutzen dafür das Kriterium des höchsten Nutzens für die größte Anzahl von Personen. Aktuelle konsequentialistische Theorien nutzen häufig spezifischere Kriterien – so z.B. das Vermeiden von Leid (Peter Singer *1946) oder die Verantwortbarkeit von Handlungen hinsichtlich der Zukunft (Hans Jonas 1903–1993).
Da die Soziale Arbeit qualitative Ziele für ihre Praxis benötigt, werden utilitaristische Überlegungen meist erst im zweiten Schritt relevant – wenn etwa unbeabsichtigte Folgen für Dritte zu bedenken sind oder wenn Kompromisse zwischen unterschiedlichen Anforderungen erforderlich werden.
7.2.4 Kommunitaristische Konzepte
Während viele Konzepte der Ethik vom Individuum bzw. von dessen Interessen ausgehen, kritisieren kommunitaristische Theorien (eine angelsächsische Richtung der politischen Philosophie) den westlichen Liberalismus und nehmen die Gemeinschaft zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Die Einzelnen sind von dem Gemeinwesen, seinen Traditionen und Werten abhängig, weshalb die Sozialverträglichkeit des individuellen Handelns zum wichtigen Kriterium wird. Zentrale Begriffe wie Gerechtigkeit werden mit Blick auf das gemeinsame Gut und die geteilten Werte entwickelt. Wichtige Vertreter dieser Richtung sind Alasdair Macintyre (*1929), Michael Walzer (*1935), Charles Taylor (*1931), Michael Sandel (*1953).
Wohlfahrtsstaatliche Überlegungen und zivilgesellschaftliches Engagement können von kommunitaristischen Konzepten profitieren – kritisiert dagegen wird oft, dass der Rekurs auf gegebene Werte die Strukturen von Gemeinschaften (Familie, Sippe, Dorf, religiöse Gemeinschaften) meist mit tradiert. Diese beruhen auf Ungleichheiten (z.B. zwischen den Geschlechtern) und Hierarchien (z.B. zwischen den Generationen).
7.2.5 Care-Ethik
Care-ethische Konzepte können der Sozialen Arbeit wichtige Reflexionsanstöße geben (Großmaß 2006, S. 325–330). Erste Entwürfe für eine Care-Ethik stammen aus der feministischen Diskussion der 1980er-Jahre, in der man der Frage nachging, ob und in welchem Maße die Bereitschaft beziehungsorientiert zu handeln, geschlechtsgebunden ist. Inzwischen sind Care-Ethiken weniger genderfokussiert. Sie nehmen die helfende Beziehung zum Ausgangspunkt und untersuchen die darin liegenden ethischen Herausforderungen. Joan Tronto (1993; 2013) hat ein Modell der Care-Ethik entwickelt, an das sich für die Reflexion praktischer Hilfeleistungen gut anschließen lässt (Großmaß 2006, S. 331–336)
7.2.6 Theorien der Anerkennung
Neben der von Axel Honneth entwickelten Theorie der Anerkennung (s.o.), ist im Kontext der Sozialen Arbeit vor allem die Position von Nancy Fraser (*1947) rezipiert worden. Fraser setzt der Forderung von Anerkennung die Forderung der Umverteilung (von materiellen Gütern) entgegen bzw. sieht beide Forderungen als sich (auf einer kapitalismuskritischen Grundlage) ergänzend.
7.2.7 Philosophie der Gefühle
Die psychologische Sicht auf Gefühle/Emotionen ist im fachwissenschaftlichen Diskurs der Sozialen Arbeit fest etabliert. Sie fokussiert die Entstehung von Emotionen und deren Einfluss auf das menschliche Verhalten. Was dabei weniger in Blick kommt, ist das Erleben von Gefühlen im individuellen Bewusstsein. Für ethische Reflexionen des eigenen Verhaltens aber ist es hilfreich, beteiligte Gefühle auch inhaltlich wahrnehmen und beschreiben zu können. (Demmerling und Landweer 2007)
7.3 Philosophische Methoden in der Professionsethik
7.3.1 Deliberation
Mit Deliberation bezeichnet man (in der politischen Theorie wie in der Philosophie) ein Verfahren der Entscheidungsfindung. Grundlage ist der sorgfältige, kommunikative Austausch von Ideen, pragmatischen Handlungsvorschlägen, Einwänden und Abwägungen – mit dem Ziel zu Problemlösungen zu kommen, die möglichst viele Aspekte berücksichtigen und für die an der Kommunikation Beteiligten tragfähig sind.
7.3.2 Dialogik
Das philosophische Verfahren der Dialogik wird in der Regel mit der Philosophie Martin Bubers (1878–1965) verknüpft. Gemeint ist ein Konzept, das die Kommunikation – auch über ethische Fragen – in eine Ich-Du-Beziehung einbettet. Die Begegnung mit dem oder der Anderen in seiner bzw. ihrer Andersheit wird zum Kriterium eines gelingenden Gesprächs (Großmaß und Perko 2011, S. 102–109).
7.3.3 Diskursethische Kommunikation
Auch die diskursethische Kommunikation (Habermas 2015) setzt auf Dialog, nicht aber mit dem Fokus Beziehung/​Begegnung, sondern als Form argumentierender Kommunikation. Ethisch-moralische Konflikte sollen durch Verständigung der am Konflikt Beteiligten beigelegt werden. Ausgangspunkt der Klärungsprozesse sind die im kommunikativen Handeln faktisch anerkannten Grundlagen von Kommunikation und Argumentation (Habermas 2015). An dieses Verfahren könnten sich z.B. ein Team anlehnen, wenn unterschiedliche Normvorstellungen/​Moral(en) die Arbeit am Fall blockieren.
8 Quellenangaben
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Verfasst von
Prof. Dr. Ruth Großmaß
Alice Salomon Hochschule, Professur für Ethik und Sozialphilosophie
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Großmaß, Ruth,
2023.
Ethik der Sozialen Arbeit [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 09.11.2023 [Zugriff am: 12.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/433
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