Freispiel
Prof. Dr. Ulrich Heimlich
veröffentlicht am 19.11.2020
Freies Spielen im weiteren Sinne ist eine selbstbestimmte, fantasievolle und selbstkontrollierte Tätigkeit, in der sich besonders in der frühen Kindheit die Entwicklung und das Lernen von Kindern vollzieht. Freispiel im engeren Sinne wird von der Frühpädagogik im Alltag von Kindertageseinrichtungen vielfach als Methode eingesetzt.
Überblick
1 Zusammenfassung
Dem Spiel wohnt deshalb ein Moment von Freiheit inne, weil es eine schöpferische Tätigkeit ist, aus der etwas Neues hervorgehen kann. Kinder nehmen Spieltätigkeiten deshalb auf, weil sie sich selbst dafür entscheiden können, das Spiel selbst kontrollieren können und sich selbst im Spiel etwas ausdenken können. Aus diesem Grunde wirkt sich das Spiel auch auf alle Entwicklungsbereiche aus. Pädagogische Fachkräfte sollten daher auch der Freiheit im Spiel Raum gewähren.
2 Freiheit im Spiel
„Rettet das Spiel!“ – so fordern Gerald Hüther und Christoph Quarch in ihrem Gang durch die Bedeutung des Spiels für den Menschen in Geschichte und Gegenwart (Hüther und Quarch 2016). Kinder spielen in den ersten sechs Lebensjahren ca. 15.000 Stunden, das sind etwa sieben Stunden täglich (Zimpel 2014). Damit ist unmittelbar evident, dass das Spiel Kindern in diesem Lebensabschnitt den Zugang zur Welt eröffnet. Entwicklung und Lernen finden in den ersten Lebensjahren überwiegend im Spiel statt. Diese Entwicklung beginnt allerdings nicht als individuelle oder isolierte. Sie ist vielmehr von vornherein auf Kooperation mit den Eltern und mit Gleichaltrigen bezogen. Kinder bringen ihre Welt mit anderen gemeinsam und in Auseinandersetzung mit ihrer räumlich-materiellen Umwelt hervor. Dies gilt ganz besonders bezogen auf das Spiel mit Gleichaltrigen (peers). Das Spiel von Kindern stellt eine derart zentrale Lebensäußerung dar, dass sie auch aus pädagogischen Konzeptionen nicht wegzudenken ist. Spielen ist für Kinder gleichsam der Zugang zur Welt, im historischen Vergleich also die selbstständige Auseinandersetzung mit höchst unterschiedlichen Lebensbedingungen in natürlicher, kultureller und sozialer Hinsicht.
Die Attraktivität des kindlichen Spiels besteht aus der Perspektive der Kinder gerade darin, eine Kontrolle über die äußere Wirklichkeit zu erlangen, die sie im alltäglichen Leben noch nicht erreichen können. Dazu ist Fantasie erforderlich, das Aushandeln des So-tun-als-ob, das Vereinbaren des Spielcharakters einer konkreten Handlung. Dies sind die wesentlichen Gründe, warum Kinder zu allen Zeiten und in allen Kulturen in mehr oder weniger großem Umfang Spieltätigkeiten aus eigenem Antrieb aufgenommen haben. Der kanadische Sozialpsychologe Joseph A. Levy hat diese Merkmale des Spiels in einer bis heute gültigen Definition als „Intrinsisic Motivation“, „Internal Locus of Control“ und „Suspension of reality“ bezeichnet (Levy 1978, S. 19). Immer dann, wenn in einer kindlichen Tätigkeit diese Merkmale überwiegen, können wir davon ausgehen, dass es sich um Spieltätigkeiten handelt. Zugleich geht Levy von der Annahme aus, dass Kinder über diese Spieltätigkeiten ihre Persönlichkeit entfalten (unfolding of individuality). Auf dieser Basis kann davon ausgegangen werden, dass jede Spieltätigkeit, die diese Merkmale in vollem Umfang erfüllt, im weiteren Sinne als Freispiel bzw. freies Spiel zu bezeichnen ist. Im engeren Sinne wird „Freispiel“ auch als Methode bezeichnet (Lorentz 1992), die einen festen Platz im Alltag von Kindertageseinrichtungen hat und von frühpädagogischen Fachkräften angeleitet wird. Das freie Spiel von Kindern sollte jedoch nicht auf eine Methode reduziert werden, da hier zumindest die Gefahr besteht, dass nur wenig intensive Spieltätigkeiten im Sinne von intrinsischer Motivation, Fantasie und Selbstkontrolle zustande kommen.
Spiel befördert offensichtlich die Selbstbestimmungsfähigkeit von Kindern und die Ausbildung eigener Ideen und Vorstellungen in Interaktion mit ihrer Umwelt. Damit ist der Kern von frühkindlichen Bildungsprozessen näher gekennzeichnet. Zugleich wird dabei deutlich, dass kindliches Spiel keineswegs nur als zweckfreier Zeitvertreib angesehen werden kann. Für Kinder geht es stets um „serious play“ (DeCastell und Jenson 2003, S. 649), eine sehr ernsthafte Tätigkeit also, die keineswegs immer mit Spaß verbunden ist, sondern vielmehr für den kindlichen Weltbezug schlechthin steht. Phänomenologisch betrachtet können wir das kindliche „In-der-Welt-Sein“ deshalb mit Spiel gleichsetzen, womit der personale Bezug zur Umwelt in den Blick gerät (Heimlich 2015). Unter sozialkonstruktivistischem Aspekt bietet das Spiel Kindern die Chance, ihre eigene Welt in Interaktion mit anderen sowie ihrer räumlich-materiellen Umwelt hervorzubringen und dabei z.B. eine eigene „peer-culture“ zu kreieren, wie William A. Corsaro (2015) in seinen ethnografischen Studien gezeigt hat. Im Spiel definieren Kinder ihre eigenen Themen, die für sie von Bedeutung sind, und versuchen so einen Weg in die Gesellschaft hinein zu finden.
3 Entwicklung im Spiel
Im Laufe der kindlichen Entwicklung besonders in den ersten zehn Lebensjahren erweitert sich das Spektrum der kindlichen Spielformen zunehmend (Zimpel 2014; Mogel 2008). Während Kinder in den ersten Lebensjahren im Spiel vorrangig ihre soziale und materielle Umwelt erkunden (Explorationsspiel) und besonders an den taktilen Eigenschaften von Gegenständen und deren Funktionsweise interessiert sind, lösen sie sich im Kindergartenalter zunehmend von konkreten Gegenständen und anwesenden Personen ab, um sich eine fiktionale Welt zu errichten. Das Gespräch mit imaginären Spielpartner*innen oder das Umfunktionieren von Alltagsgegenständen innerhalb eines Spielgeschehens öffnen in Verbindung mit der sprachlichen Entwicklung ein weites Feld von kreativen Gestaltungsmöglichkeiten. Aus diesem Fantasiespiel entwickeln sich im Grunde alle weiteren Spiele. Das Rollenspiel beginnt bereits in den Familienspielen oder dem Nachspielen von Filmszenen im Kindergartenalter und erweitert sich über die Vorführung kleinerer Spielszenen bis hin zum Theaterspielen. Während Kinder im Alter vor dem Schuleintritt Spielregeln meist noch sehr kreativ und fantasievoll auslegen und keineswegs als unantastbar betrachten, liegt mit zunehmendem Alter in der Einhaltung der Spielregeln z.B. bei Brettspielen gerade der Reiz des gemeinsamen Spiels (Regelspiel). Im Bau- und Konstruktionsspiel werden schließlich die Grenzen des jeweiligen Materials ausgelotet, möglicherweise sogar erweitert, oder es wird gleich mit eigenen Gestaltungen etwas Neues entworfen. Ein tragendes Element dieser Spielentwicklung in den ersten Lebensjahren ist die peer-Beziehung, das Spiel mit Gleichaltrigen. Kinder handeln im Spiel ständig Regeln aus, sprechen darüber, wer mitspielen darf und wer nicht und v.a. wer das bestimmen darf. Sie übernehmen Rollen, die sie aus ihrem Alltag kennen, verändern diese und lernen so die Welt der Erwachsenen und deren Motive genauer kennen. Gerade im interkulturellen Vergleich wird klar ersichtlich, welche großen Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen auch in den sozialen Beziehungen von Kindern bestehen (Corsaro 2015). Während Konflikte zwischen Kindern in einem kulturellen Kontext das gemeinsame Spiel in der Gruppe der Gleichaltrigen infrage stellen bzw. zum Abbruch führen, stiften gerade Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen Kindern in einem anderen kulturellen Kontext ein Gefühl von Gemeinschaft und das Bedürfnis nach Gruppenbildungen.
In der entwicklungspsychologischen Betrachtung des kindlichen Spiels hat sich vor diesem Hintergrund immer wieder gezeigt, welche vielfältigen Zusammenhänge zwischen Spieltätigkeiten und den verschiedenen Entwicklungsbereichen bestehen. Im Sinne eines Perspektivenwechsels kann das kindliche Spiel aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Diese Perspektiven schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich und ergeben erst zusammen ein angemessenes Bild des kindlichen Spiels. Das Spiel von Kindern wirkt sich nach vorliegenden Erkenntnissen der modernen Entwicklungspsychologie sowohl auf die kognitive Entwicklung und die emotionale Entwicklung als auch auf die soziale, die sensomotorische Entwicklung und die biologische Entwicklung von Kindern aus, wie die moderne Hirnforschung gezeigt hat (Zimpel 2013). Im Ergebnis wird die Spieltätigkeit als eine multidimensionale Tätigkeit sichtbar, die in den ersten Lebensjahren im Grunde mit Lerntätigkeiten gleichgesetzt werden kann. Das Spiel ist mindestens im Alter bis zum Schuleintritt synonym zu sehen mit kindlichen Lernprozessen, in denen sie sich die Welt aneignen. Deshalb kann auch mit Fug und Recht behauptet werden, dass Kinder, die intensiv spielen können, gut vorbereitet sind auf die Schule (Heimlich 2015, S. 198).
Aus der Analyse von Freispielsituationen (Fried 2004, zit. n. Viernickel 2013) ist deutlich geworden, dass Kinder im Kindergartenalter über attraktive Spielinhalte, Rollen und Spielprozesse eigene Wissensbestände ausbilden (sog. Scripts), auf die sie immer wieder zurückgreifen, die sie aber auch weiterentwickeln und ausdifferenzieren. Überraschend ist dabei immer wieder, dass die Geschlechterrollen zu Beginn der Kindergartenzeit sehr genau abgegrenzt werden, auch wenn damit ebenfalls ein sozialer Zuschreibungsprozess bezeichnet ist und „Geschlecht als soziale Kategorie“ (ebd.) angesehen werden muss. Offenbar haben die Spielerfahrungen in geschlechtshomogenen Gruppen der Jungen und der Mädchen eine enorme Bedeutung für die Herausbildung bzw. Ausdifferenzierung der Geschlechtsidentität (ebd., S. 72). Zusätzlich erwerben Kindergartenkinder im Spiel grundlegende Vorstellungen von Moral, indem sie in ihren Aushandlungsprozessen auf die Einhaltung der Regeln achten und Prinzipien von Fairness und Rücksichtnahme entwickeln und berücksichtigen. Offen ist die Frage, inwieweit Kinder in ihrer sozialen Spielentwicklung von altersheterogenen Gruppen profitieren. Leider gibt es dazu derzeit noch keine belastbaren empirischen Befunde (Viernickel 2013).
4 Quellenangaben
Corsaro, William A., 2015. The Sociology of Childhood. 4. Auflage. London: SAGE. ISBN 978-1-4522-0544-1
DeCastell, Suzanne und Jennifer Jenson, 2003. Serious play. In: Journal of Curriculum Studies. 35(6), S. 649–665. ISSN 0022-0272
Heimlich, Ulrich, 2015. Einführung in die Spielpädagogik. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-4199-5 [Rezension bei socialnet]
Hüther, Gerald und Christoph Quarch, 2016. Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist. München: Hanser. ISBN 978-3-446-44701-1 [Rezension bei socialnet]
Levy, Joseph, 1978. Play behavior. New York: John Wiley & Sons Inc. ISBN 978-0-471-01712-7
Lorentz, Gerda, 1992. Freispiel im Kindergarten: Chancen eines bewußten Einsatzes. 7. Auflage. Freiburg i. Br.: Herder. ISBN 978-3-451-19330-9
Mogel, Hans, 2008. Psychologie des Kinderspiels: Von den frühesten Spielen bis zum Computerspiel. 3. Auflage. Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-540-46623-9
Viernickel, Susanne, 2013. Zur Bedeutung der Peerkultur. In: Lilian Fried und Susanna Roux, Hrsg. Handbuch Pädagogik der frühen Kindheit. 3. Auflage. Berlin: Cornelsen, S. 66–74. ISBN 978-3-589-24765-3 [Rezension bei socialnet]
Zimpel, André F., 2013. Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg. 3. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-70129-4 [Rezension bei socialnet]
Zimpel. André F., 2014. Spielen macht schlau! Warum fördern gut ist, Vertrauen in die Stärken Ihres Kindes aber besser. München: Gräfe und Unzer. ISBN 978-3-8338-3568-1
5 Literaturhinweise
Heimlich, Ulrich, 2015. Einführung in die Spielpädagogik. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-8252-4199-5 [Rezension bei socialnet]
Heimlich, Ulrich, 2017. Das Spiel von Gleichaltrigen in Kindertageseinrichtungen [online]. Teilhabechancen für Kinder mit Behinderung. Expertise Nr. 49, Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. München: DJI [Zugriff am: 06.11.2020]. PDF e-Book. ISBN 978-3-86379-243-5 [Rezension bei socialnet]. Verfügbar unter: https://www.weiterbildungsinitiative.de/publikationen/​details/data/das-spiel-mit-gleichaltrigen-in-kindertageseinrichtungen
Verfasst von
Prof. Dr. Ulrich Heimlich
Lehrstuhl Lernbehindertenpädagogik
Ludwig-Maximilians-Universität München
Seine "Einführung in die Spielpädagogik" ist seit über 30 Jahren auf dem Buchmarkt.
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Ulrich Heimlich.
Zitiervorschlag
Heimlich, Ulrich,
2020.
Freispiel [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 19.11.2020 [Zugriff am: 03.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/5932
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