Freire-Pädagogik
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
veröffentlicht am 07.07.2020
Die auf Paulo Freire (1921–1997) zurückgehende Pädagogik wird auch als Pädagogik der Unterdrückten bezeichnet. Sie ist geprägt von einer dialogischen und befreienden Praxis, bei der nicht eine Defizitorientierung im Vordergrund steht, sondern der Mensch mit seinen Fähigkeiten.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Einführung
- 3 Warum Freire
- 4 Theoretische Impulse: Von den Menschen ausgehen
- 5 Praktische Impulse: Dialogischer Prozess
- 6 Methodische Prinzipien
- 7 Fazit
- 8 Quellenangaben
- 9 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Paulo Freire hat mit seiner dialogischen und befreienden Pädagogik die Grundlage für eine Fülle von Diskursen gelegt, welche Aufgaben denn Soziale Arbeit habe. Eine der aktuell bedeutsamsten Aussagen dabei ist, dass er „Erziehung“ als politisch begriff. Eine Rezeption seiner Konzepte, verdichtet im Dialog als Praxis, ist vor allem auch deswegen wichtig, da Soziale Arbeit sich als Handlungspraxis immer mehr jenseits politischer Einmischung entworfen hat. Aber auch Freires Methode des problemformulierenden Lernens kann in einer hochkomplexen Gesellschaft der Diversität neue Impulse geben.
2 Einführung
Als Menschenrechtsprofession sieht sich Soziale Arbeit mit ihren Gründungsmythen der Gerechtigkeit, der Freiheit und einem „Guten Leben“ aller Menschen verpflichtet (Böhnisch und Schröer 2013; Staub-Bernasconi 2007; 2017). Dies fordert von ihr sowohl eine politische Einmischung als auch die durch dialogische Praxis zu bewerkstelligende Beendigung der von Freire sogenannten „Kultur des Schweigens“ Benachteiligter, die sich abschließen und in ihrer prekären Lage einfinden (Freire 1973). Es gilt diese mit ihnen zusammen zu verstehen und die Menschen darin zu unterstützen sich in neuerlichen „Wortmeldungen“ gesellschaftlich einzubringen. Dass dies notwendig ist, hat neben einer tiefen Spaltung der Gesellschaft (Butterwegge 2019) seine Gründe auch in der Praxis Sozialer Arbeit. Neoliberal gewendet ist diese inzwischen eher das, was Bourdieu mit der Metapher „Politik der Entpolitisierung“ meinte (Bourdieu 1998): Damit ist ein sich Arrangieren mit dem neoliberalen Kontext einer individualisierten und beschleunigten Gegenwart gemeint, die sich in der Akzeptanz von Bedingungen und Rahmungen zeigt, an denen man ohnehin nichts mehr zu ändern vermag. Darin werden Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik nur noch als Marktgeschehen gefasst; Soziale Arbeit ist eine kommodifizierte Profession, sie ist Sozialwirtschaft mit allen ökonomischen Konsequenzen (Lutz 2005b; 2008; 2017; Lessenich 2010).
3 Warum Freire
Ein Wiederlesen von Paulo Freire kann in der aktuellen Situation für die Profession von großer Bedeutung sein, von ihm kann noch immer oder wieder „gelernt“ werden kann (Lutz 2002; Lutz 2020). Zum einen verstand Freire Erziehung im weitesten Sinne als politisch; mit einer neuerlichen Rezeption seines Denkens kann Soziale Arbeit somit einen politischen Schub erfahren. Zum anderen standen er, und die Befreiungspädagogik, in deren Zusammenhängen er agierte, an der Seite der Marginalisierten und Ausgebeuteten (Knauth und Schröder 1998; Gutierrez und Müller 2004; Funke 2010). Es entstand eine „befreiende und dialogische Praxis“, die in ausbeuterischen Herrschaftsstrukturen Benachteiligten eine Stimme geben wollte, um wieder Subjekt für sich zu werden und zu sein.
Paulo Freires Theorie und Praxis kann Grundlagen einer verstehenden und befreienden Sozialen Arbeit skizzieren, die Praxis als Dialog entwirft, zugleich kritisch agiert und Utopien eines guten Lebens entwirft (Lutz 2011; Lutz 2018; Lutz 2020). Seine Konzeption verweigert sich der instrumentellen Vernunft, die sich derzeit in der Sozialen Arbeit und ihrem Fokus auf beratende Methode durchzusetzen scheint. Stattdessen entsteht die Skizze einer dialogischen, partizipativen und aufdeckenden Methode, die sich immer als politische Praxis entwirft. Menschen sollen nicht, im Sinne einer instrumentellen Vernunft, für unverrückbare Verhältnisse wieder fit gemacht werden; es geht primär um die Befähigung von Menschen, selbst zu handeln. Damit befindet sie sich im Kontext einer kritischen Theorie (Habermas 1985), selbst zu werden und selbst zu sein, indem sie die Verhältnisse ihres Lebens thematisieren und wieder Einfluss darauf gewinnen (Lutz 2018).
Diese Praxis geht im Sinne von Wurzel „radikal“ von den Menschen und deren Erfahrungen in ihren eigenen Welten aus, da sie prinzipiell und in allen Situationen als handelnde und zur Handlung befähigte Wesen verstanden werden (Lutz 2005a). Die etablierte „Kultur des Schweigens“ kann durchbrochen werden, indem sich an die Ränder gedrängte Menschen wieder in die zukünftige Gestaltung des Sozialen einbringen können. Eine dermaßen „befreiende Praxis“ bedarf sicherlich großer Anstrengungen seitens der Akteur*innen, die sich von bisherigen Routinen verabschieden müssen. Hierfür kann die Rezeption der Theorie und Praxis Impulse geben, indem sie von den Menschen ausgeht.
Von den Menschen in ihren Welten auszugehen heißt allerdings, diese in den Fokus zu rücken (Lutz 2011). Dem liegt ein Bild zugrunde: Menschen sind nie Opfer, sondern Gestalter ihres Lebens, sie haben keine Defizite, die immer Interpretationen aus einer kolonialistischen Sichtweise sind, sondern Ressourcen. Situationen und Bilder sind deshalb mit den Menschen aufzudecken, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Als Subjekte sind sie die Protagonist*innen undExpert*innen ihres eigenen Lebens. Sonst niemand. Nur sie können Auskunft über ihre Realität geben. Nur sie können diese auch verändern.
Dies fordert von der Praxis dialogische Prozesse und dialogische Methoden. Sie muss wieder zuhören, Lebensweisen verstehen, das Fragen neu lernen, anerkennen und resonant sein. Damit wird eine Nähe zu den Überlegungen zu Resonanz angestellt, die hier aber nicht expliziert werden können (Rosa 2016). Im Blickpunkt steht für die Praxis eine dialogische Analyse, wie Menschen ihr Leben erleben, wie sie es interpretieren, welche Chancen sie für sich sehen, was sie erwarten, was sie dabei benötigen, um Subjekte zu werden und zu sein. Aus der Dialektik „Zuhören und Fragen“ kann eine gemeinsame Praxis gestaltet werden. Dazu muss die pädagogische Akteur*innen aber aufhören, zu bewerten, zu wissen, was gut für die Menschen ist, sie zu diagnostizieren und in Schubladen zu stecken. Eine Beendigung des kolonialistischen Blicks und der fürsorglichen Belagerung fordert eine dialogische Anerkennung der Anderen. Hierzu hat Paulo Freire in seinen Arbeiten sowohl theoretisch als auch praktisch einiges beizutragen (Freire 1973; 1974; 1987; 1992; 2008).
4 Theoretische Impulse: Von den Menschen ausgehen
Im Kern zeigt sich eine humanistische, bewusstseinsbildende und dialogische Praxis darin, dass sie die Menschen als Subjekte ernst nimmt und sie befähigen will, selbst zu werden, um selbst zu sein. Von den Menschen auszugehen bedeutet, ihre Interpretationen, ihre Perspektive, ihre Sicht der Dinge und ihre Handlungsmuster als authentisch zu sehen. Es meint aber auch, dass sie keine Defizite haben, sie werden vielmehr an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten behindert. Zu diesen Fähigkeiten der Menschen gehören die prinzipielle Entwicklungsoffenheit menschlichen Denkens und Handelns sowie die Veränderbarkeit der Welt und des Menschen durch die Praxis der Menschen.
Das Gesicht dieser Welt trägt die Züge der Menschen; ihre Kultur ist nur von ihnen gemacht und somit wandelbar. Das verdichtet sich in der These des kulturschaffenden Wesens: „Kultur stellt […] das nur menschliche Mittel der Umweltbewältigung dar. Kultur, wie auch immer wir sie definieren, ist vom Menschen Geschaffenes, ist Produktion, schöpferisches Tun, durch das der Mensch sich aus seiner Abhängigkeit von der äußeren und inneren Natur zu befreien vermag“ (Greverus 1978, S. 59 f.). Dies bedarf der grundsätzlichen Anerkennung der Anderen, damit alle Beteiligten ihre Identität und Integrität als durchgängigen Entwurf stabil halten können. Axel Honneth hat in seiner Theorie der Anerkennung deren Sphären prinzipiell herausgearbeitet: Es sind die emotionale Achtung, die rechtliche Anerkennung und die wechselseitige Anerkennung zwischen soziokulturell unterschiedlich sozialisierten Personen (Honneth 1992). Daraus lässt sich ein essenzieller Auftrag gewinnen, der zwingend auf einer Praxis der Aushandlung aufbauen muss (Lutz 2017).
Paulo Freire hat dies in seiner Arbeit theoretisch „aufgegriffen“ und schließlich praktiziert. Er verstand die Menschen als Wesen in Situationen, in Lebenslagen, in Beziehungen; nie hat er diese isoliert betrachtet, sondern immer als „Menschen mit Anderen“, als „Menschen in Welten“. Er fokussierte sich auf Menschen als handelnde und zur Handlung befähigte Wesen und war davon überzeugt, dass es deren Bestimmung sei, in der Auseinandersetzung mit der Welt die eigene Menschwerdung zu erreichen.
In seinem Zugang war die Bewusstwerdung des Eingebunden-Seins in ein System der Benachteiligung und Diskriminierung ein wichtiger Aspekt. In Übereinstimmung mit dem Wissen der Befreiungspädagogik und den Erfahrungen aus antikolonialen Kämpfen formulierte er: In benachteiligenden und diskriminierenden Situationen übernehmen Benachteiligte und Diskriminierte oftmals eine fatale Selbstdefinition jener die gesellschaftlichen Beziehungen determinierenden Verhältnisse; sie handeln nach diesen Bildern und schreiben somit ihre Benachteiligung erst richtig fest. Dies kann sich in Empörung, Wut, Gewalt und Fundamentalismus ausdrücken. Benachteiligung und Diskriminierung hat Freire somit als Zustände begriffen, die sich selbst manifestieren, da Menschen daran zu glauben beginnen, minderwertig, fremd, anders und unfähig zu sein. Diese Situation wollte er mit den Menschen aufdecken, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Neben seiner Achtung gegenüber den Fähigkeiten der Menschen, die er mit Demut, Toleranz, Glaube und Liebe umschrieb, ruhte Freires Arbeit auf dem Wort und dem Dialog, der Menschen in Aushandlungen einbindet. Für ihn gab es kein wirkliches Wort, das nicht zugleich Praxis ist. Er war von der prinzipiellen Dialogfähigkeit des Menschen überzeugt, die zu einem gegenseitigen Verstehen als Voraussetzung des gemeinsamen Handelns führt. Dialog war für ihn immer eine „Begegnung zwischen Menschen“, die gemeinsam die Welt benennen, deshalb „darf er keine Situation bilden, in der einige Menschen auf Kosten anderer die Welt benennen. […] Er darf nicht als handliches Instrument zur Beherrschung von Menschen durch andere dienen. Die Herrschaft, die der Dialog impliziert, ist die Beherrschung der Welt durch die im Dialog Befindlichen“ (Freire 1973, S. 72).
Die aktuelle Bedeutsamkeit des Dialogs in der Sozialen Arbeit, der sich an Freire anlehnt, ergibt sich aus folgenden Überlegungen. Das Leben in der Moderne ist durch Unmittelbarkeit und durch Authentizität von Erfahrungen gekennzeichnet (Lutz 2018). Normalität ist angesichts der Unübersichtlichkeit und der Vielfalt nur noch ein relativer Entwurf, der sich aus der jeweiligen Lebenswelt ergibt und diese bestätigt. Die Vielfalt der Lebenswelten lebt aus sich heraus und gewinnt somit gewichtige Bedeutung. Mitunter gerinnen aber in der täglichen Praxis die Normen und Lebenswelten der Sozialarbeitenden zur Normalität, an der die Anderen dann kolonialistisch bewertet werden und sich in ihrem Handeln daran ausrichten sollen. Diese Konfliktlinie gilt es verstehend zu thematisieren. Soziale Arbeit ist damit radikal gefordert; ihre Ziele werden flüssiger und abhängiger von der Unterschiedlichkeit und der Vielfalt der Lebenswelten. Angesichts dieser Konfliktlinie ist in der Praxis eine gemeinsame Definition der Welt im Dialog erforderlich, der sich als resonante Beziehung darstellt.
5 Praktische Impulse: Dialogischer Prozess
Um diese Herausforderung zu bewältigen, muss im Zentrum einer verstehenden und dialogischen Praxis die Ermächtigung der Subjekte in ihrer sozialen Welt für die verändernde Praxis in dieser Welt stehen. Diese sind für Freire die eigentlichen Protagonist*innen. Das fordert dialogische Methoden: Sozialarbeiter*innen müssen wieder zuhören und dabei vor allem und zunächst Lebensweisen verstehen, um daraus zusammen mit den Menschen eine gemeinsame Basis zu finden.
Die tatsächliche Praxis des Verstehens ruht dabei auf einem dialogischen Prozess, den Freire als problemformulierende Methode konzipierte. Darin muss die pädagogische Begleiter*in eine offene Dialogpartner*in sein, ihr einziges methodisches Instrumentarium ist Dialogfähigkeit: „In einer humanisierenden Pädagogik“, so Freire, „ist die Methode nicht länger ein Instrument, mit dessen Hilfe manipuliert wird. Ihr einzig wirksames Instrument ist der dauernde Dialog“ (Freire 1973, S. 54). Darin nehmen Sozialarbeiter*innen die Rollen von Diskurspartner*innen, Makler*innen, Mittler*innen und Anwält*innen, Erleichterern, Einrichter*innen, Anstoßer*innen ein. Diese Begriffe entstammen der Sozialen Arbeit mit Kindern auf der Straße (Liebel 2017). Erleichterer sind dabei Menschen, die mit den Kindern zusammen nach Wegen suchen, die Situation auf der Straße zu entspannen. Einrichter*innen sind jene, die Kinder dabei unterstützen sich in ihrem Leben besser als zuvor zurechtzufinden. Anstoßer*innen ermutigen Kinder, dies oder das zu tun, was sie gerne tun möchten.
Das methodische Arbeiten als problemformulierende Methode setzte für Freire Offenheit voraus: Offenheit der Einrichtung, Offenheit hinsichtlich der Problematik der Betroffenen und Offenheit hinsichtlich der Vielfalt möglicher Lösungswege und Optionen. Um diese Offenheit in ihren Implikationen zu verstehen, muss man an die Praxis von Freire erinnern. In seiner praktischen Arbeit hat er nie Menschen in die Institutionen geholt, die Wege und Methoden bereits in ihrer Struktur vorgegeben haben. Er ist zu ihnen gegangen, in ihre Welt, auf die Plätze und Straßen; er hat versucht, mit ihnen in ihren Lebenswelten zu arbeiten. Dafür war er zunächst ihr Schüler, um ihre Welt zu verstehen. Und er war ihr Lehrer, um ihnen bei der Bewältigung ihrer Situationen nachgefragte Hilfen zu leisten, ihnen Wege zur Erweiterung ihrer Horizonte und Optionen zu öffnen. Gemeinsam haben sie an der gemeinsamen Situation, die sie aus unterschiedlichen Gründen zusammenführte, gearbeitet.
Die gemeinsame pädagogische Arbeit wird von dem darin eingelagerten Schüler*in-Lehrer*in-Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnis geprägt, vom Dialog, in den alle Beteiligten eingebunden sind. Da Menschen immer die eigentlichen Expert*innen ihres eigenen Lebens sind, kann es nur um sie und um niemanden anderen gehen. Ziel des Dialogs darf es deshalb nicht sein, dass Sozialarbeitende den Betroffenen die Welt erklären und sie für diese Interpretation gewinnen wollen. Es geht nicht um eine Bankiers-Methode, die als ein anderer Begriff für Wissenserwerb, der Einlagerung von Wissen in die „Klient*innen“ (Schüler*innen), verstanden werden kann. Praxis muss die problemformulierende Methode sein, die Menschen befähigt, ihre Lage zu verstehen, und sie dadurch ermächtigt, wieder Wesen für sich zu werden und Fragen zu stellen, Wissen zur Bewältigung und zur Gestaltung des eigenen Lebens zu erwerben.
6 Methodische Prinzipien
Eine verstehende Praxis, wie sie Freire theoretisch und praktisch skizzierte, macht es erforderlich, mit den Menschen zunächst ihre Situation zu decodieren. Das ist eine Aufdeckungsarbeit alltäglicher Verwerfungen und Verstrickungen, damit Menschen sich nicht mehr als defizitär entwerfen, sondern sich als Wesen der Praxis sehen, die Vorstellungen und Hoffnungen für ihr Leben haben, diese entwickeln und auch umsetzen können. Dieser an Lebenswelten orientierte Ansatz, der sich in der deutschen Sozialarbeit auch in Ansätzen der Lebensweltorientierung zeigt (Thiersch 2014), reflektiert die Situationen des Lebens in den Interpretationen der Menschen. Es sind vor allem folgende essenzielle methodische Prinzipien, die Freire für die Praxis skizziert hat:
- Im „thematischen Universum“ Menschen wird nach „generativen Themen“ gesucht, nach Erfahrungen, womit diese Tag für Tag zu tun haben, Erlebnisse, die sie bewegen, Probleme, die sie wissbegierig Fragen stellen lassen, die sie verstehen und begreifen wollen.
- Gefragt wird nach den Bedeutungen dieser Themen für das je eigene Leben, den je eigenen Alltag.
- In diesen Themen werden „Schlüsselsituationen“ ausfindig gemacht, Begriffe und Bilder, in denen Bedeutungen der Situationen codiert sind.
- Die integrierten Bedeutungen und Hintergründe werden aufgedeckt und so einem Verständnis und einer gemeinsamen Verständigung zugeführt.
- Damit eröffnen sich neue Themen und Situationen.
- Es verdichten sich Strukturen dahinter, die in ihren Wirkungen reflektiert werden können.
Eine verstehende Praxis ist immer auch eine „befreiende Praxis“, da sie sich an den Menschen und deren gesellschaftlichen Verhältnissen orientieren muss: sozial, kulturell, politisch, ökonomisch und rechtlich (Lutz 2005a; 2006). Diese Soziale Arbeit beginnt bei den Menschen und wird eine „Pädagogik für das Leben“. Die eigentliche Absicht ist es, mit Menschen in einen Entwicklungsprozess zu treten, um diese für Gestaltungsprozesse ihres eigenen Daseins zu befähigen, mit ihnen Chancen zu öffnen. Darin werden soziale Probleme, die immer nur negative Zuschreibungen produzieren, zu positiven und auch politischen Herausforderungen, um sie in Gestaltungs- und Entwicklungsoptionen zu übersetzen, die es zu bewältigen gilt.
Dieses Konzept richtet das Augenmerk auf die Handlungsmöglichkeiten der Menschen und damit auf deren stetig auszuweitende Handlungsfreiheiten und Bewältigungsstrategien. Eine Pluralität von Entfaltungschancen wird gewahrt, die Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten werden erweitert und Biografien bleiben offen und im Fluss. Mitbestimmung und Gestaltung der sozialen Welt macht aus Menschen starke und fähige Menschen, die sich ihre Welt anzueignen vermögen: Sie können durch dialogische Praxis zu selbstbewussten und selbstverantwortlichen Akteur*innen werden, entwickeln Kompetenz und Handlungsfähigkeit und sind nicht mehr Objekte der Praxis, keine Klient*innen in den Beratungsprozessen; sie sind vielmehr Subjekte in ihren je eigenen Verhältnissen, die sie thematisieren und dabei neu gestalten.
7 Fazit
Durch den Einbezug von Menschen geht eine verstehende Praxis radikal von diesen aus. Nach Freire muss man „in der Tat“ den Menschen das Wort geben. In diesem Prozess dialogischen Verstehens werden Menschen als fähige Wesen bestätigt, die immer unvollendet sind, aber zugleich entwicklungsoffen, kulturschöpferisch und dialogfähig.
Das Wiederlesen von Paulo Freire kann zur Reformulierung einer politischen Sozialen Arbeit führen, die sich als befreiende Praxis darstellt. Sie gibt den Vergessenen ihre Stimme wieder und durchbricht die erzwungene Kultur des Schweigens. Wenn sich ihr Mandat an einer verstehenden und problemformulierenden Bildung orientiert, dann beginnt Soziale Arbeit bei den Menschen und wird ihr Instrument in ihrer Politik des Lebens, sie wird „Pädagogik für das Leben“. Soziale Probleme, die vielfach zu Diskriminierungen führen, werden zu Herausforderungen, die in Gestaltungs- und Entwicklungsoptionen übersetzt werden können.
Die Rezeption von Paulo Freire schwört Soziale Arbeit erneut darauf ein, sich für ihre Gründungsmythen zu engagieren und politisch einzumischen, um gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Missachtung zu kämpfen sowie an der Veränderung der Strukturen zu arbeiten, die Leid erst verursachen. Hierzu aber muss sie sich auch utopischen Ideen öffnen, die vielfältig in sozialen Bewegungen formuliert werden. An der Seite mit diesen könnte sie für eine gerechtere Gesellschaft streiten, nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch praktisch.
8 Quellenangaben
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Freire-Pädagogik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 07.07.2020 [Zugriff am: 14.12.2024].
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