Europäische Sozialcharta
Prof. Dr. Sibylle Treude
veröffentlicht am 21.11.2024
Die Europäische Sozialcharta ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarates und zielt auf den Schutz wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, darunter das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Die 1999 in Kraft getretene revidierte Europäische Sozialcharta wurde von 37 der 46 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert und ist für diese Staaten rechtlich bindend, auch wenn die faktische Wirkung nicht immer gegeben ist.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Grundlagen und Bedeutung sozialer Rechte
- 3 Entstehung
- 4 Inhalte
- 5 Organisation
- 6 Verhältnis zu EU-Recht
- 7 Kritik an der Europäischen Sozialcharta
- 8 Quellenangaben
- 9 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Die Europäische Sozialcharta ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarates. Die Arbeit des 1949 gegründeten Europarates ist darauf ausgerichtet, in den Mitgliedstaaten einen gemeinsamen demokratisch-rechtlichen Raum zu schaffen. Die Europäische Sozialcharta zielt auf den Schutz wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, darunter das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Damit ergänzt sie gleichsam komplementär die Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutz bürgerlicher und politischer Rechte.
Die Charta wurde 1961 unterzeichnet und trat 1965 in Kraft, mit einer revidierten Version aus dem Jahr 1996. Die 1999 in Kraft getretene revidierte Europäische Sozialcharta wurde von 37 der 46 Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert. Dänemark, Kroatien, Luxemburg, Monaco, Polen und San Marino haben diese nicht ratifiziert und Liechtenstein und die Schweiz nicht unterzeichnet (Stand August 2024) (Council of Europe 2024a). Russland ist kein Mitglied des Europarats mehr, nachdem ihm am 16. März 2022 die Mitgliedschaft entzogen wurde. Für die Staaten, die die Charta ratifiziert haben, ist sie mit daraus entstehenden rechtlichen Verpflichtungen bindend. Die faktische Wirkung solcher Verträge ist aber nicht immer gegeben. Wirkung, so die staatsrechtliche Betrachtung, entfalten sie erst, wenn die Europäische Sozialcharta durch nationale Gesetze umgesetzt wurde.
Die Überwachung der Einhaltung dieser Rechte erfolgt durch den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (ECSR) als dem zuständigen Ausschuss des Europarates. Das Verhältnis zwischen der Europäischen Sozialcharta und dem EU-Recht ist komplex, wobei die Charta als eine wichtige Referenz für soziale Standards in den Unterzeichnerstaaten dient. Sie ist von Bedeutung für den Diskurs und die Gestaltungsdimensionen verschiedener Politikbereiche und Disziplinen, von der Sozialpolitik bis hin zur Gesundheitswissenschaft. Aktuelle Diskussionen befassen sich mit der Anpassung der Charta an neue Herausforderungen wie die Digitalisierung der Arbeitswelt und die Alterung der Gesellschaft (Council of Europe 2024c).
2 Grundlagen und Bedeutung sozialer Rechte
Die Europäische Sozialcharta ist ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates, das die sozialen Grundrechte für die Bürger/-innen der Unterzeichnerstaaten festschreibt. Sie verpflichten sich dazu, soziale Rechte als integralen Bestandteil der Menschenrechte zu betrachten und zu fördern. In der Charta werden Arbeits- und Sozialstandards festgelegt, um soziale Gerechtigkeit zu fördern und Arbeitnehmerrechte zu stärken. Dies umfasst auch den Schutz sogenannter vulnerabler Gruppen wie Kinder und Jugendliche, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen und den Schutz vor Diskriminierung „insbesondere nach der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Gesundheit, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, der Geburt oder dem sonstigen Status“ (SEV Nr. 163, 1961, S. 17).
Die Standards beziehen unter anderem den Zugang zu Arbeit, angemessene Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, Gesundheitsversorgung und Bildung ein. Idealerweise fungiert die Europäische Sozialcharta als Rahmenwerk für die Ausgestaltung nationaler Sozialpolitik in den europäischen Staaten und trägt zur Harmonisierung der sozialen Standards in Europa bei (Europarat 2002, S. 3 ff.). Die Europäische Sozialcharta ist von der „Gemeinschaftscharta für die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer der EU“ zu unterscheiden (Kommission 1990, S. 7). Die von einigen EU-Mitgliedstaaten 1990 unterzeichnete Gemeinschaftscharta orientiert sich u.a. an der Europäischen Sozialcharta und hat zum Ziel, „ein tragender Pfeiler der sozialen Dimension“ der EU und insbesondere des Binnenmarktes zu sein (Kommission 1990, S. 3).
3 Entstehung
Die Europäische Sozialcharta entstand nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil der Bemühungen des 1949 gegründeten Europarates, ein umfassendes System zum Schutz der Menschenrechte in Europa zu etablieren. Die Ziele des Europarates, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu fördern, sollten durch wirtschaftliche und soziale Rechte ergänzt werden. Die Europäische Sozialcharta wurde am 18. Oktober 1961 (SEV Nr. 35, 1961) unterzeichnet und trat am 26. Februar 1965 in Kraft. Sie stellt eine Ergänzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Europarat 1950) dar. Die Mitgliedstaaten des Europarates, die die Europäische Sozialcharta ratifiziert haben, verpflichten sich auf soziale Standards und Grundrechte für ihre Bevölkerungen. Das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden (SEV Nr. 158, 1995) führte die Möglichkeit ein, dass Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen sowie internationale nicht staatliche Organisationen (NGO) Beschwerden vorbringen können, in denen eine nicht zufriedenstellende Anwendung der Charta geltend gemacht wird.
Die 1996 vom Europarat verabschiedete Revidierte Europäische Sozialcharta (SEV, Nr. 163, 1996) fasst die Rechte der Charta von 1961 und das Zusatzprotokoll von 1988 (SEV Nr. 128, 1988) zusammen und erweitert den Schutz um soziale und wirtschaftliche Grundrechte sowie um ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Ziel war es, die grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bürger/-innen noch besser zu gewährleisten und dabei aktuellen Entwicklungen in europäischen Gesellschaften Rechnung zu tragen (Europarat 2024). Die Bundesrepublik Deutschland zeichnete die revidierte Europäische Sozialcharta (BGBl 2021 II, S. 1060) zwar bereits 2007. Die Ratifikation erfolgte jedoch erst 2021 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2021).
4 Inhalte
Die revidierte Europäische Sozialcharta legt soziale Rechte fest, die damit in den Mitgliedstaaten des Europarates garantiert werden sollen. Sie umfasst insgesamt 31 Artikel mit grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Rechten und Grundsätzen. Teil I der Charta enthält Ziele, die die Vertragsparteien „mit allen geeigneten Mitteln verfolgen“ werden (SEV Nr. 163, 1996, S. 16).
Die Unterzeichnerstaaten müssen gemäß Teil III der Charta mindestens 16 Artikel oder 63 Nummern der Charta anerkennen bzw. als für sich bindend ansehen, darunter mindestens sechs der neun folgenden, als besonders wichtig angesehenen Rechte:
- Recht auf Arbeit (Artikel 1)
- Vereinigungsrecht (Artikel 5)
- Recht auf Kollektivverhandlungen (Artikel 6)
- Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz (Artikel 7)
- Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 12)
- Recht auf soziale Fürsorge (Artikel 13)
- Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz (Artikel 16)
- Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Artikel 19)
- Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (Artikel 20)
Im Folgenden werden einige Beispiele der in Teil II der Europäischen Sozialcharta genannten sozialen und wirtschaftlichen Rechte genannt:
- Recht auf Arbeit (Artikel 1): Verwirklichung der Vollbeschäftigung, Schutz des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, seinen oder ihren Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, unentgeltliche Arbeitsvermittlungsdienst, geeignete Berufsberatung, Berufsausbildung und berufliche Wiedereingliederung
- Recht auf geeignete Möglichkeiten der beruflichen Bildung (Artikel 10): Die Charta sieht den chancengleichen Zugang zu Bildung für alle Bevölkerungsgruppen als individuelles Recht und als Mittel zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe vor. Dies umfasst eine kostenlose Grundbildung und gleiche Bildungschancen für alle Kinder.
- Recht auf Schutz und Gesundheit (Artikel 11): Beseitigung von Ursachen von Gesundheitsschäden, Schaffung von Beratungs- und Schulungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Gesundheit und zur Entwicklung des persönlichen Verantwortungsbewusstseins in Gesundheitsfragen, Vorbeugung von epidemischen, endemischen und anderen Krankheiten sowie Unfällen.
- Recht auf soziale Sicherheit (Artikel 12): System der sozialen Sicherheit mit dem Ziel, dies auf einen höheren Stand zu bringen, Abkommen zur Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsparteien mit ihren eigenen Staatsangehörigen in Bezug auf Ansprüche aus der Sozialen Sicherheit.
- Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz (Artikel 16): Die Charta bietet umfassenden Schutz für besonders schutzbedürftige Gruppen, einschließlich des Rechtes auf Mutterschutz und den Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung.
5 Organisation
Die Umsetzung und Überwachung der Einhaltung der Europäischen Sozialcharta erfolgt durch den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (ECSR) des Europarates, der aus unabhängigen Experten und Expertinnen besteht. Ein Monitoring-Mechanismus verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, dem Ausschuss jährlich einen Bericht über die Umsetzung der in der Sozialcharta festgelegten Maßnahmen zur Prüfung vorzulegen. Zudem können Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen sowie andere internationale nichtstaatliche Organisationen (NGO), „die beratenden Status beim Europarat haben und vom Regierungsausschuß in eine zu diesem Zweck angelegte Liste eingetragen sind“ Kollektivbeschwerden einbringen (Artikel 1, SEV Nr. 158, 1995), wenn sie die mitgliedstaatlichen Verpflichtungen als nicht erfüllt betrachten.
Die Arbeit des Sachverständigenausschusses mündet über die Parlamentarische Versammlung, den Unterausschuss des Regierungssozialausschusses und das Ministerkomitee in Entscheidungen, ob und inwieweit die Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen aus der Charta erfüllt haben. Bei Feststellung mangelnder Compliance kann das Ministerkomitee des Europarates einen Staat mit einer Resolution dazu auffordern, nationales Recht und seine Anwendung an die Regelungen in der Sozialcharta anzupassen (Europarat 2002, S. 5).
6 Verhältnis zu EU-Recht
Das Verhältnis zwischen der Europäischen Sozialcharta und dem EU-Recht ist vielschichtig. Die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Säule sozialer Rechte konnten auf die Europäische Sozialcharta aufbauen. Das EU-Recht nimmt an einigen Stellen wie in der Präambel zum EU-Vertrag und zur Europäischen Grundrechtecharta sowie in Art. 151 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) zur Sozialpolitik der EU direkt Bezug auf die Europäische Sozialcharta (ABl. EU, C 326/47, 26.10.2012). Die EU muss in der Sozialpolitik die in der Europäischen Sozialcharta garantierten sozialen Grundrechte berücksichtigen.
Das Primarrecht der EU deckt in Artikel 6 EUV (Vertrag über die Europäische Union) (ABl EU, C 326/13, 26.10.2012) sowie in Artikel 18 AEUV (ABl. EU, C 326/47, 26.10.2012) einen Teil der Schutzrechte der Europäischen Sozialcharta ab. Die Charta der Grundrechte der EU, die 2009 in Kraft trat, enthält ebenfalls viele soziale Rechte, die Gegenstand der Europäischen Sozialcharta sind (ABl. EU, C 326/391, 26.10.2012). Zudem schafft die EU auf dem Gebiet der sozialen Rechte sekundärrechtliche Regelungen in Form von Richtlinien und Verordnungen. Es geht dabei unter anderem um Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, soziale Inklusion und Maßnahmen gegen Armut sowie Nichtdiskriminierung.
Allerdings sind nicht alle EU-Mitgliedstaaten Vertragsparteien der revidierten Sozialcharta, und die EU selbst ist kein Vertragsstaat. Neun EU-Staaten haben sich an die Sozialcharta von 1961 gebunden, fünf davon zudem an das Zusatzprotokoll von 1988. 21 EU-Staaten haben die revidierte Sozialcharta ratifiziert. Lediglich Frankreich und Portugal akzeptierten alle Artikel des revidierten Abkommens, während alle anderen nur einen Teil der Regelungen der jeweiligen Version der Charta und nur 14 EU-Staaten das Protokoll zur Einführung der Kollektivbeschwerdeverfahren akzeptiert haben (Council of Europe 2024b, 2024a).
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bezieht die Sozialcharta in seinen Urteilen gelegentlich mit ein, insbesondere bei der Interpretation sozialer Grundrechte in der EU. Bei der Durchsetzung gibt es grundlegende Unterschiede zwischen Gemeinschaftsrecht und dem Vertrag der Europäischen Sozialcharta: Während das EU-Recht direkt anwendbar ist, unterliegt die Europäische Sozialcharta einem System der regelmäßigen Überprüfung und der Behandlung kollektiver Beschwerden. Dies bedeutet eine indirektere, aber dennoch relevante Durchsetzung der in der Charta nieder gelegten Schutzrechte.
7 Kritik an der Europäischen Sozialcharta
Die Umsetzung der Europäischen Sozialcharta steht vor mehreren Herausforderungen, insbesondere:
- Die Europäische Sozialcharta muss im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention nicht von einem Staat ratifiziert werden, um Mitglied des Europarates zu werden. Insofern führe die Europäische Sozialcharta „ein gewisses Schattendasein“ (Gerbig 2022).
- Viele Schutzrechte bzw. die zu ergreifenden Maßnahmen sind relativ allgemein formuliert, sodass eine Messbarkeit der Zielerreichung schwierig ist. Der Formulierungsduktus, „alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen“, etwa eröffnet zum Teil einen Interpretationsspielraum, Schutzrechte als unverbindliche Empfehlungen auszulegen (SEV Nr. 163,1996, passim).
- Die Möglichkeit der Staaten, bei der Bindung an die Europäische Sozialcharta nur eine Mindestanzahl an Rechten bzw. Ziffern auszuwählen, wird kritisch als À-la-Carte-System gesehen. Schutzrechte, die zu ungewollten oder schwer durchsetzbaren nationalen Gesetzesänderungen führen würden, können somit ausgeklammert werden. Daraus erwächst die Forderung, dass die EU ihre Mitgliedstaaten auffordern solle, alle Rechte der revidierten Sozialcharta mit direktem Bezug zu EU-Recht und -Kompetenzen anzuerkennen.
- Verschiedene nationale Interpretationen: Die Mitgliedstaaten interpretieren und wenden die Bestimmungen der Charta unterschiedlich an, was zu einer uneinheitlichen Umsetzung führt. Dies kann die Effektivität der Charta beeinträchtigen und die Angleichung sozialer Standards erschweren.
- Politische und wirtschaftliche Widerstände: In einigen Ländern gibt es politischen und wirtschaftlichen Widerstand gegen die vollständige Umsetzung der Charta. In der Schweiz beispielsweise hat die Auseinandersetzung über die Vereinbarkeit der Sozialcharta mit der innerstaatlichen Rechtsordnung zu einer jahrzehntelangen Verzögerung der Ratifikation der Charta geführt. Die revidierte Europäische Sozialcharta hat die Schweiz bisher nicht unterzeichnet (Stand August 2024).
- Mangel an Ressourcen und Kapazitäten: Einige Staaten stellen unzureichende Ressourcen und Kapazitäten zur effektiven Umsetzung der Charta zur Verfügung. Dies kann auf Budgetkürzungen, wirtschaftliche Krisen oder politische Prioritäten zurückzuführen sein, die den sozialen Bereich weniger berücksichtigen. Dies betrifft sowohl finanzielle als auch administrative Ressourcen, die notwendig sind, um die in der Charta festgelegten Standards zu erfüllen.
- Die Europäische Sozialcharta gibt einerseits den einzelnen Staatsbürger/-innen keinen Rechtsanspruch, um bei Verletzungen der in der Europäischen Sozialcharta genannten Rechte einen Anspruch vor einem nationalen oder internationalen Gericht einzuklagen oder Beschwerde einzulegen. Gerade die Niedrigschwelligkeit der Voraussetzungen einer Kollektivbeschwerde ermögliche hingegen andererseits, die „Lebenslage von marginalisierten und diskriminierten Gruppen menschenrechtlich zu adressieren“ (Gerbig 2022, S. 12).
- Kollektive Beschwerden und Durchsetzung: Die Verfahren für kollektive Beschwerden können langwierig und komplex sein, was die Durchsetzung der Charta beeinträchtigt. Trotz der Möglichkeit, Beschwerden einzureichen, kann es an effektiven Mechanismen fehlen, um schnelle und gerechte Lösungen zu erreichen.
- Das Überwachungsverfahren der Einhaltung der staatlichen Verpflichtungen auf der Grundlage der Charta, das vier Kontrollinstanzen umfasst, ist kritisch zu betrachten. Die Berichte der Staaten können unvollständig und nicht wahrheitsgemäß sein. Die Zeitdauer von der Berichtsabgabe bis zur Stellungnahme durch das Ministerkomitee dauert häufig mehrere Jahre. Zudem kann es zu einer Vermischung von Interessen kommen: Der in der Kette der Kontrollinstanzen tätige Unterausschuss des Regierungssozialausschusses und das Ministerkomitee als politische Gremien haben nationalstaatliche Kontakte. Bei der Entscheidungsfindung, ob ein Staat seinen Verpflichtungen aus der Charta nachgekommen ist, kann es zu einer Vermischung von Kontrollverantwortlichkeiten und nationalen Interessen kommen (Steiert 1979).
- Unterschiedliche Wohlfahrtsarrangements: Insbesondere im Bereich der Sozialpolitik ist darauf zu verweisen, dass die jeweiligen unterschiedlichen Wohlfahrtsarrangements eine entsprechende Pfadabhängigkeit aufweisen, die eine Harmonisierung oder Konvergenz einer europäischen Sozialpolitik auf lange Sicht erschweren oder gar verhindern.
- Politische-ideologische Hindernisse: Auch wenn die Europäische Sozialcharta ein wesentlicher Meilenstein für die Orientierung in Bezug auf soziale Rechte markiert, darf nicht übersehen werden, dass sich einzelne Nationalstaaten aus politisch-ideologischen Gründen schwertun, die proklamierten Ziele und Rechte auf nationaler Ebene umzusetzen. Wenn Staaten ihren Verpflichtungen der Sozialcharta selbst nach erfolgter Resolution durch das Ministerkomitee nicht nachkommen, kann dies folgenlos bleiben. Der Wirkungshebel der Charta besteht eher auf der Ebene sozialen Drucks durch die übrigen Unterzeichnerstaaten.
Die Europäische Sozialcharta ist ein bedeutsames Referenzdokument für die Gestaltung und Umsetzung sozialer Politiken in den Mitgliedstaaten. Sie bietet einen Rahmen für die Ausarbeitung von nationalen Sozialprogrammen und -strategien. Die Charta kann als Benchmark für die Messung sozialer Fortschritte dienen. Jedoch sind die darin enthaltenen Schutzrechte relativ allgemein formuliert und müssen stärker operationalisiert werden, wenn sie als Maß für konkrete Handlungsergebnisse dienen sollen.
Insgesamt ist die unmittelbare rechtliche Wirkung der Europäischen Sozialcharta zwar begrenzt. Die inhaltlichen Überlappungen und Interdependenzen bedingen jedoch, dass sie ein wesentliches Referenzwerk bei Auslegungen des EU- und Völkerrechts sind. Becker kommt zu dem Schluss, dass sie „einen wichtigen Beitrag“ leiste, „um in Europa soziale Standards zu setzen“ (Becker 2022).
Zusammenfassend sollte die Charta nicht nur als rechtliches Instrument, sondern auch als ethischer Leitfaden für die soziale Verantwortung der Staaten betrachtet werden. Sie bietet eine Grundlage für die Förderung und Umsetzung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Rechte in Europa. Bevor die Europäische Sozialcharta jedoch zur Konstitution der sozialen Rechte Europas wird, ist es gegebenenfalls notwendig, dass die EU selbst Mitglied des Europarates wird.
8 Quellenangaben
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Steiert, Robert, 1979. Die Europäische Sozialcharta. Inhalt, Mängel und Möglichkeiten der Weiterentwicklung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte [online]. 20(3) [Zugriff am: 24.08.2024]. ISSN 0479-611X. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/​531099/​die-europaeische-sozialcharta-inhalt-maengel-und-moeglichkeiten-der-weiterentwicklung/
9 Literaturhinweise
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The Academic Network on the European Social Charter and Social Rights, Stefano Angeleri und Carole Nivard, Hrsg., 2022. The European Social Charter: A Commentary. Volume 1: Cross-Cutting Themes. Leiden: Brill Nijhoff. ISBN 978-90-04-43403-5
Verfasst von
Prof. Dr. Sibylle Treude
Hochschule Koblenz. University of Applied Sciences
Fachbereich Wirtschaftswissenschaften
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Zitiervorschlag
Treude, Sibylle,
2024.
Europäische Sozialcharta [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 21.11.2024 [Zugriff am: 13.12.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/3827
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Europaeische-Sozialcharta
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