Freinet-Pädagogik
Herbert Vogt
veröffentlicht am 15.06.2018
Die Freinet-Pädagogik ist ein reformpädagogischer Ansatz, der auf den französischen Lehrer Célestin Freinet (1896-1966) zurückgeht. Seine „Bewegung der modernen Schule“ verfolgte „vom Kinde aus“ Prinzipien des lebensnahen und entdeckenden Lernens, der Selbstorganisation und Eigentätigkeit sowie der Partizipation der Kinder.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begründer
- 3 Grundlegende Begriffe
- 4 Rolle der PädagogInnen
- 5 Freinet-Bewegung
- 6 Eine Schulpädagogik für Kindertageseinrichtungen
- 7 Quellenangaben
- 8 Literaturhinweise
- 9 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Célestin Freinet (1896-1966) begründete im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine „Bewegung der modernen Schule“, die rasch eine große Verbreitung in Frankreich und bald auch in anderen europäischen Ländern und weltweit fand. Diese verfolgte „vom Kinde aus“ Prinzipien des lebensnahen und entdeckenden Lernens, der Selbstorganisation und Eigentätigkeit sowie der Partizipation der Kinder. Freinets Frau Elise (1898-1981) war ebenfalls Lehrerin und spielte in der Freinet-Bewegung eine bedeutende Rolle. In deutsche Schulen fand die Freinet-Pädagogik Eingang ab den 1960er-Jahren, in Kindertageseinrichtungen seit den 1980er-Jahren, und es zeigt sich, dass sie wegen ihrer methodischen Offenheit auch außerhalb der Schule, und zwar in allen Einrichtungsformen, gelingen kann.
2 Begründer
Célestin Freinet wurde am 15.10.1896 in dem kleinen südfranzösischen Dorf Gars als fünftes von sechs Kindern geboren. Seine Eltern waren Bauern und führten einen kleinen Krämerladen. Freinet und seine Geschwister mussten von Kindesbeinen an mitarbeiten. Freinet begann als 16-Jähriger ein Studium für den Lehrerberuf. Dieses musste er 1915 abbrechen, als er im Ersten Weltkrieg zum Militär eingezogen wurde. Vor Verdun zog er sich 1916 eine schwere Lungenverletzung zu und verbrachte vier Jahre in verschiedenen Lazaretten und Sanatorien. Während dieser Zeit las Freinet viel, die Pädagogen Rousseau, Pestalozzi und Ferrière interessierten ihn ebenso wie die Politiker Marx und Lenin.
1920, noch ohne Examen, trat Freinet im Alter von 24 Jahren seine erste Stelle als Hilfslehrer in der zweiklassigen Dorfschule in Bar-sur-Loup in der Nähe von Nizza an. 47 Kinder, ausnahmslos Jungen, saßen in seiner Klasse. Wegen seines erlittenen Lungenschusses immer noch beeinträchtigt, konnte Freinet weder laut noch lange Zeit ohne Pause sprechen. Auch, aber nicht nur deshalb suchte er nach neuen Unterrichtswegen.
30-jährig heiratete Freinet 1926 Elise (1898-1981), die ebenfalls Lehrerin war. Mit einer Erbschaft Elises bauten sie ein Landschulheim in der Nähe von Vence auf. Freinet arbeitete dort weiterhin als Lehrer, bis er am 8. Oktober 1966 starb.
3 Grundlegende Begriffe
3.1 Bild vom Kind
Freinets Bild vom Kind kann als das eines handelnden Subjekts beschrieben werden. Dies bedeutet, über die eigene Lebensgeschichte verfügen zu können und beinhaltet,
- dass Kinder eine individuelle subjektive Gegenwart haben,
- dass sie spüren oder wissen, sie unterscheiden sich von anderen und sind einzigartig,
- dass sie persönliche Sinngebung des eigenen Handelns, einen eigenen Willen zugestanden bekommen und ihm folgen können und
- dass sie die entsprechende Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit besitzen, um ihre Autonomie bewahren zu können.
Célestin und Elise Freinet zogen bereits 20 Jahre vor Piagets ersten Arbeiten zur Besonderheit und Eigentümlichkeit kindlichen Lernens ganz ähnliche Schlüsse wie dieser. Sie hatten Kinder im normalen Schulalltag mit dem Ziel beobachtet, deren Tun, Motive, Anliegen, Fragen, Interessen und Vorgehen zu verstehen. Dies hatte für sie mit Sinnerfassung zu tun. Anders als Piaget ging es ihnen weniger um eine wissenschaftliche Erfassung und Analyse von kindlichem Lernen und Denken, weniger darum, Entwicklungsstadien im Allgemeinen nachzeichnen zu können. Vielmehr suchten sie nach dem persönlichen Sinn, den eine Handlung für das jeweilige Kind hatte. Das zu begreifen, sahen Elise und Célestin Freinet als unverzichtbare Voraussetzung für eine wirkliche Verständigung mit dem Kind an. Dementsprechend überließen beide immer wieder und mit bewundernswerter Konsequenz den Kindern die Regie über ihr Lernen. Denn erst die Anerkennung der subjektiven Seite von Entwicklung machte Kinder in ihren Augen tatsächlich zu eigenverantwortlich Handelnden.
„Das Kind muss sich selbst erziehen“, wie Freinet (Freinet C. und Boehncke 1980, S. 25) schrieb, „sich selbst bilden, mit der Hilfe der Erwachsenen. Wir versetzen die Achse der Erziehung: im Zentrum der Schule steht nicht mehr der Lehrer, sondern das Kind. Es geht nicht mehr um die Vorlieben und die Bequemlichkeit des Lehrers: das Leben des Kindes, seine Bedürfnisse, seine Möglichkeiten sind der Angelpunkt unserer Erziehung“ (ebd.).
3.2 „Natürlich“ entdeckend lernen
Freinet, der von moderner Entwicklungspsychologie und Hirnforschung nichts wusste, hatte eine geniale Einsicht in die Zusammenhänge von kindlichem Entdeckungsdrang und Lernwegen. Sie erschlossen sich ihm aus seinen konkreten Erfahrungen mit den Kindern – u.a. der akribischen Beobachtung seiner Tochter: „Das sind die neuen Erkenntnisse: Das Kind ist hungrig nach Leben und Aktivität. Diesen Drang nutzen wir, indem wir dem Kind die ‚Instrumente‘ der Unterweisung und der Erziehung selbst in die Hand geben, und indem wir an der Verwirklichung der materiellen und sozialen Voraussetzungen arbeiten, die es dem Kind ermöglichen, diesem Drang nachzugehen“ (ebd., S. 28).
Nach Freinets Verständnis be-arbeiten Kinder Dinge und Erfahrungen, bevor sie sie ver-arbeiten. Von der Hand in den Kopf ist der Weg; Sinneswahrnehmung, Tätigsein und Bildung sind ein einheitlicher Prozess. Für Freinet fielen Spiel, Arbeit und Lernen im Kindesalter ohnehin (fast) zusammen. Er gestand jedem Kind seinen eigenen Rhythmus, seine eigenen Wege und Umwege beim Lernen zu und sah dies als ein ständiges Probieren, Experimentieren, Versuchen mit den vorhandenen Möglichkeiten, den Kräften, dem Material, dem Werkzeug sowie dem sozialen Gefüge. Freinet beschrieb, wie sich Zufall, persönliche Sinngebung bzw. subjektive Sichtweisen zu entdeckendem Lernen verbinden. Dabei erkannte er klar, wie sehr Kinder auf bereits gemachte Erfahrungen zurückgreifen und sich neue Erkenntnisse durch sog. tastende Versuche erschließen. Tastende Versuche waren für ihn Resultat und Verlängerung unserer persönlichen Erfahrungen. Sie sind mit dem individuellen Werden und dem persönlichen Sinn verbunden, von Grund auf experimentell.
Zunehmend systematisiert führen diese tastenden Versuche schließlich zur „wissenschaftlichen“ Erkenntnis. Fehler und Rückschläge sind unvermeidlich, aber wertvolle Erfahrungsquellen. Kinder trachten seines Erachtens von selbst immer wieder aufs Neue nach Perfektionierung, wenn auch nicht unmittelbar und auch nicht gemessen an den Vorgaben der Erwachsenen. Dies nannte er „natürliche Methode“. Wiederholung, Nachahmung, Assoziation und Reiz-Reaktions-Lernen waren für Freinet keine eigenständigen Lernformen, sondern Mittel zum Lernen. Das eigentliche Lernen geschieht in der höchst individuellen Weise des Einzelnen, sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt schrittweise voranzutasten, als Prozess fortwährender Wechselwirkung von Experiment in der Praxis und experimenteller Theoriebildung im Kopf.
Freinet konnte sich eine Freude am Lernen ohne ständige Entdeckungen nicht vorstellen. Eben die Erweiterung persönlicher Handlungsmöglichkeiten, die sich aus Entdeckungen ergibt, motiviert nachhaltig. Mangelnde Motivation, Passivität, Rückzug oder Destruktivität sind im Verständnis Freinets Ausdrucksformen blockierter Suchbewegungen. In diesem Fall bietet die Umgebung zu wenige Möglichkeiten für entdeckendes Lernen. Herrscht hingegen eine Kultur des Arbeitens und Forschens, entstehen weder Disziplin- noch Motivationsprobleme: „Ein Kind, dem man Aktivitäten anbietet, die seinen physischen und psychischen Bedürfnissen entsprechen, ist immer diszipliniert […] D.h., es hat weder Regeln noch äußere Verpflichtung nötig, um alleine oder in Kooperation mit anderen auch einer anstrengenden Arbeit nachzugehen. Nur dort, wo nicht die freie Aktivität zum Grundprinzip jeglicher Organisation […] gemacht wird, da bedarf es einer besonderen Disziplin. Und diese hat die Funktion, das Kind zu etwas zu zwingen, was es nicht will“ (Freinet C. und Boehncke 1980, S. 38).
Die Freinet-Pädagogik entfernt sich entschieden vom ursprünglichen Begriff der Didaktik mit ihrer Ausrichtung vom Lehrenden zum Lernenden und ihren mehr oder weniger geschickt aufbereiteten Vermittlungsstrategien. Dagegen setzt sie (nach heutigem Begriff) Mathetik, eine kindzentrierte, dialogische Didaktik, bei dem das Kind seinen Selbstbildungsprozess wesentlich mitbestimmt und dabei von Erwachsenen begleitet wird.
3.3 Der freie Ausdruck
Historisch ist der freie Ausdruck der Ausgangspunkt der gesamten Freinet-Pädagogik. Elise Freinet, die als noch entschiedenere Verfechterin des freien Ausdrucks gilt als Célestin Freinet, meinte, „dass der freie Ausdruck des Kindes den Beginn des Umbruchs in der Auffassung von Erziehung darstellte“ (Freinet E. und Jörg 1985, S. 27).
Célestin Freinet hielt den freien Ausdruck für „die Veräußerlichung dessen, was im Kind ist, was das Gefühl bewegt, es lachen oder weinen lässt, seine Träume erfüllt und ihm unausdrückliche Empfindungen verschafft, die aber trotzdem da sind, was es in sich um so kostbarer und unersetzbarer fühlt. In dieser Tiefe ist der freie Text zugleich Bekenntnis, Entfaltung, Explosion und Therapie“ (Laun 1982, S. 54).
Im freien Ausdruck liegt das Geheimnis der ganzen Persönlichkeit eines Kinds verborgen. Kinder teilen mit seiner Hilfe mit, was sie bewegt, was sie durch Erfahrung bisher gelernt und wie sie das Erfahrene gedeutet haben. In allem drücken sie ihre Sicht der Welt aus. Sie beschreiben ihre persönliche Beziehung dazu, ihre Motive, Absichten und Interessen. Sie drücken aus, auf welche Weise sie in den Alltag eingreifen, was sie fragen oder herausbekommen möchten. Der freie Ausdruck ist der Versuch, über ihre eigene Lebensgeschichte zu verfügen, Erfahrungen und Bedürfnisse zu verarbeiten und ihren spezifischen Platz in der Welt zu bestimmen.
3.4 Arbeit und Spiel
Arbeit nahm in Freinets Denken einen zentralen Stellenwert ein. Er stand damit ganz in der reformpädagogischen Neubewertung der kindlichen Selbsttätigkeit, aber wie kein anderer Reformpädagoge reflektierte er diese theoretisch und verhalf ihr zu praktischer Entfaltung: „Die Arbeit wird das Prinzip, der Motor und die Philosophie der volkstümlichen Pädagogik sein. Durch Selbsttätigkeit wird aller Bildungserwerb erzielt“ (Freinet C. 1979, S. 16). Es muss nicht betont werden, dass Freinet selbstverständlich jede Form der Ausbeutung von Kinderarbeit ablehnte. Sein Arbeitsbegriff zeichnet sich durch einen engen Zusammenhang mit seinem Spielbegriff aus. Er ging davon aus, dass das Kind ein instinktives Bedürfnis nach Arbeit, d.h. nach einer ernsthaften Beschäftigung, hat. Spiel sei für das Kind nur eine Ersatzhandlung, wenn es nicht arbeiten dürfe oder es durch die Arbeit nicht völlig beansprucht sei. „Es gibt beim Kind kein natürliches Spielbedürfnis, es gibt nur ein Arbeitsbedürfnis“ (Freinet C. und Boehncke 1980, S. 87). „Das Kind spielt, wenn die Arbeit seine Energie nicht ganz aufbrauchen konnte“ (ebd., S. 82).
Die Arbeit, die dem natürlichen Bedürfnis des Kinds nach ernsthafter Beschäftigung entspricht, nannte Freinet „Arbeit mit Spielcharakter“ (travail-jeu). Dazu gehören Tätigkeiten, die Erwachsene sonst als Spiel bezeichnen, wie das Bauen eines Baumhauses oder das Fegen der Straße, den Bau eines Hasenstalls, Schwerts oder Schiffs, die Reparatur des Fahrrads, das Töpfern einer Tasse, das Stauen eines Bachs, das Malen eines Bilds, die Pflege von Tieren und Puppen oder den Aushang einer Suchanzeige, also alles Tun des Kinds, das aus dem von Natur im Menschen veranlagten Trieb nach Betätigung und Produktivität entspringt. Arbeit ist hier die natürliche Bestimmung des Menschen zur Entwicklung seiner körperlichen und geistigen Kräfte im Umgang und in der Auseinandersetzung mit der Natur. Diese Tätigkeiten der Kinder haben zwar, vom Erwachsenen aus gesehen, Spielcharakter; Freinet behauptete jedoch, dass sie für das Kind Arbeit sind.
3.5 Partizipation
Was wir heute mit dem Begriff der Partizipation belegen, war in Freinets Sprache, „den Kindern das Wort zu geben“. Diese Maxime hat in der Freinet-Pädagogik zwei Gesichter: freier Ausdruck einerseits und Beteiligung, Einmischung, Mitbestimmung andererseits. In der Auffassung Freinets besitzen Kinder ein grundsätzliches Recht auf Einmischung. In der Freinet-Pädagogik ist dies auf den Punkt gebracht, kein Anspruch für besondere Gelegenheiten, sondern selbstverständliches, umfassendes und grundlegendes Recht. Es durchzieht nicht nur den gesamten Alltag, sondern ist vor allem in der Haltung der Erwachsenen deutlich spürbar. Sie entscheiden so wenig wie möglich für Kinder „hinter verschlossenen Türen“, unter sich in Kollegien und Teams, sondern beziehen Kinder selbstverständlich so viel wie möglich in Entscheidungsprozesse ein. Sie informieren Kinder rechtzeitig über Angelegenheiten, die sie betreffen. Sie nehmen ihre Beschwerden ernst, fragen sie um Rat und beherzigen ihre Vorschläge und Ideen.
3.6 Die entwicklungsförderliche Umgebung
Da für Freinet nicht mehr Lehrende im Mittelpunkt standen, sondern die selbsttätige Arbeit der SchülerInnen, mussten die Räume all das bieten, was zum autonomen Lernen gebraucht wird. Freinet (1979) formulierte aus der Relativierung der Lehrerrolle heraus: „Da wir augenblicklich nicht behaupten dürfen, dass wir die Kinder sowohl methodisch wie wissenschaftlich so führen können, dass jedem von ihnen die ihm persönlich angepasste Erziehung zuteilwird, begnügen wir uns damit, ihnen ein ihre Interessen förderndes Milieu zu schaffen und ein entsprechendes Arbeitsmaterial und kindgemäße Techniken zu entwickeln, die ihre Bildung fördern, ihnen die Wege ebnen, auf denen sie je nach ihrer Veranlagung, ihren Neigungen und ihren Bedürfnissen weiterschreiten werden“ (ebd., S. 16).
Dass Lernräume eine sehr wichtige Funktion besitzen, ist unumstritten. Raumgestaltung ist aber zum einen in der Regel die Domäne von Erwachsenen. Sie sind es, die normalerweise die Räumlichkeiten für Kinder mitunter perfektionistisch planen. Dies kann den Gebrauch der Räume für die Kinder durchaus hemmen. Für Freinet ging es dabei um mehr als bloße Fragen der Material- oder Möbelauswahl. Er sah sich hier vor eine Grundsatzfrage gestellt: „Es geht darum, unser ganzes Erziehungssystem von der materiellen Basis her umzugestalten […]. Niemals werden wir sagen: ‚Wendet die Methode der freien Textgestaltung an‘, sondern: ‚Beschaffen Sie sich das Material einer Schuldruckerei […].‘ Wir werden nicht sagen: ‚Machen Sie interessante naturwissenschaftliche Versuche auf der Basis von Experiment und Beweis‘, sondern: ‚Bauen Sie Ihre Ateliers zu Forschungswerkstätten aus, […] besorgen Sie sich das unentbehrliche Arbeitsmaterial, mit dem die Kinder selbst Versuche machen können‘“ (ebd., S. 99)
Die enorme Bedeutung einer anregenden und gut sortierten, vielfältigen, zugänglichen, benutzbaren und auch geschmackvollen Lern-, Arbeits- und Lebensumgebung wurde in der Freinet-Pädagogik von je her betont. Eine „Grundausstattung“ oder Vorschriften für die Gestaltung von Räumen und Arbeitsecken gibt es aber in der Freinet-Pädagogik nicht. Will man eine Freinet-Einrichtung an ihren Räumlichkeiten erkennen, sind die Indizien dafür auf den ersten Blick allenfalls die Fülle des vorgefunden Materials, dessen Zugänglichkeit für Kinder und das Vorhandensein „richtiger“ Gegenstände und Werkzeuge.
4 Rolle der PädagogInnen
„Wenn der Erzieher verstanden hat, dass die Wahrheit des Kindes von der seinen verschieden ist und dass er mit Demut und Einfachheit dieser Wahrheit zum Ausdruck verhelfen kann, dann hat er seine wirkliche soziale Rolle verstanden“ (Elise Freinet, zitiert nach Kock 1996, S. 139).
Häufig wird an Freinet-PädagogInnen die Frage gerichtet, wozu Erwachsene überhaupt noch gebraucht würden, wie Entwicklungsbegleitung denn konkret aussähe. Erwachsene sind in der Freinet-Pädagogik keineswegs überflüssig, ganz im Gegenteil. Da ihnen aber der anstrengende Perfektionismus des Alleskönnens und Besserwissens weitgehend fehlt, können sie abwarten, zulassen, zusehen, und Kinder experimentieren lassen, auch wenn sie selbst andere Lösungswege im Kopf haben. Sie lehren wenig, lassen aber die Kinder umso mehr selbst lernen. Sie sehen ihre Aufgabe darin herauszufinden, ob und wo sie genau gebraucht werden.
Im Verständnis der Freinet-Pädagogik vollzieht sich der Bildungsprozess als Dialog. Dies bedeutet, dass Erwachsene sich Kindern als DialogpartnerInnen anbieten. Sie versuchen, ein Verhältnis „wechselseitiger Anerkennung“ zu installieren. Sie handeln entsprechend ihren eigenen Motiven und sind dafür Modell. Sie haben an sich selbst den Anspruch, gut Bescheid zu wissen, ihren eigenen Bildungsprozess zu verfolgen. Sie bemühen sich, Kindern die Entwicklungsmöglichkeiten bereitzustellen, von denen sie glauben, sie seien für die Bewältigung der Zukunft wichtig. Sie behaupten aber nicht zu wissen, was für Kinder richtig ist. Keinesfalls sind sie AnhängerInnen didaktischer Programme für Kinder, seien sie auch noch so klug ersonnen, die Kinder zu „AbnehmerInnen“ ihrer Bildungsanstrengungen machen. Die PädagogInnen drängen sich nicht auf, belagern die Kinder nicht mit Fürsorge und Handlungsimpulsen.
Eine gute Arbeits- und Lernatmosphäre entsteht überall dort, wo die Erwachsenen
- sich für die Kinder und ihre Arbeit interessieren, ihnen zuschauen und zuhören,
- darüber staunen können, was die Kinder tun, und dies ernsthaft verstehen wollen,
- die eigene Begeisterung darüber offen kundtun,
- es schaffen, sich in die Arbeit der Kinder einzubringen und selbst etwas lernen wollen, statt zu belehren, etwas besser zu wissen oder vorauszueilen,
- Kindern die eigenen Fragen und Sichtweisen anbieten, wenn es sich aus dem Geschehen heraus ergibt,
- den Kindern Hilfe geben, wenn sie darum bitten.
5 Freinet-Bewegung
Die Freinet-Pädagogik war seit ihrer Entstehung eine Bewegung. Schon zu Beginn der 1920er-Jahre kam es auf Initiative Freinets zur Gründung der Lehrerkooperative C.E.L., der „Genossenschaft für ein unabhängiges weltliches Schulwesen“. Die Mitglieder der C.E.L. (1928 waren es in Frankreich 93, 1933 schon über 1.500) halfen nicht nur bei der Erprobung von Arbeitsmitteln, sie stellten sie auch selbst her, prüften sie auf ihre Einsatzmöglichkeiten hin und machten sich dadurch fast vollkommen unabhängig von Schulbüchern und anderen offiziellen Lehrmitteln. Später wurde daraus die École Moderne, die „Bewegung für die moderne französische Schule“.
1948 wurde von Mitgliedern der C.E.L. und den Freinets das I.C.E.M. gegründet, das Institut der Kooperativen der Modernen Schule (Institut Coopératif de l’École Moderne). Die Pädagogik-Kooperative C.E.L. und der neue lockere Lehrerverband I.C.E.M. waren auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Die C.E.L. war für die kommerzielle Produktion von Arbeitsmitteln und deren Vertrieb zuständig, die I.C.E.M für die fachliche Weiterentwicklung und die Kommunikation zwischen den verschiedenen regionalen Gruppen.
1961 existierten Arbeitsgruppen der „École Moderne“ bereits in etwa 40 Ländern. Es kam zur Gründung der F.I.M.E.M., der Internationalen Föderation der Bewegung der Modernen Schule (Féderation Internationale du Mouvement de l’École Moderne). Von nun an wurden jährlich in wechselnden Ländern Kurse und Kongresse veranstaltet, die in die Techniken der Freinet-Pädagogik einführten. Und schließlich nahmen 1962 auch die ersten deutschen Gruppen am Kongress teil.
1986 stellte die C.E.L. (mittlerweile ein reines Verlagshaus) ihre Arbeit ein. Das I.C.E.M. existiert noch heute und organisiert die Kooperation der regionalen „Freinet-Gruppen“ in Frankreich. Die Internationale Föderation der Bewegung der Modernen Schule (F.I.M.E.M.) führt nach wie vor regelmäßig Kongresse in aller Welt durch, die auch von deutschen Delegierten besucht werden.
In Deutschland ist es vor allem die Freinet-Kooperative e.V. mit Sitz in Prinzhöfte bei Bremen, die unterschiedliche Treffen und Symposien, Hospitationen und den praktischen und wissenschaftlichen Austausch organisiert. Sie gibt auch die Mitgliederzeitschrift „Fragen und Versuche“ heraus.
Seit etwa 20 Jahren organisieren sich auch im Feld der Kindertageseinrichtungen regionale Gruppen von Fachkräften in Arbeitskreisen. ErzieherInnen bilden einen „bundesweiten Fachkreis Kindertagesstätten“. Sie führen eigene Fachtagungen und Fort- und Weiterbildungen durch.
6 Eine Schulpädagogik für Kindertageseinrichtungen
Freinet arbeitete zeit seines Lebens in der Schule mit SchülerInnen. Die Arbeit von Kindergärten war ihm nicht bekannt und wird in seinen Schriften nicht erwähnt. Die Umsetzung seiner Ideen geschah daher über Jahrzehnte ausschließlich in schulischen Kontexten. Dies ist in den meisten Ländern bis heute so. Was die Freinet-Pädagogik in der Schule ausmacht – Lebensnähe der Lerninhalte, Differenzierung der Lernumgebung und Individualisierung des Lernens – lässt sich aber relativ leicht auf andere institutionelle Kontexte übertragen. Da gerade in Kindertageseinrichtungen fachliche Vorgaben gemacht werden, bieten sie Rahmenbedingungen, die noch eher als in Schulen geeignet sind, freinet-pädagogische Prinzipien zu verwirklichen.
In Deutschland begannen ab 1979/1980 Kinderhorte in Wiesbaden erstmals mit Versuchen, Freinets Pädagogik auf außerschulische Einrichtungsformen zu übertragen.
Was zunächst lokal mit Kindern im Grundschulalter begonnen wurde, ist mittlerweile zu einer weiteren Bewegung im Feld der Kindertagesbetreuung angewachsen. Heute arbeiten nicht nur Horte, sondern auch zahlreiche Kindergärten und sogar Krippen nach freinet-pädagogischen Prinzipien. Dabei zeigte sich, dass sich diese Prinzipien gut auf alle Einrichtungsformen und Altersstufen der Kinder übertragen lassen und angesichts moderner fachlicher Entwicklungen und Herausforderungen bestehen können. Entscheidende Entwicklungsfaktoren sind dabei die Überzeugungen und das Engagement der Fachkräfte.
Eine Anpassung war erforderlich bei Arbeitsformen, Materialien und „Techniken“, die jeweils vor Ort zum Einsatz kommen und einen großen Reichtum der Ausgestaltung hervorbrachten. Genau diese Offenheit zur Weiterentwicklung würde Freinet begrüßen. Daher wäre es ein fatales Missverständnis, würde man die Freinet-Pädagogik auf „Werkstätten“ reduzieren.
Die Freinet-Pädagogik wird heute in der deutschen Sozialpädagogik und frühpädagogischen Fachliteratur gleichrangig neben andere reformpädagogische Ansätze gestellt (Rißmann 2018).
7 Quellenangaben
Freinet, Célestin, 1979. Die moderne französische Schule. 2., verb. Auflage. Paderborn: Schöningh. Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften Quellen zur historischen, empirischen und vergleichenden Erziehungswissenschaft. ISBN 978-3-506-78318-9
Freinet, Célestin und Heiner Boehncke, Hrsg., 1980. Pädagogische Texte. Mit Beispielen aus der praktischen Arbeit nach Freinet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. Rororo Sachbuch. 7367. ISBN 978-3-499-17367-7
Freinet, Elise und Hans Jörg, 1985. Erziehung ohne Zwang. D. Weg Célestin Freinets. Ungekürzte Ausgabe. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Dtv. 15005. ISBN 978-3-423-15005-7
Kock, Renate. Hrsg., 1996. Befreiende Volksbildung. Frühe Texte von Célestin Freinet und Elise Freinet. Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-0842-2
Laun, Roland, 1982. Freinet - 50 Jahre danach. Dokumente und Berichte aus drei französischen Grundschulklassen; Beispiele einer produktiven Pädagogik. Heidelberg: bvb-Ed. Schmidt-Herb & Mehlig. bvb-Edition. 28. ISBN 978-3-921522-28-8
Rißmann Michaela, Hrsg., 2018. Didaktik in der Kindheitspädagogik. 2. Auflage. Köln: Carl Link Verlag. ISBN 978-3-556-07190-8
8 Literaturhinweise
Dietrich, Ingrid, Hrsg., 1995. Handbuch Freinet-Pädagogik. Eine praxisbezogene Einführung. Weinheim: Beltz. Beltz grüne Reihe. ISBN 978-3-407-25514-3
Freinet, Célestin, 1979. Die moderne französische Schule. 2., verb. Auflage. Paderborn: Schöningh. Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften Quellen zur historischen, empirischen und vergleichenden Erziehungswissenschaft. ISBN 978-3-506-78318-9
Freinet, Elise, 2009. Erziehung ohne Zwang. Der Weg Célestin Freinets. 3., um ein neues Vorw. erw. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-94596-6 [Rezension bei socialnet]
Hagstedt, Herbert, Hrsg., 1997. Freinet-Pädagogik heute. Beiträge zum Internationalen Célestin-Freinet-Symposion in Kassel. Weinheim: Deutscher Studienverlag. ISBN 978-3-89271-736-2
Hansen-Schaberg, Inge und Bruno Schonig, Hrsg., 2002. Basiswissen Pädagogik. Teil: Reformpädagogische Schulkonzepte. Bd. 5., Freinet-Pädagogik. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren. ISBN 978-3-89676-502-4
Henneberg, Rosy, Lothar Klein und Herbert Vogt, 2008. Freinetpädagogik in der Kita. Selbstbestimmtes Lernen im Alltag. Seelze-Velber: Klett/Kallmeyer. TPS. ISBN 978-3-7800-5723-5 [Rezension bei socialnet]
Rißmann Michaela, Hrsg., 2018. Didaktik in der Kindheitspädagogik. 2. Auflage. Köln: Carl Link Verlag. ISBN 978-3-556-07190-8
9 Informationen im Internet
Verfasst von
Herbert Vogt
Diplom-Pädagoge, freiberuflicher Fortbildner, Berater und Moderator. Veröffentlichung: Henneberg, R./Klein, L./Vogt, H. (2008): Freinetpädagogik in der Kita. Klett/Kallmeyer, Seelze
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Zitiervorschlag
Vogt, Herbert,
2018.
Freinet-Pädagogik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 15.06.2018 [Zugriff am: 13.01.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1745
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