Feinfühligkeit
Prof. Dr. Tanja Jungmann
veröffentlicht am 30.09.2019
Der Begriff der Feinfühligkeit wurde von Mary Ainsworth (1964/2003) geprägt und ist definiert als die mütterliche Wahrnehmung und korrekte Interpretation der kindlichen Signale sowie prompte und angemessene Reaktionen darauf. Feinfühligkeit wird als Voraussetzung für den Aufbau einer sicheren Bindung betrachtet.
Nach den Annahmen der ethologischen Bindungstheorie (Bowlby 2016) wird das kindliche Verhalten durch das Bindungs- und Explorationssystem gesteuert; das elterliche Verhalten gegenüber dem Kind wird durch das Pflegeverhaltenssystem beeinflusst. Die Feinfühligkeit ist durch die Wahrnehmung und korrekte Interpretation der Signale des Kindes durch die primären Bezugspersonen eines Kindes sowie Promptheit und Angemessenheit der Reaktion charakterisiert.
Diese Beschreibung ähnelt durchaus dem Konzept des „Intuitiven Elternverhaltens“ von Papoušek und Papoušek (1987), das als komplementär zu den frühen Interaktionsfähigkeiten des Säuglings betrachtet wird. Allerdings wird darüber hinaus die Bedeutsamkeit einer deutlichen Verhaltensstrukturierung in der Kommunikation mit dem Säugling betont, z.B. durch die Überzeichnung von Mimik und Gestik oder durch Veränderungen in der Stimmlage und Sprachstruktur, um dem Säugling die Informationsaufnahme zu erleichtern, das Herstellen und Aufrechterhalten von Blickkontakt und die Prüfung und Regulation des Wachheits- und Erregungszustand des Kindes, z.B. durch kurzes Berühren der Hände, Streicheln oder Singen (Viernickel 2013, S. 639).
Die elterlichen Reaktionen auf die Bindungs- und Explorationsbedürfnisse ihres Kindes fallen in Abhängigkeit von eigenen Kindheitserfahrungen, kulturellen Erziehungsnormen, eigenen Temperamentseigenschaften, aber auch den Temperamentseigenschaften des Kindes und in Abhängigkeit von seinen Beziehungserfahrungen mit anderen Personen sehr unterschiedlich aus, wie Abbildung 1 verdeutlicht.
Das mütterliche Antwortverhalten auf die kindlichen Signale wird als Feinfühligkeit beschrieben, was bedeutet, dass sie sich in seine Lage versetzen und es als eigenständige Person mit eigenen Bedürfnissen, Absichten und Gedanken anerkennen können (vgl. dazu auch das Konzept Mind-Mindedness, Meins et al. 2018). Feinfühliges Verhalten wird als Voraussetzung für den Aufbau einer sicheren Bindung betrachtet und beinhaltet, die Signale des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt sowie angemessen darauf zu reagieren (van den Boom 1994). Die väterliche Feinfühligkeit spielt dagegen für eine sichere Exploration eine ebenso bedeutende Rolle. Das Konzept der „feinfühligen Herausforderung im Spiel“ geht davon aus, dass der erwachsene Spielpartner in seiner Interaktion mit dem Kind – neben der feinfühligen Explorationsassistenz – auch dessen Neugier und Exploration unterstützt und fördert (Kindler und Grossmann 2019). Eine gesunde Entwicklung benötigt sowohl die Sicherheit der Bindung als auch die Sicherheit der Exploration.
Quellenangaben
Ainsworth, Mary D. Salter, 1964/2003. Muster von Bindungsverhalten, die vom Kind in der Interaktion mit seiner Mutter gezeigt werden. In: Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann, Hrsg. Bindung und menschliche Entwicklung: John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 102–111. ISBN 978-3-608-94321-4
Boom, Dymphna C. van den, 1994. The influence of temperament and mothering on attachment and exploration. An experimental manipulation of sensitive responsiveness among lower-class mothers with irritable infants. In: Child Development. 65(6), S. 1457–1477. ISSN 0009-3920
Bowlby, John, 2016. Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. 7. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag. ISBN 978-3-497-02665-4
Kindler, Heinz und Karin Grossmann, 2019. Vater-Kind-Bindung und die Rolle der Väter in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder. In: Lieselotte Ahnert, Hrsg. Frühe Bindung: Entstehung und Entwicklung. 4. Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag, S. 240–255. ISBN 978-3-497-02857-3
Meins, Elizabeth, Jean‐François Bureau und Charles Fernyhough, 2018. Mother-child attachment from infancy to the preschool years: predicting security and stability. In: Child Development. 89(3), S. 1022–1038. ISSN 0009-3920
Papoušek, Hanŭs. und Mechthild Papoušek, 1987. Intuitive parenting: A dialectic counterpart to the infant’s integrative competence. In: Joy D. Osofsky, Hrsg. Handbook of infant development. 2. Auflage. Wiley: New York, S. 669–720. ISBN 978-0-471-88565-8
Petermann, Franz, Scheithauer, Herbert und Kay Niebank, 2004. Entwicklungswissenschaft: Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. München: Springer. ISBN 978-3-540-44299-8
Viernickel, Susanne, 2013. Soziale Entwicklung. In: Margrit Stamm und Doris Edelmann, Hrsg. Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer Verlag, S. 633–652. ISBN 978-3-531-18474-6 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Prof. Dr. Tanja Jungmann
Universität Oldenburg, Professur für Sprache und Kommunikation und ihre sonderpädagogische Förderung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse
Website
Mailformular
Es gibt 15 Lexikonartikel von Tanja Jungmann.
Zitiervorschlag
Jungmann, Tanja,
2019.
Feinfühligkeit [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 30.09.2019 [Zugriff am: 09.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28256
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Feinfuehligkeit
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.