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Fall

Prof. Dr. Torsten Linke

veröffentlicht am 19.01.2022

Englisch: case

In der Praxis Sozialer Arbeit kann ein Fall als ein abgegrenzter Sachverhalt definiert werden, der eine spezifische Situation beschreibt. Fälle können in unterschiedliche Sozialformen eingebettet sein, wodurch ihre Bearbeitung, je nach Sozialform, auf die drei klassischen Methoden Sozialer Arbeit – auf eine Person oder Primärgruppe (Soziale Einzelfallhilfe), eine Gruppe (Soziale Gruppenarbeit) oder ein Gemeinwesen (Gemeinwesenarbeit) – bezogen ist.

Überblick

  1. 1 Entstehung von Fällen
  2. 2 Arbeit mit Fällen
  3. 3 Erweitertes Begriffsverständnis
  4. 4 Quellenangaben
  5. 5 Literaturhinweise

1 Entstehung von Fällen

Für einen Fall braucht es einen Anlass. Anlässe können von Menschen selbst in Kontexte Sozialer Arbeit eingebrachte Anliegen und Bedarfe, von Professionellen oder auch Dritten wahrgenommene mögliche soziale Problemlagen oder akute Notlagen sein. Fälle stehen im Zusammenhang mit Menschen, deren sozialer Lebenssituation und sind integriert in deren Lebenswelt. Aus der spezifischen Lebenssituation heraus können sich sehr individuelle Anliegen oder auch Krisensituationen von Menschen ergeben. Ein Anlass für einen Fall in der Sozialen Arbeit steht oft im Kontext mit (verwobenen) sozialen Problemlagen. Es muss mindestens eine Person geben, die eine Situation als einen Anlass wahrnimmt, ernst nimmt und entsprechend einbringt. Ein Anlass wird erst dann zum Fall, wenn er als eine spezielle Situation behandelt, abgegrenzt, beschrieben und definiert wird. Die Wahrnehmung einer Situation und deren Bewertung ist immer mit einer normativen Perspektive verbunden. In diesem Kontext sind subjektiv geprägte und bestehende Vorurteile und Vorannahmen ebenso von Bedeutung wie das fachliche Vorwissen, die Sicht auf soziale Problemlagen, das Menschenbild vor allem in Bezug auf die Adressat:innen und das Professionsverständnis bspw. in Bezug auf ethische Grundprinzipien und den Umgang mit Macht (Abb. 1; Müller und Hochuli-Freund 2017, S. 27 ff.; Staub-Bernasconi 2007; Wendt 2018, S. 56 f.).

Fallverständnis – subjektiv geprägte Perspektiven auf einen Fall
Abbildung 1: Fallverständnis – subjektiv geprägte Perspektiven auf einen Fall (eigene Darstellung)

Beispiele für Anlässe können sein:

  • Eltern haben ein Beratungsanliegen zu Erziehungsfragen und suchen nach einer Terminvereinbarung eine Familien- und Erziehungsberatungsstelle für ein Beratungsgespräch auf.
  • Eine jugendliche Person hat starken Liebeskummer und sucht eine Sozialarbeiter:in eines Offenen Jugendtreffs auf, um darüber zu sprechen, daraus entwickelt sich ein längeres sozialpädagogisches Beratungsgespräch und ein weiterer Termin wird vereinbart.
  • Eine Person ist akut von der Kündigung der Wohnung bedroht und sucht die Wohnungsnotfallhilfe des Sozialamtes auf, die der Person Unterstützung anbietet.
  • Das Jugendamt erhält eine Meldung zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung und prüft diese.

2 Arbeit mit Fällen

Die Beispiele sollen darauf verweisen, dass es neben mindestens einer Person, die einen Anlass einbringt, Fachkräfte braucht, die aus diesem Anlass einen Fall werden lassen. Dafür muss dieser von Fachkräften als solcher verstanden werden (Wendt 2018, S. 56). Anlässe sind oft der Grund für einen ersten Kontakt zwischen Fachkraft und Adressat:in(nen), dem ein Erstgespräch folgt oder welches mit diesem direkt verbunden ist. Der grundlegenden Kompetenz des Fallverstehens, im Sinne einer ersten Fallwahrnehmung und -deutung, folgt die Prüfung der Fallzuständigkeit und die Auftragsklärung. Das heißt, die Klärung der Fragen: Wird der Fall bearbeitet? Wo wird er bearbeitet? Von wem wird er bearbeitet? Im nächsten Schritt ist eine Deutung des Falls nötig und damit die Erkundung des Anlasses, der zum Fall führte (a.a.O. S. 57; Heiner 2012, S. 201 ff.). Diese Punkte sind Teil der Situationserfassung, der die Situationsanalyse und weitere Phasen der Fallarbeit folgen, und verweisen darauf, dass es einer professionellen Fallarbeit bedarf, um im Rahmen eines strukturierten, planvollen und ethisch eingebetteten Vorgehens eine Handlungsstrategie zu entwickeln. Fälle sind zudem meist hochkomplex (teils überkomplex) und mit dynamischen Entwicklungen verbunden. Damit wird die Herausforderung für die Fachkräfte erhöht: die Komplexität muss erst erfasst werden (und kann sich im Rahmen der Situationsanalyse durch weitere Informationen zum Fall noch erhöhen), dann muss eine Reduktion erfolgen, die zu einer Priorisierung in Bezug auf eine Fragestellung führt (Um was geht es konkret? Wer hat welches Problem?) aus der in einem nächsten Schritt Ziele entwickelt werden können, die im Rahmen der Fallbearbeitung angegangen werden (Pantuček, 2013, S. 94 ff.; 2006, S. 4). Die Komplexität von Fällen entspringt nicht nur aus miteinander verwobenen Problemlagen, sondern auch aus den unterschiedlichen Bezugsrahmen in die ein Fall eingebettet ist (Müller und Hochuli-Freund 2017, S. 23). Damit verbunden sind unterschiedliche Perspektiven auf einen Fall und sich daraus ergebende Handlungslogiken. Das heißt, neben den oben genannten Kriterien in Bezug auf das subjektive Fallverständnis einer Person (Abb. 1) erhöht sich die Komplexität durch weitere (zu berücksichtigende) Perspektiven und Denk- und Handlungslogiken von anderen Personen und Institutionen, die mit dem Fall verbunden sind (Abb. 2).

Fallbezogene Perspektiven und Handlungslogiken – Komplexität als Herausforderung für die Praxis
Abbildung 2: Fallbezogene Perspektiven und Handlungslogiken – Komplexität als Herausforderung für die Praxis (eigene Darstellung)

Dies führt zur Herausforderung für Fachkräfte ein multiperspektivisches Verständnis für den Fall zu entwickeln, um diesen vollumfänglich zu verstehen, und, neben der zentralen Unterstützungsleistung für die Adressat:innen, eine moderierende und koordinierende Rolle zwischen den beteiligten Personen und Institutionen einzunehmen, um die Fallarbeit, wie bspw. im Case Management oder der Multiperspektivischen Fallarbeit, zu steuern und zu gestalten (Kleve et al. 2018; Neuffer 2002; Müller und Hochuli-Freund 2017). Für die Betrachtung von Fällen bietet sich eine hermeneutische Sicht- und Vorgehensweise (nach dem hermeneutischen Zirkel) an, um ein tieferes Verständnis des Falls zu erlangen und zu schnelle und voreilige Schlüsse (die zu nicht passenden oder unangemessenen Interventionen führen könnten) zu vermeiden. Gleichzeitig kann die Herausforderung des Umgangs mit der Komplexität und der Dynamik in Fällen zu Überforderungen und Paradoxien bei Professionellen im Rahmen ihres beruflichen Handelns führen (Schütze 2000). Diese Punkte verweisen auf die Bedeutung von Teamarbeit, kollegialer Fallberatung und Supervision für ein professionelles methodisches Handeln.

3 Erweitertes Begriffsverständnis

Fallbezüge, und somit die Erarbeitung von Definitionen und die Arbeit mit Fällen, weisen auch andere Professionen und Disziplinen (wie die Medizin, die Psychologie und die Rechtswissenschaft) auf und ebenso die empirische Sozialforschung. Fälle können sich in einer erweiterten Perspektive neben Personen und Gruppen auf Organisationen, Institutionen und gesellschaftliche Ereignisse beziehen und damit in der Forschung auf alles, was für ein bestimmtes Forschungsinteresse als besonderes Phänomen relevant sein kann. Fälle werden dann meist nicht als Sachverhalt, sondern als Untersuchungsgegenstand oder Untersuchungseinheit beschrieben. Aus Fallanalysen und Fallstudien lassen sich Ableitungen für die Praxis entwickeln (Schumann 2017, S. 5). Das heißt, auch die Fachkräfte selbst, deren Handeln und die Institutionen der Sozialen Arbeit können als Fall zum Untersuchungsgegenstand einer empirischen Sozialforschung werden.

4 Quellenangaben

Heiner, Maja, 2012. Handlungskompetenz „Fallverstehen“. In: Roland Becker-Lenz, Stefan Busse, Gudrun Ehlert und Silke Müller-Hermann, Hrsg. Professionalität Sozialer Arbeit und Hochschule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/​Springer Fachmedien, S. 201–218. ISBN 978-3-531-17799-1

Kleve, Heiko, Britta Haye, Andreas Hampe und Matthias Müller, 2018. Systemisches Case Management: Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit. Heidelberg: Carl Auer Verlag. ISBN 978-3-89670-617-1 [Rezension bei socialnet]

Müller, Burkhard und Ursula Hochuli-Freund, 2017. Sozialpädagogisches Können: Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. 8. Auflage. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-2757-6 [Rezension bei socialnet]

Neuffer, Manfred, 2002. Case Management: Soziale Arbeit mit Einzelnen und Familien. Weinheim: Juventa Verlag. ISBN 978-3-7799-0733-6 [Rezension bei socialnet]

Pantuček, Peter, 2006. Fallstudien als „Königsdisziplin“ sozialarbeitswissenschaftlichen Forschens. In: Flaker, Vito und Schmid, Tom, Hrsg. Von der Idee zur Forschungsarbeit: Forschen in Sozialarbeit und Sozialwissenschaft. Wien: Böhlau. S. 237–261. ISBN 978-3-205-77548-5 [Rezension bei socialnet]

Pantuček, Peter, 2013. Der Fall, das Soziale und die Komplexität – Überlegungen zur Diagnostik des Sozialen. In: Silke Brigitta Gahleitner, Gernot Hahn und Rolf Glemser, Hrsg. Psychosoziale Diagnostik. Köln: Psychiatrie-Verlag, S. 94–106. ISBN 978-3-88414-552-4 [Rezension bei socialnet]

Schumann, Svantje, 2017. Das Potential von Fallanalysen (Kasuistik) für die Frühpädagogik [online]. Berlin: FRÖBEL e.V., Kita-Fachtexte [Zugriff am: 22.11.2021]. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/de/fachtexte-finden/​das-potential-von-fallanalysen-kasuistik-fuer-die-fruehpaedagogik

Schütze, Fritz, 2000. Schwierigkeiten bei der Arbeit und Paradoxien des professionellen Handelns: ein grundlagentheoretischer Aufriß. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung [online]. 1(1), S. 49–96 [Zugriff am: 15.12.2021]. ISSN 1438-8324. Verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-280748

Staub-Bernasconi, Silvia, 2007. Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession? Zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit in Deutschland mit einem Seitenblick auf die internationale Diskussionslandschaft. In: Andreas Lob-Hüdepohl und Walter Lesch, Hrsg. Ethik Sozialer Arbeit – Ein Handbuch: Einführung in die Ethik der Sozialen Arbeit. Stuttgart: UTB. S. 20–54. ISBN 978-3-8252-8366-7 [Rezension bei socialnet]

Wendt, Peter Ulrich, 2018. Lehrbuch Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-3084-6 [Rezension bei socialnet]

5 Literaturhinweise

Ader, Sabine und Christian Schrapper, 2020. Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-8252-5354-7 [Rezension bei socialnet]

Braun, Andrea, Gunther Graßhoff und Cornelia Schweppe, 2011. Sozialpädagogische Fallarbeit. München: Reinhardt/UTB. ISBN 978-3-8252-8460-2 [Rezension bei socialnet]

Griesehop, Hedwig Rosa, Regina Rätz und Bettina Völter, Hrsg., 2012. Biografische Einzelfallhilfe: Methoden und Arbeitstechniken. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-2209-4 [Rezension bei socialnet]

Hochuli-Freund, Ursula und Walter Stotz, 2021. Kooperative Prozessgestaltung in der sozialen Arbeit ein methodenintegratives Lehrbuch. 5. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-039979-2 [Rezension bei socialnet]

Hefel, Johanna M. und Irene Hiebinger, Hrsg., 2021. Einblicke in die Praxis der Sozialen Arbeit: Erfahrungsberichte aus der Fallarbeit von Sozialarbeiter*innen in Österreich. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-6398-1

Kreft, Dieter und C. Wolfgang Müller, 2019. Methodenlehre in der Sozialen Arbeit. München: Reinhardt/UTB. ISBN 978-3-8252-5290-8 [Rezension bei socialnet]

Michel-Schwartze, Brigitta, Hrsg., 2009. Methodenbuch Soziale Arbeit: Basiswissen für die Praxis. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-16163-1 [Rezension bei socialnet]

Schütze, Fritz, 2020. Professionalität und Professionalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern: Soziale Arbeit. Opladen: Barbara Budrich/UTB. ISBN 978-3-8252-5462-9 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. Dr. Torsten Linke
Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
Fakultät Architektur und Sozialwissenschaften
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